Die Vorstellungen der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft über Jüdinnen und Juden in Deutschland werden deren Lebensrealitäten häufig nicht gerecht. Das gilt auch und insbesondere für russischsprachige Jüdinnen und Juden, die ab den 1990er-Jahren aus der ehemaligen Sowjetunion eingewandert sind und heute einen großen Teil des jüdischen Lebens in Deutschland ausmachen.
Im Spagat zwischen Normalitätsvorstellungen und dem Judentum
Die Interviewpartnerinnen deuten ihren religiösen Lebenswandel als Antwort auf Krisen- und Sinnfragen, wenngleich sie unterschiedlichen Strömungen des Judentums angehören: eine Befragte gehört der liberalen Strömung an, eine der traditionellen, eine der religiös-zionistischen, zwei der modern-orthodoxen, zwei der orthodox-litauischen und drei der chassidischen.
Aus dem religiösen Lebenswandel heraus erwachsen jedoch selbst Herausforderungen und Konflikte, die daher rühren, einerseits religiös zu leben und dies andererseits gegenüber dem sozialen Umfeld zu plausibilieren beziehungsweise darin zu verankern. Die Interviewpartnerinnen erzählen über ihre Schwierigkeiten im Zusammenhang mit einem lebenspraktischen Wandel hin zum Befolgen religiöser Gesetze und damit zur Observanz, dem Einhalten von Regeln in religiösen Gemeinschaften. Zunächst durchlaufen sie einen persönlichen Veränderungs- und Gewöhnungsprozess. Dabei sprechen die Interviewpartnerinnen, die sich religiös-zionistischen oder orthodoxen Strömungen zugehörig zeigen, Kaschrut (Speisegesetze), Schabbat und Feiertage, Zniut (dezentes äußerliches Outfit, Kopfbedeckung) und für verheiratete Frauen die Shmirat Negia (Verbot des körperlichen Kontakts zu einem Mann außerhalb der Ehe) als Prozesse an, deren Umsetzung sie zum Teil herausgefordert hat. Darüber hinaus müssen die Interviewpartnerinnen eine jüdisch-religiöse Lebenswelt mit den Regeln in einer vorwiegend säkularen Umwelt und mit gesellschaftlichen Normalitätsvorstellungen vereinbaren. Im Wandlungsprozess folgt daraus für einige Interviewpartnerinnen ein Spagat. Sie sind darum bemüht, sich innerhalb beider Lebenswelten und entlang auch unterschiedlicher Erwartungen an ihr Handeln zu verorten. Nachvollziehen lässt sich dieses Spannungsverhältnis an zwei Beispielen: Eine Interviewpartnerin berichtet von der Scham, wenn ihre Schwiegereltern bei Feierlichkeiten als nichtreligiös in einer observanten Umgebung auffallen (10).
Dieses Beispiel verweist paradigmatisch auf widersprüchliche Erwartungen zwischen Judentum und Gesellschaft. Mit dem religiösen Leben die gesellschaftlich ratifizierten Erwartungen zu verletzen, an denen man sich vorher orientiert hatte, ist als durchaus herausfordernd zu deuten. Es erscheint, als würde das religiöse Leben der erstrebten gesellschaftlichen Teilhabe als Migrantin zuwiderlaufen, da etwa eine Kopfbedeckung oder Kaschrut als Zeichen einer fanatischen Frömmigkeit, rückständigen Praxis oder Integrationsverweigerung wahrgenommen werden könnten.
Lösungsstrategien: Trotzdem dazugehören?
Die Interviewpartnerinnen haben unterschiedliche Strategien entwickelt, um mit dem Spagat zwischen der jüdisch-religiösen und der säkular-gesellschaftlichen Lebenswelt umzugehen. Diese Strategien unterscheiden sich in zwei Grundtypen und in Abhängigkeit vom Religionsverständnis. Im ersten Grundtyp (5; 7) werden beide Lebenswelten zusammengeführt. Die jüdisch-religiöse Praxis wird eher problemlos in die säkular-gesellschaftliche Lebenswelt integriert. Es ergeben sich weniger Widersprüche, da der halachische
Konflikte in der Familie
In den Kernfamilien zeichnen sich bei den Interviewpartnerinnen keine tiefgreifenden Konflikte ab. Bei den seltenen Fällen von divergierenden Handlungsorientierungen zwischen Ehepartnern – etwa bei der Frage, ob und wie Schabbat einzuhalten sei – lassen sich Aushandlungsprozesse und Kompromisslösungen beobachten. Exemplarisch dafür stehen zwei Fälle, bei denen der Ehemann Schabbat nicht einhält und sich die Interviewpartnerinnen mit ihren Kindern einen separaten Raum schaffen, um Schabbat einhalten zu können, zum Beispiel durch Verzicht auf die Betätigung elektrischer Geräte (3; 8).
Konfliktlinien lassen sich eher im Verhältnis zu den eigenen Eltern erkennen, insbesondere zu den Müttern. Diese waren mehrheitlich nicht religiös und haben den neuen religiösen Lebenswandel ihrer Töchter als irritierend, gefährlich oder bedrohlich wahrgenommen. Diese Wahrnehmung hat sich vor allem auf ein stereotypes und überzeichnetes Bild von orthodoxer Religiosität und die Sorge vor einem Abrutschen der Tochter in Fanatismus bezogen (1; 3; 8). Mehrere Interviewpartnerinnen haben sich gegenüber ihren säkularen Eltern behaupten und einen selbstbestimmten Freiraum schaffen müssen, um religiös leben zu können (1; 2; 3; 8).
Alltagspraktisch haben sich Konflikte mit den Töchtern, die häufig im Jugendalter mit ihrem religiösen Lebenswandel gegen die Eltern rebelliert zu haben scheinen, vorwiegend auf Essen und Kleidung gerichtet. Die Bedeutung des Essens im Familienleben, im Judentum sowie speziell in russisch-jüdischen Familien, ist nicht zu unterschätzen. Der üppig aufgetragene Tisch und der Wunsch, das Kind ausreichend zu nähren, waren ein wichtiger Bestandteil jüdischer Familien in der Sowjetunion.
Ein Gefühl des Autoritätsverlustes oder Scheiterns der Erziehung, aber auch der Entfremdung und Kränkung erhält dann einen Sinn, wenn die Töchter das elterliche oder mütterliche Essen nicht mehr essen wollen, weil es nicht koscher ist.
Eine Interviewpartnerin isst etwa auch nach ihrem Wandel zum Religiösen und als Ausnahme von den Speisegesetzen das in nicht-koscheren Töpfen zubereitete Essen ihrer Mutter (8). Das begründet sie mit einem religiösen Argument und dem Gebot, ihre „Eltern ehren zu müssen“. Damit wägt sie ihrer eigenen Logik nach zwei religiöse Pflichten ab und agiert zugunsten der Eltern.
Von Konflikten um die „sittsame Kleidung“ als Bestandteil des religiösen Lebenswandels berichten auch die beiden Interviewpartnerinnen (3; 8), die sich in einer orthodoxen Lebenswelt bewegen. In einem Fall habe die Mutter moniert, dass ihre Tochter ihre „schönen Beine“ nicht mit langen Röcken – wie es dem Zniut-Gesetz im Judentum entspricht – bedecken solle (8). Eine andere Interviewpartnerin hat als Jugendliche angefangen, sich an religiöse Gesetze zu halten, und dies vor ihrer Mutter teils verheimlicht, um Konflikte zu vermeiden (3). So hat sie lange Strümpfe heimlich getragen, nachdem dies zunächst auf Missgunst bei ihrer Mutter gestoßen war. Sie hat sie vor Verlassen der Wohnung in die Tasche gepackt, danach angezogen und vor Rückkehr wieder ausgezogen.
Akzeptanz in der Familie
Mit der Zeit haben sich die Konflikte in den Familien, teils nach mehreren Jahren, aufgelöst und die Beziehungen der Interviewpartnerinnen zu ihren Eltern entspannt (1; 3; 4; 6; 8; 10). Für die Eltern der Interviewpartnerinnen ist es wichtig gewesen, dass ihre Kinder trotz ihrer Religiosität beziehungsweise der daran konturierten familiären Konflikte eine emotionale Brücke und eine liebevolle Beziehung zu ihnen aufrechterhalten.
Als Anlass hat sich insbesondere die Geburt der Kinder beziehungsweise der Enkelkinder rekonstruieren lassen (exemplarisch Fall 1). Die familiäre Bindung und der Wunsch, eine gute Beziehung zu den Kindern zu haben sowie die eigenen Enkelkinder mitgroßzuziehen, überlagern Konflikterfahrungen und Differenzen. In der Großelternrolle fügen sich die Eltern der Interviewpartnerinnen den in den Kernfamilien ihrer Töchter neu eingeführten Regelungen und akzeptieren die Grenzen ihrer Töchter. In dieser Konstellation nähern sich die Eltern auch dem Judentum an und adaptieren auch religiöses Handeln in ihrem Alltag. Es sind also die Interviewpartnerinnen, die ihren Eltern und besonders den Müttern einen neuen Zugang zum Judentum verschaffen (3; 6; 8; 10). Die Interviewpartnerinnen konnten die guten Seiten der Religion aufzeigen, ihre Eltern von Stereotypen und Voreingenommenheit, aber auch von ihren Ängsten befreien (3; 8; 10).
Fazit
Die Hinwendung zur Religion hat alle Interviewpartnerinnen vor Herausforderungen gestellt. Das „alte Leben“ hinter sich zu lassen und in einem nicht-religiösen Umfeld fortan religiös zu leben, ging für sie auch mit Konflikten mit den Eltern einher. Dabei stehen ihre Empfindungen und Erfahrungen, die Religion als Ressource und das religiöse Leben als Ausdruck von Freiheit zu erleben, bisweilen im Widerspruch zu mehrheitsgesellschaftlich ratifizierten Bildern über eine rückständig-patriarchale Religion als Eingrenzung der weiblichen Emanzipation und Freiheit. Aus den Spannungsverhältnissen zwischen jüdisch-religiöser und gesellschaftlich-säkularer Lebenswelt heraus schufen sich die Interviewpartnerinnen ein weitgehend jüdisches Umfeld. In der ersten Linie ist die Rückkehr zur Religion für die meisten Interviewpartnerinnen nicht in Erfahrungen gesellschaftlicher Krisen oder der Migration eingebettet, sondern vielmehr primär in einem im Jugendalter als Autonomieakt erlebten Ablösungsprozess vom Elternhaus und insbesondere gegenüber den dominanten Erziehungsmustern ihrer Mütter. In allen Interviews wird einerseits das Vorbild einer starken Frau – die Großmutter, Mutter oder Tante – bewundert. Andererseits wird ein Prozess der Selbstbestimmung und Selbstwirksamkeit durch das neu entdeckte Judentum angestrebt. Während Konflikte mit dem Freundeskreis meist zur Distanzierung und zur Annäherung an die jüdische Community geführt haben, hat sich ein positiver Wandel des Konflikts mit den eigenen Eltern und vor allem Müttern beobachten lassen. Dieser setzt zumeist mit der Geburt der Kinder beziehungsweise Enkelkinder ein. Viele Mütter der Interviewpartnerinnen passen sich an den religiösen Stil der Familien ihrer Töchter an, und einige nähern sich mit Hilfe ihrer Töchter sogar selbst der religiösen Praxis an.
Zitierweise: Julia Bernstein, „Herausforderungen russischsprachiger Jüdinnen beim religiösen Lebenswandel“, in: Deutschlandarchiv 17.12.2024, www.bpb.de/557759.