In der Diktatur wählte sie Umsicht statt Freiheit um jeden Preis, bewunderte aber die Bürgerrechtlerszene. Wie die frühen Jahre Angela Merkels ihren Politikstil und ihre Kanzlerschaft prägten. Eine Buchbesprechung.
Im Epilog ihrer im Herbst 2024 erschienenen Autobiographie "Freiheit" schreibt Angela Merkel, wie anspruchsvoll und aufregend es für sie war, sich in die ersten 35 Jahre ihres Lebens hineinzuversetzen. Sich zu vergegenwärtigen, wie sie bis 1990 Diktatur und Unfreiheit erfahren habe und im Kontrast dazu dann Demokratie und Freiheit.
Die Beschreibung ihres Lebens in der DDR nimmt rund 150 Seiten der über 700 Seiten starken Biographie ein. Sie liefert einen Schlüssel für ihren späteren Aufstieg. "Freiheit" ist der Titel ihres Buches, die Frage nach der Bedeutung von Freiheit, vom Umgang mit ihr, zieht sich leitmotivisch durch alle Kapitel. Ihre ersten wirklichen Freiheitserlebnisse setzt Angela Merkel aber erst nach dem Ende der Diktatur an. Vorher regierten Zwang und Anpassung. Auch für sie.
Ihr privates Leben in der DDR lässt sie aber als glückliche Kindheit in einem Pastorenhaushalt beginnen. Er gab Geborgenheit, die Familie war der Schutzraum vor staatlichen Übergriffen und Zumutungen. Eine Normalität, aus der Anpassung und Verstellung gleichwohl nicht wegzudenken waren. Um die redet Angela Merkel auch nicht herum, sie gibt viele anschauliche Beispiele dafür, wie das Verhalten in der Familie, im engsten Freundeskreis, in der Schule und in der Öffentlichkeit sich unterschied, welche Vorsicht sie sich hier immer wieder auferlegte.
Wie weit aber ging sie, um diese Normalität zu erhalten und ihre wissenschaftliche Laufbahn zu fördern? Darüber ist seit 1990 viel diskutiert und spekuliert worden. Gab es womöglich Verbindungen zum Regime, die über ihre Mitgliedschaft in der Pionierorganisation und der Freien Deutschen Jugend (FDJ) sowie ehrenamtliche Funktionen hinausreichten? Und war nicht der Vater, Horst Kasner, der 1954 als junger Hamburger Theologe in den Osten wechselte, auffällig eng mit der offiziellen DDR-Seite verbunden? Seine linke Gesinnung und die Unterstützung einer "Kirche im Sozialismus" trugen ihm seinerzeit den Beinamen "der rote Kasner" ein.
Über mögliche Stasiverstrickungen von Mitgliedern der Familie Merkel sind ganze Bücher geschrieben worden. Ein "Vorgang IM-Erika" tauchte in dubiosen Medien auf, verbreitete sich in den sozialen Netzwerken und diente vor allem nach 2015 dazu, Merkel als vermeintliche Stasiinformantin zu diskreditieren. Nichts davon stimmte. Fotomontagen und Bilder mit falsch zugeschriebenen Personen sollten sie im vertrauten Umgang mit DDR-Staatsgrößen zeigen. Eine Schmutzkampagne, die sie traf.
Der Historiker Hubertus Knabe legte 2019 einen umfangreichen Recherchebericht vor. Dieser zeigte die Haltlosigkeit der IM-Beschuldigungen. 1978, als sich die junge Diplom-Physikerin um eine Stelle an der Technischen Hochschule in Ilmenau bewarb, gab es einen Versuch der Staatssicherheit, sie für eine Zusammenarbeit zu gewinnen. Wie damit umzugehen war, hatte sie gelernt. Die Ankündigung, darüber mit ihrem Mann und ihrem Freundeskreis sprechen zu wollen, genügte. Sie konnte sich der Mitarbeit entziehen, aber die Stelle hat sie nicht bekommen.
Der mit der Stasiunterlagenbehörde bestens vertraute Hubertus Knabe prüfte in seiner Recherche akribisch, ob die Schilderung Merkels stimmig war, ob es Hinweise auf spätere MfS-Kooperation am Zentralinstitut für Physikalische Chemie der Akademie der Wissenschaften gab, wo Merkel bis 1989 arbeitete. Dabei kam er zu einem eindeutig negativen Ergebnis. Merkel war von Zuträgern und Informanten der Staatssicherheit umgeben. Sie saßen im Kollegen-, Bekannten- und Freundeskreis, lieferten Berichte über sie und ihren zweiten Mann Joachim Sauer, der am selben Institut arbeitete. Spuren dieser Berichte finden sich in zahlreichen Überlieferungen, sehen das Paar aber nicht aufseiten der Staatssicherheit.
Allerdings wirkte Merkel am Institut auch als ehrenamtliche FDJ-Funktionärin für Agitation und Propaganda. Die Frage, wie politisch dieses Engagement war, musste Knabe offenlassen. Zu widersprüchlich sind hier ihre Selbstaussagen, sind die Schilderungen und Einschätzungen, die aus ihrer Umgebung stammen. Merkel selbst versucht, ihre Funktion weitgehend auf die Kulturanteile zu reduzieren. Doch konnte sie die darüber gelagerte Propaganda tatsächlich umgehen?
Merkel beschreibt auch, wie sie in der Schule, während des Studiums und noch als Doktorandin mit den Pflichtübungen in Sachen Marxismus-Leninismus konfrontiert wurde. Wie sie geschickt eigene Wege suchte, diese Pflichten zu umgehen, um dann letztlich doch eine konforme Interpretation abzuliefern. Um ihr Physikdiplom mit dem Prädikat "Sehr gut" abzuschließen, musste sie zum Beispiel in der notwendigen Prüfung in Marxismus-Leninismus mindestens ein "Gut" erreichen. Mit zunehmendem Alter fiel es ihr immer schwerer, die damit verbundene Trias von dialektischem Materialismus, historischem Materialismus und wissenschaftlichem Sozialismus durchzukauen. Aber sie tat es, um weiterzukommen.
Um einen realistischen Blick auf die junge Angela Merkel zu gewinnen, kann man eine Formulierung heranziehen, die sie Jahrzehnte später in Gesprächen, Interviews und nun in ihrer Autobiographie verwendet: Als DDR-Bürgerin habe sie gelernt, in Texten und Informationen zwischen den Zeilen zu lesen. Was sie mindestens ebenso gut gelernt hat, ist "zwischen den Zeilen zu schreiben". Sie gibt dem Leser der Autobiographie kein wirkliches falsches Bild ihrer Lebenssituationen und Lebensstationen. Fakten und Kontexte stimmen. Es geht um das, was sie auslässt, umschreibt, mit einer anderen Tönung versieht.
Hier kann ich als gelernter DDR-Bürger, wenige Jahre älter als Angela Merkel und mit Verirrungen, Konflikten und schwierigen Entscheidungen durch den gleichen Diktaturstaat gelangt, versuchen zu beurteilen, ohne vorschnell zu verurteilen.
Merkels Vater: "Roter Pastor" oder innerer Kritiker?
In einem Pastorenhaushalt in der DDR aufzuwachsen konnte ganz unterschiedliche Konsequenzen haben. Abhängig vom Stand der Staat-Kirche-Beziehungen, die von scharfer Konfrontation in der Anfangsphase bis zur Suche nach einem Kompromiss ab der zweiten Hälfte der Fünfzigerjahre reichten. Abhängig von der jeweiligen Landeskirche und ihren leitenden Funktionären. Abhängig auch von der Haltung des jeweiligen Pastors.
Pastoren und Kirchenvertreter, die sich der Formel einer "Kirche im Sozialismus" widersetzten, mussten mit viel größeren Einschränkungen und Repressionen rechnen als diejenigen, die sich dem Kompromiss unterwarfen, ihn vielleicht sogar aktiv unterstützten. Zulassungen zur höheren Bildung oder zum Studium waren häufig an das Wohlverhalten der Eltern geknüpft, Reiseerlaubnisse oder Reisebeschränkungen, materielle Unterstützung oder der Entzug davon ebenso.
Horst Kasner gehörte in den ersten Lebensjahren seiner Tochter als "roter Pastor" zu den kaum benachteiligten Kirchenvertretern und konnte es bis zum Leiter einer kirchlichen Weiterbildungsstätte, einem Pastoralkolleg, in der Nähe von Templin bringen. Hier verbanden sich seelsorgerliche, pädagogische und soziale Aufgaben, zumal auch die Arbeit mit Behinderten, der Betrieb von Behindertenwerkstätten, zum Profil der Einrichtung gehörte. Eine Aufgabe, welche der DDR-Staat nur zu gern auf die Seite der Kirche schob.
Angela, geboren 1954, wuchs auf dem Gelände dieser Einrichtung auf, in engem Kontakt mit Menschen mit Behinderung, die dort in verschiedenen Handwerken ausgebildet wurden. Doch ihr Erlebnisraum beschränkte sich nicht auf das Pastoralkolleg. Zusammen mit ihrer Schwester war sie viel unterwegs, hatte anfangs auch regelmäßig Kontakt zum Hamburger Teil der Familie. Wechselseitige Besuche waren bis zum Mauerbau 1961 noch möglich.
Wenn Angela Merkel die Wandlung des Vaters zum inneren Kritiker der DDR-Politik und Vereinigungsbefürworter beschreibt, gehen ihre Schilderungen und die Wahrnehmung von Zeitgenossen deutlich auseinander. Vor allem Kasners Mitarbeit im "Weißenseer Arbeitskreis", einer im Jahre 1958 gegründeten freien innerkirchlichen Vereinigung, wirft viele Fragen auf. Die nach ihrem Gründungsort, dem Stephanus-Stift im Ostberliner Stadtteil Weißensee, benannte Vereinigung war ein Zusammenschluss von Gegnern der vom konservativen Bischof Otto Dibelius vertretenen Konfrontation mit dem atheistischen DDR-Staat. Man konnte darin Vertreter einer sozialistischen Theologie finden, rote Karrieristen, denen die Staatsnähe Mittel zum Zweck war, Pastoren und Kirchenmitarbeiter, die sich für innerkirchliche Zurücksetzungen rächen wollten. Von Anfang an beförderten die DDR-Staatsorgane und das MfS die Vereinigung als eine Art fünfter Kolonne. Einige Gründungsmitglieder wie Hanfried Müller waren aktive IMs.
Welche Rolle spielte in diesem Kreis Horst Kasner? Einem Anwerbeversuch des MfS entzog er sich, trat aber öffentlich als Mitglied des Leitungskreises der Weißenseer auf. Deren Aktivitäten gipfelten zu Beginn der Achtzigerjahre in der Zeitschrift "Weißenseer Blätter", die verdeckt vom MfS mitfinanziert wurde. Dort konnte man Beiträge finden, die sich mit teils wüster Polemik gegen unabhängige Friedenskreise und Oppositionelle richteten und dabei bisweilen sogar offizielle DDR-Verlautbarungen zum Thema überboten. Die bis 2006 fortbestehenden "Blätter" zählten später auch Sahra Wagenknecht zum Autorenkreis. Bis zum Ende der DDR wurde Horst Kasner in MfS-Unterlagen und innerkirchlichen Einschätzungen als staatsloyal und systemkonform geführt.
Angela Merkel, die bei späteren Kontroversen immer engen Kontakt zu ihrer Familie hielt, beschreibt jedoch eine andere Person. In ihrer Erinnerung litt der Vater ab 1961 zunehmend unter den Folgen der Teilung, obwohl eine Rückübersiedlung in den Westen für ihn nicht infrage kam. Das Scheitern des Prager Reformexperiments im August 1968 habe seine innere Abwendung weiter verstärkt. Die heimliche Vervielfältigung von Samisdatpublikationen, etwa von Auszügen aus Solschenizyns "Archipel Gulag", sei Zeugnis dieser Abwendung. Dabei sei er einer Entdeckung nur knapp entgangen. Über ihn und gemeinsame entfernte Kontakte liefen auch die Verbindungen zum Freundeskreis um Robert Havemann.
An welche Rolle, welche Identität ihres Vaters glaubt sie wirklich? Diese Frage bleibt eigentümlich offen.
Merkels frühe Karriere: Freiheitsliebe und Ehrgeiz
Ihre eigene Situation in diesen Jahren, auch ihren Anteil am Opportunismus beschreibt sie mit deutlichen Worten. Von den offen Oppositionellen spricht sie mit Hochachtung, doch die Schranke, die sie von ihnen trennt, wird ebenfalls sichtbar. Hier kommt die Freiheit erneut ins Spiel.
Merkel erwähnt Vaclav Havels "Leben in der Wahrheit", das sie wie viele andere Schriften von Dissidenten liest. Dessen Freiheitsbegriff bezieht sich auf das widerständige Leben in der Diktatur. Wer sich zum Leben in der Wahrheit entschloss, legte die Fesseln der Anpassung, des Opportunismus, des Doppellebens ab. Havel gewann eine Freiheit, die ihn über die Schranken der Diktatur hinaustrug, selbst wenn er in einer Gefängniszelle steckte. Das galt auch für diejenigen, die seinem Beispiel in der DDR folgten.
So zum Beispiel Werner Schulz, der spätere Bundestagsabgeordnete von Bündnis 90. Er konnte sich als Absolvent der Naturwissenschaften an der Humboldt-Universität seine frühere Anpassung nicht verzeihen. 1980 äußerte er sich offen gegen den Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan, konnte seine Promotion nicht beenden und erhielt Berufsverbot.
Die Malerin Bärbel Bohley wurde zur unverwechselbaren Stimme der späten DDR-Opposition. Sie lachte ihre MfS-Vernehmer aus, wenn die ihr Zugeständnisse abzupressen suchten oder sie mit Vergünstigungen locken wollten.
Robert Havemann, in dessen Nähe die Studentin Merkel gelangte, war in seinem langen Vorleben nicht nur NS-Widerstandskämpfer und Haftgenosse Honeckers im Zuchthaus Brandenburg. Hochdekoriert nach dem Krieg, beteiligte er sich auch als harter Stalinist in verantwortlicher Stelle an der Gleichschaltung des Hochschulwesens. Doch dann fand er die Kraft, einen anderen Weg zu wählen, seine Mitschuld an den Verurteilungen anderer zu bekennen, machte sich zum gefürchteten und verfolgten Gegner der früheren Genossen. Er suchte einen anderen Weg für die DDR und wurde zum Anziehungspunkt und Partner für viele der Akteure von 1989.
Noch anders bei mir. Als Arbeiterkind hatte ich es an die Berliner Humboldt-Universität geschafft, war von der Zukunftsvision einer besseren DDR besetzt, und wurde mit voller Überzeugung Mitglied der SED. Beinahe hätte ich mich in den Fallstricken der Mitarbeit für das MfS verfangen. Sich Mitte der Siebzigerjahre davon zu lösen war ein erster Schritt der Befreiung. Er wurde ein endgültiger, als ich 1983 mit der Partei brach und dadurch meinen Nischenplatz am Zentralinstitut für Philosophie der Akademie der Wissenschaften verlor. Das war ein Sprung ins Ungewisse, in die abenteuerlichsten Jahre meines Lebens. Bei allen Härten werde ich das Gefühl der gewonnenen Freiheit nie vergessen. Damit umzugehen half mir über viele spätere Anfechtungen hinweg.
Wie ging es Angela Merkel beim Blick auf diese Widerständler, die sie zum Teil ja persönlich kennenlernte? Ausweislich ihrer Erinnerungen bewunderte sie deren Haltung und Konsequenz, aber wusste sicher, warum sie selber die Handschellen der Anpassung nicht ablegen wollte. Warum sie ihre Laufbahn als Wissenschaftlerin nicht aufs Spiel setzen wollte.
Der Institutsalltag, den sie ausführlich beschreibt, bestand aus festen Routinen mit starren Anwesenheitspflichten. Sie war die einzige Frau in einer Arbeitsgruppe von männlichen Kollegen. Dort lernte sie auch Joachim Sauer kennen, der zur Liebe ihres Lebens wurde. Immer stärker spürte sie, was als Wissenschaftlerin in ihr steckte, dass sie es schaffte, sich unter Männern zu behaupten. Sie spürte aber auch, was ihr in diesem fordernden, aber gleichbleibenden Arbeitsalltag auf dem Gebiet der Grundlagenforschung fehlte. Es gab einen Ehrgeiz in ihr, der darüber hinauswollte.
Merkel als Politikerin: Vorsicht und Zurückhaltung
Im Herbst 1989 brach die alte DDR zusammen. Angela Merkel erlebte das als Überraschung. Sie war keine Hellseherin und konnte nicht wissen, wie kurz die Zeit des noch vorhandenen Staatswesens bemessen war. Aber sie lenkte mit traumwandlerischer Sicherheit ihre Schritte in die richtige Richtung.
Das "Mädchen aus der DDR", dem man auf den Bildern aus dieser Zeit die Frau von Mitte dreißig nicht ansieht, brachte Fähigkeiten und Eigenschaften mit, die sie in ihrer zweiten Lebenshälfte auf den Gipfel der Macht lenken sollten. Den scharfen Intellekt der Naturwissenschaftlerin, lange erworbene Vorsicht und Zurückhaltung, eine gewisse Portion Risikobereitschaft, die Gabe, damit leben zu können, permanent unterschätzt zu werden und auch Niederlagen einstecken zu können. Aus all dem formte sich eine Art Panzer, den sie nur selten öffnete.
Aus den Anfängen im demokratischen Aufbruch wurde ihre Rolle an der Seite Helmut Kohls und 2005 schließlich die Bundeskanzlerin. An ihr bissen sich Heerscharen von Männern die Zähne aus. Ihre Kraft für diesen unglaublichen Weg gewann sie in den Erfahrungen und Prägungen der ersten Lebenshälfte.
Vorsicht, Umsicht und Zurückhaltung ließen sie bei allem Erfolg jedoch an der größten Herausforderung scheitern, der sie ausgesetzt war. Sie suchte und fand die Freiheit in der Demokratie, im Funktionieren ihrer Institutionen, auch wenn diese ihre Kehrseiten zeigten. Erbitterte Konkurrenzen, Neid, Missgunst, Seilschaften, die sich gegen sie zusammenfanden, all das gehörte dazu, und sie lernte damit umzugehen. Was jedoch nicht zu ihrem DDR-Gepäck gehörte, waren die Kraft und die Fähigkeit, den schlimmsten Feinden und Verächtern der Demokratie mit aller Entschiedenheit und Härte entgegenzutreten. Sich mindestens die eigenen Schwächen und Versäumnisse dabei einzugestehen.
In ihrer Autobiographie betont sie, sich über Wladimir Putin nie Illusionen gemacht zu haben. Ihre Politik gegenüber ihm und dem verbrecherischen System, das er vertritt, war allerdings eine mehr als inkonsequente. Alle Warnungen derjenigen, die es besser wussten, prallten an ihr ab. Auf ihre Verantwortung dafür angesprochen, scheint sich heute der Panzer aus Selbstgerechtigkeit zu schließen.
Soll es das gewesen sein, oder hat Angela Merkel, das Mädchen aus der DDR, noch ein drittes Leben vor sich? Eine Episode vom Schluss ihrer Autobiographie gibt hier vielleicht einen Hinweis. Dort schildert sie, wie sie 2019 eine Ausstellung des 1959 in Rostock geborenen Bildhauers Thomas Jastram besuchte. Eine Skulptur des Kairos habe sie besonders fasziniert, des Gotts der günstigen, unwiederbringlichen Gelegenheit: "Anders als Chronos, der Gott der gleichmäßig vergehenden Zeit, flog Kairos durch die Lüfte, man musste den richtigen Moment abpassen, um ihn beim Schopf zu packen." "Warum zieht Sie die Statue an?", fragte Jastram. "Weil ich in meinem Leben unendlich viele Stunden über richtige Zeitpunkte nachgedacht habe", antwortete sie ihm.
In ihrer Arbeit mit Fragen der Chronometrie, des Zeitverhaltens von Molekülen beschäftigt, konnte sie ihr gleichlaufendes Institutsleben als Zeit des Chronos ansehen. Dann tauchte Kairos auf, und sie packte ihn beim Schopfe. Nach dem Besuch der Ausstellung 2019 erwarb sie kurz entschlossen die Skulptur, verschloss sie aber in einem Säckchen, das sie erst öffnete, als die Stunde des Abschieds von der Macht kam. Jetzt steht er im privaten Teil ihres Büros.
Mehr als drei Jahrzehnte nach dem Kairos von 1989 stehen Europa und der Welt erneut entscheidende Umbrüche bevor. Ein neuer Kairos zeichnet sich ab. Die meisten Menschen sind sich einig, dass von Angela Merkel dabei nicht mehr viel zu erwarten ist, allenfalls Selbstrechtfertigungen und gute Wünsche für den Fortbestand der Demokratie. Fern von der Macht, aber mit all ihrer Erfahrung und Autorität könnte sie uns eines Besseren belehren und sich auch dieser neuen Herausforderung stellen. Sie würde einen Teil ihres Panzers ablegen und eine Elder Stateswoman werden, wie es sie bis heute nur selten gibt.
Der Rezensent, Wolfgang Templin, wurde 1948 in Jena geboren und ist Philosoph und Publizist. Er war Teil der DDR-Bürgerrechtsbewegung und Mitbegründer von Bündnis 90. ZITIERWEISE: Wolfgang Templin, „Das Mädchen aus der DDR". in: Deutschlandarchiv 20.12.2024, www.bpb.de/557881. Erstveröffentlichung in der FAZ vom 19.12.2024. Alle Beiträge im Deutschlandarchiv sind Recherchen und Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar und dienen als Mosaikstein zur Erschließung von Zeitgeschichte. (hk)
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Wolfgang Templin ist Philosoph, Publizist und Sachbuchautor. Zu den Hauptthemen des ehemaligen DDR-Bürgerrechtlers zählen die DDR-Geschichte, der deutsche Vereinigungsprozess und die Geschichte Osteuropas im 20. Jahrhundert.
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