So viel Anfang war nie. Die Friedliche Revolution von 1989/90 in der DDR und 35 Jahre danach der Umsturz in Syrien im Dezember 2024. Ein Zeit- und Revolutionsvergleich.
Im Frühjahr 2011 ging eine Welle des Aufruhrs durch die arabische Welt. Es begann in Tunesien, wo am 27. Dezember 2010 ein dramatischer Vorfall zur Explosion der allgemeinen Unzufriedenheit führte. Einem Gemüsehändler, Mohamed Bouazizi, wurde von den Behörden die Lizenz entzogen, weil er das übliche Bestechungsgeld nicht zahlen konnte. Als er sich bei der Polizei beschwerte, wurde er dort schwer misshandelt. So ging er in seiner Verzweifelung zur Stadtverwaltung und zündete sich vor dem Gebäude an. Bouazizis Tod löste Proteste aus, die sich mit rasender Geschwindigkeit im ganzen Land ausbreiteten. Das auch international für stabil gehaltene Regime brach innerhalb von Tagen zusammen. Am 14. Januar 2011 floh der Diktatur Ben Ali ins Ausland. Der Funke der Rebellion sprang in fast alle arabischen Länder über.
Auch in Damaskus schien plötzlich das autoritäre Schreckensregime von Bassar al-Assad zu wanken, das er im Juli 2000 von seinem Vater Hafiz al-Assad übernommen hatte. Nach der gewaltsamen Niederschlagung der Demonstrationen und unterstützt von der russischen Luftwaffe und iranischen Revolutionsgardisten begann ein fünfzehn Jahre dauernder Bürgerkrieg, der jetzt erst, am 8. Dezember 2024, sein vorläufiges Ende fand – mit einer ähnlichen Pointe wie 1989 in der DDR. Damals war Russland nicht mehr willens einzugreifen, so wie noch beim „Volksaufstand 1953“ mit Panzern der Sowjetarmee. 1989 ließ Gorbatschow die Friedliche Revolution und den Mauersturz geschehen – und 2024 Putin Assads Sturz und Flucht nach Moskau. Allerdings geschah dies aus einem banalen militärischen Grund: Putins Ukrainefeldzug hat Russlands Armee nach fast drei Jahren Krieg zu sehr beansprucht.
2011 gab es auch in Marokko, Algerien und Jemen Unruhen, und der Sturz von Diktator Muammar al-Gaddafi im Oktober 2011 stürzte Libyen ins Chaos. Schnell richteten sich alle Blicke auf Ägypten, das bei weitem bevölkerungsreichste arabische Land. Schon am 25. Januar 2011 hatten sich Tausende auf dem Tahrir-Platz in Kairo versammelt, um gegen das korrupte und unfähige System von Präsident Mubarak zu demonstrieren. Die hochgerüstete Armee versuchte, mit Gewalt gegen die täglichen Demonstrationen vorzugehen. Doch das Regime war nicht zu retten. Am 11. Februar 2011 trat der Präsident zurück und wurde in Haft genommen. Nun standen die Dinge auf des Messers Schneide. Es stellte sich unter anderem die Frage nach der Zukunft des Sicherheitsdienstes und dem Umgang mit dessen Verbrechen.
Aufarbeitungshilfe aus der Ex-DDR
Die Studierenden der Kairoer Universität, die Kontakt mit der Freien-Universität Berlin (FUB)Berlin hatten, luden in dieser Situation Spezialisten für die Geschichte der DDR ein. Speziell interessierte sie die Auflösung des Staatssicherheitsdienstes, die Machtübernahme durch Bürgerkomitees, die Aktensicherung und die damals praktizierten juristischen Regelungen. Ganz offenbar sahen sie Parallelen zu ihrer eigenen Revolution. Die FU, deren Mitarbeiter ich damals war, stellte eilig eine Delegation zusammen, und am 6. Mai 2011 standen wir auf dem Tahrir-Platz im Zentrum Kairos. Eigentlich machte die Stadt, abgesehen von den Panzern, die überall herumstanden, einen normalen, das heißt belebten, bunten und unendlich ärmlichen Eindruck. Das funkelnagelneue Kriegsgerät westlicher Herkunft und die darauf sitzenden Uniformierten waren das Einzige in dieser Stadt, was auf die Besucher einen gepflegten Eindruck machte.
An der Universität herrschte viel Trubel. Der Saal war während der Konferenz mit den ausländischen Gästen vollkommen überfüllt. Ich hatte einen Bericht über den Sturm auf die Stasi am 15. Januar 1990 vorbereitet, erzählte von der Gründung des Bürgerkomitees in der Stasi-Zentrale in Berlin-Lichtenberg, der Sicherung der Archive und der ersten Edition von MfS-Akten, die wir im März 1990 veröffentlichten. Es muss für die ägyptischen Studenten und Studentinnen wie ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht geklungen haben. Doch das Märchenland war in diesem Falle nicht das Morgenland, sondern das ferne Deutschland.
Die Unterschiede zwischen unserer Situation zur Jahreswende 1989/90 und der aktuellen Lage in Ägypten waren fundamental. Dennoch war der Optimismus der Anwesenden überwältigend. Sie fühlten sich als Helden der Volksrevolution und glaubten, das Regime besiegen zu können. Ein Teilnehmer fragte, wie lange so ein Umsturz der alten Verhältnisse dauern könne. Ich versuchte, diplomatisch zu antworten. Auch in Deutschland hätte im Sommer 1989 kein Mensch geglaubt, dass am 9. November des Jahres die Mauer fallen würde. Dennoch war es so, und die Menschen tanzten auf dem martialischen Bauwerk wie zunächst die Menschen auf dem Tahrir-Platz. Allerdings betrat keiner der Studierenden später eine Zentrale der Staatspolizei, höchstens als Häftling unter der bald schon folgenden neuen Diktatur. Es gab, soweit es uns später zu Ohren gekommen ist, kein Bürgerkomitee, keine Edition von Geheimdienstakten, keine Aussonderung der Spitzel aus dem Staatsdienst, keine ägyptische „Gauck-Behörde“. Der alte, für seine Untaten berüchtigte Sicherheitsdienst war auch der neue.
Auch Diktatoren lernten aus 1989
Den Tagen des Arabischen Frühlings gingen andere Volksaufstände voraus, und es folgten ihm andere. Überall in der Welt fanden in den vergangenen Jahren Revolutionsversuche mit poetisch klingenden Namen statt – oder sie scheiterten bereits in den Anfängen oder bald darauf. Denn auch viele Herrschende hatten aus der Implosion der SED-Führung in der DDR 1989/90 gelernt: bloß nie nachgeben, alle Rädelsführer verhaften. Und hemmungslos Gewalt einsetzen. Ob in Hongkong oder Belarus.
Die stets erfindungsreichen Medien verliehen den Revolten oft die Namen von Blumen oder Farben. Vielleicht erleichterte dies den westlichen Nachrichtenkonsumenten angesichts der Vielfalt ferner Länder und anhand der immer gleichen Bilder von Straßendemonstrationen, prügelnden Polizeikräften und schließlich jubelnden Menschen, die in die Privatvillen und Regierungspaläste von ehemals Herrschenden eindringen – sofern dies gelang –, die Orientierung.
Der vorläufig letzte dieser Umstürze begann im Dezember 2024 in Syrien. Die Ursachen, der konkrete Verlauf und die Folgen dieser Ereignisse könnten kaum unterschiedlicher sein. Jeder Versuch, Ordnung in das Durcheinander zu bringen, muss scheitern, denn Revolution heißt dem Wesen nach Unordnung, Aufbruch ins Ungewisse, wie 1989/90 in der DDR und gegenwärtig in Damaskus. Auch an Illusionen, Pathos und großen Worten fehlt es niemals, ebenso wenig an persönlichen Rachegelüsten und Konjunkturrittern, die versuchen, ihr persönliches Süppchen auf dem Feuer der Revolte zu kochen. Von ausländischen Interessengruppen ganz zu schweigen. Doch gibt es bei aller Unterschiedlichkeit Elemente im Revolutionsgeschehen, die immer wiederkehren. Dies sind erstens eine schiere Blindheit der Herrschenden und ihrer Gefolgschaft sowie ihre tief empfundene Schuldlosigkeit, zweitens die schnelle Rückkehr des Alltags und die Institutionalisierung der Revolution, aus der sowohl die staatsoffizielle Heroisierung als auch die Verdrängung der Protagonisten der früheren Oppositionsbewegung folgt.
Die Blindheit von Alleinherrschenden
Am Abend des 14. Juli 1789 schrieb der französische König Ludwig XVI. in sein Tagebuch: „rien“. Das bedeutet schlicht und einfach: „nichts“. Es war der Tag der Erstürmung der Bastille, jenem Donnerschlag, mit dem die Französische Revolution begann. Die militärische Bedeutung des Sturms auf die alte Befestigungsanlage war gering, die Symbolkraft aber ungeheuer. Dem König war am Abend des welthistorischen Tages der Vorgang keiner Erwähnung wert. Kenner der historischen Dokumente haben eingewendet, es habe sich bei den Aufzeichnungen des Königs um ein Jagdtagebuch gehandelt, und der Eintrag bedeute lediglich, seine Allerchristliche Majestät habe an jenem Tag weder einen Bock noch ein anderes edles Wild geschossen.
Das mag so gewesen sein, macht die Sache aber nicht besser. Offenbar war ihm sein Jagderfolg in höherem Maß erwähnenswert als das Schicksal der Nation. Mit seinem „rien“ unterschrieb er das Todesurteil für die Monarchie in Frankreich. Welche Winkelzüge und taktischen Manöver er bis zu seinem Ende unter dem Fallbeil am 21. Januar 1793 auch vollführen sollte, er hat dieses „rien“ niemals zurückgenommen. Ludwig XVI. fühlte sich als unschuldiges Opfer des entfesselten Pöbels und hoffte auf die Hilfe der Potentaten des alten Europa. Er gab damit ein Beispiel für die Blindheit der Herrschenden gegenüber ihrem eigenen Untergang. Das eigene politische Ende entzieht sich immer – oder wenigstens fast immer – dem Vorstellungsvermögen der Herrschenden, ob sie sich auf das Gottesgnadentum oder das Gesetz der Geschichte berufen.
Von 1789 ins Jahr 1989
So erging es zweihundert Jahre nach dem Sturm auf die Bastille auch Erich Mielke, dem allmächtigen und gefürchteten Minister für Staatssicherheit der DDR. Während einer Dienstbesprechung am 31. August 1989 erläuterte der Chef der Stasi-Bezirksverwaltung Gera, Oberst Dieter Dangrieß, die politisch-operative Lage in seinem Verantwortungsbereich: „Genosse Minister, ich würde sagen, natürlich ist die Gesamtlage stabil. Aber diese Tendenzen (…) das stimmt einerseits doch viele auch progressive Kräfte nachdenklich, vor allem auch im Hinblick auf die Konsequenzen.“ Der Minister unterbrach das konfuse Gestammel seines Obersten: „Ist es so, dass morgen der 17. Juni ausbricht?“ Man spürt förmlich, wie der altgediente Offizier Haltung annimmt: „Der ist morgen nicht, der wird nicht stattfinden, dafür sind wir ja auch da.“ Nach weiteren Berichten aus der DDR-Provinz wurde Generalleutnant Manfred Hummitzsch, der Leiter der MfS-Bezirksverwaltung Leipzig, noch einmal grundsätzlich: „Ansonsten, was die Frage der Macht betrifft, Genosse Minister, wir haben die Sache fest im Griff.“ Genau dies sollte sich als Irrtum erweisen. Fünf Wochen später wich in Leipzig die bis an die Zähne bewaffnete Staatsmacht vor der unbewaffneten Menge der Demonstranten zurück, weitere vier Wochen später fiel die Mauer.
Mielkes Schnüffelapparat hätte all dies eigentlich voraussehen müssen. Dafür war er ja da, wie Oberst Dangrieß vollkommen richtig bemerkt hatte. Wenn irgendwo im Lande ein Mäuschen hustete, wurde dies seit Jahr und Tag zu Papier gebracht, Maßnahmepläne erarbeitet, Inoffizielle Mitarbeiter eingesetzt, Zersetzungsaktionen geplant und Aktenordner gefüllt. Was aber die Spatzen im ganzen Land von den Dächern pfiffen, blieb dem aufgeblähten Sicherheitsapparat verborgen. Die Zeichen der kommenden Katastrophe entzogen sich dem Vorstellungsvermögen der „Allmächtigen“.
Kein noch so hochgezüchtetes System der Kontrolle, Überwachung und Analyse ist offenbar in der Lage, der Blindheit der Herrschenden abzuhelfen. Je fester ihre Macht gegründet scheint, auf desto schwächeren Füßen steht sie. Je tiefer die verordnete Friedhofsruhe der Despotie ist, desto heftiger sind schließlich die Explosionen, die sie eines Tages hinweg fegen. Wenn der Sturz des Ancien Régime dann zur unabweisbaren Tatsache geworden ist, folgt fast immer eine wehleidige Uneinsichtigkeit. In den Machtzentralen saßen lauter Unschuldslämmer, die für ihr Volk nur das Gute wollten.
Der groteske letzte öffentliche Auftritt von Erich Mielke ist ein Beispiel hierfür. Am 13. November 1989, also vier Tage nach dem Mauerfall, sollte er vor der Volkskammer Rechenschaft ablegen. Als der Stasi-Chef sagte: „(…) Wir haben, Genossen, einen außerordentlich hohen Kontakt mit allen werktätigen Menschen“, wurde gelacht. Zum ersten Mal in vierzig Jahren regte sich in dieser traurigen Karikatur eines Parlaments Widerspruch. Ein Abgeordneter meldete sich und wies darauf hin, dass nicht alle Mitglieder des Hauses Genossen, also Mitglieder der SED seien. Es folgte verwirrtes Gestammel: „Ich liebe – Ich liebe doch alle – alle Menschen – Na ich liebe doch – Ich setzte mich doch dafür ein!“ In der Kurzform „Ich liebe euch doch alle“ wurde das Statement zum geflügelten Wort. Unbewusst traf Mielke den innersten Kern des totalitären Machtanspruchs: dass die Obrigkeit ihren Untertanen ein gestrenger, aber liebender Vater sei.
Die autoritären Systeme der arabischen Welt neigen noch stärker zu einem religiös fundierten Patriarchalismus. So wie Allah im Himmel, herrscht der Vater in der Familie und der von Gott erwählte Monarch oder Volksführer über die Untertanen. Von Generation zu Generation verfestigen sich diese autokratischen Dynastien. Bei jedem Machtwechsel aber tobt sich die Volkswut an den Porträts und Denkmälern der gestürzten Herrscher aus. Unter großem Jubel werden die Statuen von den Sockeln geholt und zertrümmert. Man hat es im Frühjahr 2003 in Bagdad nach dem Einmarsch der Amerikaner erlebt, später anderswo und gegenwärtig in Syrien. Auch der schamlose Luxus in den Regierungspalästen und privaten Anwesen der Herrscher ist Teil des Machtanspruchs. Man sah im Dezember 2024 Fernsehbilder von syrischen Familien, die durch die kalte Pracht von Assads Palästen pilgerten wie durch ein Museum. Sie saßen auf den riesigen Sofas, fotografierten einander oder machten Selfies. Außerdem nahmen sie mit, was sie offenbar für eine Art Volkseigentum hielten. Symbolbilder euphorischer Selbst-Befreiung. Denn Assads Soldaten und Geheimdienstler kontrollierten sie nicht mehr.
Institutionalisierung des Aufruhrs
Dialog, Konsens und Sicherheitspartnerschaft waren die Leitbegriffe der Friedlichen Revolution in der DDR. Dies hatte gute Gründe, denn die Revolution war quasi ein Ritt über den Bodensee auf verteufelt dünnem Eis. Obwohl sich die SED-Führung seit dem Oktober 1989 als handlungsunfähig erwiesen hatte, waren alle ihre Machtmittel noch vorhanden – und konnten in jedem Augenblick zum Einsatz kommen. Wer konnte wissen, wie lange die Führung in Moskau dem Zerfall ihres Imperiums tatenlos zuschauen würde? Niemand garantierte, dass sich die mit Einkaufsfahrten in den Westen beschäftigten Volksmassen im Krisenfall schnell wieder mobilisieren lassen würden. So kam es, dass eine der in ihren politischen Folgen radikalsten Revolutionen der Weltgeschichte ohne Pathos und Theaterdonner über die Bühne ging. Die Herstellung von Rechtsstaatlichkeit, Legitimität und teilweise sogar von alltäglicher Normalität war oberstes Anliegen. Der Weltgeist kam im Winter 1989/90 auf dem Amtsschimmel daher geritten. Und dies war gut so. Die Revolutionäre in Syrien wären gut beraten, diesem Weg zu folgen, das heißt, über ihren eigenen Schatten zu springen und mit den Vertretern der alten Staatsmacht zusammenzuarbeiten.
Dies lässt sich aus der Ferne natürlich leichter raten als unter den emotional aufgeladenen Verhältnissen vor Ort durchführen, zumal die Verbrechen des Regimes in Syrien ganz andere Dimension hatten als die Verfassungsbrüche und Menschenrechtsverletzungen des SED-Regimes.
Erinnert sei an manchen unerbetenen Ratschlag im Jahre 1990. Nicht wenige westliche Politiker schlugen damals vor, die Stasi-Akten für die gesetzliche Frist von vierzig Jahren im Archiv verschwinden zu lassen, die Gesetzesübertretungen wie die Mauermorde juristisch nicht zu verfolgen und zur Tagesordnung überzugehen. Als Vorbild galt ihnen der Übergang zur Demokratie in Spanien nach General Francisco Francos Tod. Wie gut, dass dieses „Deckel-zu-Denken“ nicht zum Zuge kam, etlichen DDR-Bürgerrechtlerinnen und -rechtlern, engagierten Künstlerinnen und Künstlern und Journalistinnen und Journalisten sei Dank.
Die Revolution frisst ihre Kinder
Über die Frage, was aus den Revolutionären des Herbstes 1989 in Polen, Ungarn, der Tschechoslowakei und der DDR seitdem geworden ist, wurde schon viel geschrieben. In wechselnden Varianten taucht dabei das Wort von der Revolution auf, die die eigenen Kinder fresse. Das Zitat geht auf Georg Büchners Revolutionsdrama „Dantons Tod“ zurück. Der Dichter greift ein geflügeltes Wort auf, das angeblich schon während der sogenannten Schreckenszeit von 1793/94 kursierte.
Büchner schuf mit „Dantons Tod“ nicht nur eines der besten deutschen Dramen, sondern auch die wohl eindringlichste literarische Darstellung revolutionärer Dynamik. Der Terror der Jakobiner richtete sich zuerst gegen die ehemaligen Aristokraten und Priester, die den Eid auf die Verfassung verweigerten, dann gegen die Gemäßigten, die dem blutigen Werk der Guillotine Einhalt gebieten wollten, schließlich gegen die Radikalen, denen eine Abschaffung des Privateigentums und des Christentums vorschwebte. Der Unbestechliche war zum „Blutmessias“ geworden, wie es Danton in Büchners Stück ausdrückte. Die Freiheitsrechte galten nur noch für seine eigene Anhängerschaft, und im Reich der Vernunft regierte der Terror. Robespierre schickte ehemalige Freunde wie Camille Desmoulins und Kampfgenossen wie George Danton aufs Schafott.
Offenbar waltet hier eine innere Logik der Revolution. Die hohen Menschheitsideale, in deren Namen Revolutionen veranstaltet werden, erweisen sich im Kampf gegen die Gegner und Gegnerinnen der Revolution als untauglich. Zunächst wird die Glücksverheißung auf unbestimmte Zeit verschoben, dann vergessen und schließlich ins Gegenteil pervertiert. Wie Stalin in den 1930er Jahren die alte Garde der Bolschewiki abschlachtete, ist oft geschildert worden. Mit den Protagonisten und Protagonistinnen des illegalen Kampfes, der Revolution und des Bürgerkriegs starben auch die revolutionären Ideale. Von ihnen blieben schließlich nicht mehr als einige Redensarten.
Nach anderen Revolutionen waren die Verhältnisse teilweise zivilisierter. Die Aktivisten des Widerstands und des Kampfes verschwanden meist von der politischen Bühne oder sie wurden, soweit sie sich nicht längst selbst demontiert hatten, auf einflusslose Posten abgeschoben. Dass einige von ihnen, wie Václav Havel oder Lech Wałęsa, mehr oder weniger kurze Zeit als Aushängeschild der neuen Demokratie fungierten, änderte an dem Grundprinzip wenig.
Als idealtypisch darf vielmehr das Schicksal der Kranführerin Anna Walentynowicz gelten, die tatsächlich im August 1980 Streikführerin auf der Leninwerft in Danzig war. Sie lebte nach der Wende von einer kläglichen Rente in einer Einzimmerwohnung. Das Geheimnis dieses Rotationsprinzips ist nicht schwer zu erklären. Der Widerstand gegen ein herrschendes System resultiert oftmals weniger aus ideologisch determinierten Denkmustern, sondern weit mehr aus charakterlichen und mentalen Prägungen. Diese aber sind in der Regel der gesunden bürgerlichen Aufstiegsmentalität geradezu konträr. Aus Rebellen werden nur selten brave Beamte.
Der Wert der Erinnerung
Kein Mensch weiß, wie es in Syrien weitergehen wird. Vorsichtig spricht selbst der „Spiegel“ auf seinem Dezember-Cover vom „Syrischen Experiment“. Aus der Geschichte lernen zu wollen, ist ein fragwürdiger Anspruch. Doch man kann Parallelen ziehen und Analogien herstellen, zumal sich Revolutionen sehr oft aufeinander beziehen und sich als Fortsetzung und Wideraufnahme alter Ideale inszenieren, zum Beispiel die Revolution von 1830 und 1848 in Frankreich. Immer wieder wurde die Trikolore aus der Rumpelkammer geholt und auf den Barrikaden geschwenkt, wie auf dem berühmten Gemälde von Eugéne Delacroix „Die Freiheit führt das Volk“ aus dem Jahr 1830. Auch die russischen Revolutionäre der Zarenzeit hatten die großen französischen Revolutionsgeschichten gründlich gelesen oder sogar selbst eine geschrieben, wie der Anarchist Pjotr Kropotkin. Lenin wurde von vertrauten Genossen gelegentlich „Maximilien“ genannt, als sei er der Wiedergänger von Robespierre.
Nach 1989 gab es nicht wenige Theoretiker, die von einer „nachholenden“ Revolution sprachen, und in der Tat wurde die am 26. August 1789 verkündete Erklärung der Menschenrechte in der DDR erst im Herbst 1989 zur materiellen Gewalt. So wird die Erinnerung nicht gerade zum Leitfaden künftiger Rebellionen, doch sie kann die Kraft und den Mut derer befördern, die das Risiko eingehen, der bewaffneten Macht zu trotzen. In welchem Maße Syrien und andere Länder, die sich ihrer diktatorischen Regime entledigen wollen, an 1789 anknüpfen können, ist unklar. In der Ukraine, Georgien und anderen ehemaligen Sowjetrepubliken heißt dieser Bezug „Europa“ und meint im Grunde die Werte von 1789. Dafür schwenken die Menschen in Tiflis und anderswo die Europafahne und singen die Hymne mit dem Text von Friedrich Schiller und der Melodie von Ludwig van Beethoven.
Man mag über die liberalen Illusionen im alten Europa die Nase rümpfen, die Ideale für angestaubt erklären und darauf verweisen, dass der Arabische Frühling, der im Dezember 2010 in einem tunesischen Provinznest begann und in vielen Ländern Menschenmassen auf die Straße brachte, keines seiner Versprechen erfüllt hat, man darf auch bezüglich der Entwicklung in Syrien Skepsis hegen – doch immer wieder werden sich Menschenerheben, um für ihre Rechte zu kämpfen. Und immer wieder wird es, gerade am Anfang, großen Enthusiasmus und viele Illusionen geben. "Freut Euch über Syrien!" hat dieser Tage Dominic Johnson in der taz kommentiert: "Natürlich weiß man nicht, wie es weitergeht. Aber genau darin liegt die Chance. Es ist nichts vorbestimmt. Die vielfach genutzte Parallele zum Berliner Mauerfall 1989 liegt genau darin – in dieser Offenheit, die Kräfte freisetzt und Utopien möglich macht." Genau in diesem Sinne gilt es jetzt Syriens demokratische Kräfte unter den Dezember-Revolutionären von 2024 zu ermutigen.
Hermann Hesse dachte ganz bestimmt nicht an Aufruhr und Rebellion, als er schrieb: „(…) Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne/Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.“ Doch das Dichterwort gilt auch für den kollektiven Anfang jeder politischen Revolte – so wie 1989 in der DDR, 2011 in Ägypten und heute in Syrien. Die Idee der Freiheit ist unsterblich – sie wird mit jeder Generation neu geboren.
Zitierweise: Stefan Wolle, „Der Zauber des Anfangs“, in: Deutschlandarchiv 24.12.2024, www.bpb.de/557958. Alle Beiträge im Deutschlandarchiv sind Recherchen und Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar und dienen als Mosaikstein zur Erschließung von Zeitgeschichte. (hk)
Stefan Wolle, Dr. phil., geb. 1950; Studium der Geschichte an der Humboldt-Uni Berlin, dort aber 1972 aus politischen Gründen relegiert; zunächst wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Akademie der Wissenschaften in Berlin. Veröffentlichungen zur mittelalterlichen Geschichte Rußlands und zu den deutsch-russischen Wissenschaftsbeziehungen im 18. /19. Jahrhundert. Stefan Wolle und Armin Mitter waren von Januar bis März 1990 Sachverständige am Zentralen Runden Tisch für das Schrifttum des MfS; danach bis 3. Oktober 1990 Mitarbeiter des Staatlichen Komitees für die Auflösung des ehemaligen MfS/AfNS; sie gaben gemeinsam heraus: „Ich liebe euch doch alle . . .“. Befehle und Lageberichte des MfS (Januar—November 1989), Berlin 1990. Mehrere Bücher und zahlreiche Fachaufsätze des Historikers folgten, darunter für die bpb "Der Traum von der Revolte. Die DDR 1968", Bonn 2008, sowie die Geschichtsbände: "Der große Plan Alltag und Herrschaft in der DDR 1949-1961" und "Die heile Welt der Diktatur: Alltag und Herrschaft in der DDR 1971-1989", Berlin 2013. Mitte 2024 erstellte er das Online-Special Interner Link: DDR-kompakt für die Bundeszentrale für politische Bildung. Wolle war 18 Jahre Wissenschaftlicher Leiter des DDR-Museums in Berlin. Dort wurde er im Dezember 2024 verabschiedet.