Was unter historischen Vorzeichen als Geste der „Wiedergutmachung“ firmierte, hat sich für viele Migrant:innen als herausfordernder Prozess des Ankommens oder als Krisenerfahrung dargestellt.
Die durch die Migration und die Herkunfts- beziehungsweise Aufnahmegesellschaf geprägten Spannungsverhältnisse zwischen Assimilation, Säkularisierung und Diskriminierung und jene zwischen dem Bewahren beziehungsweise Wiederentdecken der Religion nach der Perestroika zeigen sich auch und insbesondere in den Erfahrungen und Perspektiven von Jüdinnen. Dies folgt einerseits aus normativen Rollenvorstellungen, nach denen die Frau zum Beispiel als Mutter oder Eshet Chayil (Tugendhafte Frau der Tapferkeit) als Bewahrerin der jüdischen Identität gilt.
Wie haben russischsprachige Jüdinnen nun also nach ihrer Migration nach Deutschland das Judentum für sich (wieder)entdeckt?. Dieser Leitfrage wurde auf der Grundlage einer Interviewstudie im Rahmen des Projekts „Religion als Ressource. Religiosität bei russischsprachigen jüdischen Familien nach Perestroika/ihrer Einwanderung“ mit zehn russischsprachigen, nach Deutschland migrierten Jüdinnen nachgegangen. Im Vordergrund stand die Rekonstruktion ihrer Erfahrung eines religiösen Lebenswandels und dessen Deutung.
Rückkehr zur Religion: Tschuva
Um die biografisch-lebensweltlichen Prozesse des religiösen Lebenswandels verstehen zu können, bedarf es zunächst einer Annäherung an das Konzept der „Rückkehr“ im Judentum. Dieses wird mit dem Begriff Tschuva beschrieben und mit der Torah und dem Talmud, aber auch zum Beispiel mit den Lehren von Rambam (Maimonides) begründet.
Damit hat die Tschuva einen Doppelcharakter als stetiges Korrekturhandeln und als ein als Rückkehr geltender religiöser Lebenswandel. Der erste Prozess gestaltet sich als Reflexion der eigenen Taten, die es einem ermöglichen soll, schlechte Taten zu bereuen, den Entschluss zu treffen, sich zukünftig zu bessern, und die Sünden einzugestehen.
Das Judentum während der Perestroika
In die gesellschaftliche Öffnung und die Hinwendung zum kapitalistischen Westen hat die sogenannte Baalei-Teschuwa-Bewegung hineingewirkt. Diese Bewegung hat Jüdinnen und Juden über das religiöse Judentum und seine Praxisformen aufklären wollen, um die zuvor skizzierte Tschuva, also die Rückkehr zur Religion, zu ermöglichen.
Einige Interviewpartnerinnen hatten bereits in der sowjetischen Herkunftsgesellschaft kurz vor und während der Perestroika die ersten Berührungen mit dem Judentum. Anhand ihrer Erfahrungen wird deutlich, dass diese Berührungen häufig durch einen Umweg über das Christentum zustande kamen, denn mit dem Nationalisierungs- und Ethnisierungswandel in der postsowjetischen Gesellschaft wurde das russisch-orthodoxe Christentum zum Mainstream und dominierte das gesellschaftliche Klima.
Der Weg zum Judentum in Deutschland
In Deutschland haben viele russischsprachige Jüdinnen eine Identitätskrise erlebt.
Die Forschungsbefunde zeigen, dass der Prozess, religiös zu werden, seinen Sinn jedoch nicht vorwiegend darin erhält, einen Umgang mit diesen Krisen zu entwickeln. Die Interviewpartnerinnen wurden mehrheitlich nach ihrer Migration nach Deutschland, in ihrer Jugendzeit und in nicht-religiösen Familienumfeldern religiös. Die sozialen und intrinsisch-lebensweltlichen beziehungsweise auf Identitätsdeutungen basierenden Faktoren des religiösen Lebenswandels ergeben sich aus dem sozialen Nahfeld, der Konstruktion familiärer Kontinuitätslinien, der Sprache, der subjektiven Sinnsetzung durch und mit Religion sowie aus der alltagsstrukturierenden religiösen Praxis.
Soziales Nahfeld
Die Interviewpartnerinnen haben sich mehrheitlich innerhalb nicht-religiöser Familien dem Judentum zugewandt. In zwei Fällen jedoch (5; 6) tritt die Familie als religiöse Prägungsinstanz hervor. Diese Interviewpartnerinnen haben eine religiöse Sozialisation erfahren und ordnen ihre religiöse Praxis als Erwachsene in eine familiäre Kontinuität ein. Eine Gesprächspartnerin grenzt sich darin dezidiert von ihrer Erziehung ab. Erst nach einer Phase der Distanzierung von ihrer religiösen Familie habe sie ein eigenes Religionsverständnis entwickeln können und religiös leben wollen (6).
Die Jüdischen Gemeinden werden als Orte der Integration und Brücke zur Mehrheitsgesellschaft und zum Judentum benannt. Als solche haben sie den Interviewpartnerinnen als unterstützende Anlaufstelle gedient, – etwa dafür, in der Situation, in der „wir in Deutschland allein sind“ (7), Anschluss zu finden. Sie haben auch eine Gemeinschaft geboten. Innerhalb dieser haben die säkular geprägten Jüdinnen sich der jüdischen Kultur und Tradition annähern können. Die Bedeutung der Gemeinden kommt in ihrer Charakterisierung als „Tor zu Welt“ (7) zum Ausdruck. Dort Schabbat oder Feiertage zu begehen, ist für die Interviewpartner:innen zum Rahmen dafür geworden, in die neue westliche Welt „einzutauchen“ und eine lebendige jüdische Praxis und Gemeinschaft zu erleben. Zudem haben die Gemeinden als Schutzraum beziehungsweise Zufluchtsort vor antisemitischen Bedrohungen oder Problemen in der Mehrheitsgesellschaft gedient.
Das Ankommen in den jüdischen Gemeinschaften war aber auch von Herausforderungen geprägt.
Ihre Gemeinden wurden aber auch von den Interviewpartnerinnen selbst mitgeprägt (9). Auffällig ist, dass einige ihren religiösen Lebenswandel mit einer Aktivität in einer Jüdischen Gemeinde oder Organisation verbanden (1; 7; 8; 9). So haben sie etwa als Gemeindevorsitzende gemeinsam mit den -mitgliedern begonnen, sich an religiöse Gesetze zu halten (9), nach der Teilnahme an Bildungsprogrammen diese selbst durchgeführt (8) oder Vortragstätigkeiten (1; 7) übernommen.
Familie
Die Mehrzahl der Interviewpartnerinnen wuchs in assimilierten Familien auf, die ihre jüdische Identität als ethnisch verstanden und sie oft zum Schutz vor antisemitischen Anfeindungen nach außen hin verheimlichten. Häufig haben sie ihren religiösen Lebenswandel gegenüber ihren nicht-religiösen und skeptisch bis sorgenvoll reagierenden Eltern erstreiten und verteidigen müssen. Nichtsdestotrotz ordnen sie selbst ihren religiösen Lebenswandel in die Familiengeschichte ein. Sie greifen auf konturschwammige Erfahrungen und Ideen über das Judentum aus ihrer Familie zurück und deuten diese neu. So setzen sie aus ihren Erfahrungen und Narrativen ein Puzzle zusammen, das ihre Rückkehr zur Religion als ein stimmiges Gesamtbild familiärer Kontinuität abbildet. Dieses Gesamtbild wird mit der Deutung hergeleitet, nach der die jüdisch-religiöse Identität oder Zugehörigkeit schon immer und damit vor dem religiösen Lebenswandel eine Bedeutung gehabt habe. Sie gilt als unverrückbares „Theorem“ (1) und wird mit dem Wissen beschrieben, „schon immer [gewusst] zu haben, dass es G‘tt gibt“ (8), oder als Kind bereits die Einsicht gehabt zu haben, als Erwachsene religiös zu werden (10). Mit der Konstruktion einer Quasi-Religiosität wird eine (familien-)biografische Konstante begründet. In diesem Zusammenhang wird insbesondere das Handeln der Großeltern fokussiert, um ein implizites religiöses Prägungsmuster zu plausibilisieren. So berichten mehrere Interviewpartnerinnen davon, dass sie religiöses Handeln bei ihren Großeltern beobachtet haben (4; 8; 9), ohne dies als Kinder verstanden zu haben oder eingeweiht worden zu sein. Erst später haben sie verstanden, dass ihre Großväter freitagsabends heimlich in die Synagoge gingen (6; 8; 10), ihre Großeltern sich (unbemerkt beziehungsweise unverständlich) auf Jiddisch unterhielten (7; 8; 9) oder ihre Großmütter sich streng an Speisevorschriften hielten oder zu Schabbat Kerzen anzündeten.
Insbesondere die Speisegesetze wurden in den Familien, hauptsächlich über die Großmütter, vermittelt. Sie werden als Familientradition wahrgenommen, die ein Wir-Gefühl und ein jüdisches Erbe begründet. Durch das Nacherzählen von Geschichten, etwa trotz aller Risiken vor den Repressionen des atheistischen Sowjetstaats Matze zu Pessach besorgt zu haben (1; 2; 7; 9), nehmen die Interviewpartnerinnen an einem Familiengeheimnis teil und stellen eine Kontinuität her. Darin und auch am Gebrauch von Sprichwörtern, an der Präsenz religiöser Symbole oder der Vermittlung von religiösen Werten in der säkularen Erziehung wird retrospektiv eine religiöse Prägung erkannt.
Eine weitere Dimension der Deutung von Kontinuitätslinien tritt dadurch hervor, dass Familienmitglieder als signifikant Andere für die Herausbildung einer jüdisch-religiösen Identität fokussiert werden. Mit Ausnahme von einem Fall, bei dem der Vater als „Impuls des Jüdischseins“ benannt wird (9), sprechen die Interviewpartnerinnen eine weibliche Linie starker Persönlichkeiten an – allen voran die Großmütter (1; 2; 4; 7; 10). Die Wahrnehmungen der Großmütter zeigen sich etwa an dem Bild der „klassisch jüdische[n] Oma aus [dem] chassidischen Städel“, der „Weisheit und Wärme“ zugeschrieben wird (2), oder an dem der fürsorglichen Großmutter, die Kinder umsorgt (1). Der wertschätzend-identifikatorische Bezug auf die Familie als Prägungsinstanz bleibt auch dann erhalten, wenn er nicht religiös ausgedeutet, sondern etwa auf den Erwerb mehrerer Sprachen oder die Vermittlung jüdisch-sowjetischer Werte ausgerichtet wird (3; 5; 7). Allen Interviewpartnerinnen ist es wichtig, ihre eigenen Kinder religiös zu erziehen und damit die familiären Kontinuitätslinien fortzusetzen.
Sprache
Die russische Sprache war für die Interviewpartnerinnen in Deutschland von besonderer Bedeutung: Sie übernahm eine ausschlaggebende Rolle für ihren religiösen Lebenswandel. Denn nach der Perestroika wurde jüdisch-religiöse Literatur gründlich und breitgefächert aus verschiedenen Sprachen ins Russische übersetzt und in großen Auflagen in russischsprachigen Ländern, Israel, den USA und auch Deutschland verbreitet. Auch mit anderen Bildungsformaten, zum Beispiel Audio- und Videolektionen zum Judentum (Shiurim) oder mit informellen religiösen Netzwerken im Internet, übersteigt das Angebot auf Russisch das in deutscher Sprache. Die Interviewpartnerinnen zeigen zudem eine ausgeprägte Affinität zur (religiösen) Literatur und eine Lesebereitschaft, die in ihrer akademisch-bildungsbürgerlichen Sozialisation in russischsprachig-jüdischen Familien gründet (4; 7; 9).
Sinnhorizonte Alle zehn Interviewpartnerinnen beziehen ihren religiösen Lebenswandel auf ihr Verständnis des Judentums und deuten ihn sowohl entlang von intrinsischen als auch von pragmatischen Sinnhorizonten aus. Die intrinsischen Sinnhorizonte sind darauf angelegt, das Judentum als Wahrheitssystem zu fokussieren. Anhand dessen, wie diesem Wahrheitssystem eine Geltung zukommt, lassen sich zwei unterschiedliche Grundtypen dieses Sinnhorizonts beschreiben. Mit dem ersten Grundtyp wird der neue religiöse Lebensstil als Prozess verstanden, sich von vorherigen Orientierungsmustern, aber auch von der säkularen Gesellschaft und ihren Moralvorstellungen abzugrenzen und dem Judentum stetig anzunähern. Das Judentum wird aus dieser Perspektive als integraler Bestandteil des eigenen Selbst (2) beziehungsweise als Lebensinhalt (10) angesehen und sich angeeignet. Zwei Interviewpartnerinnen versinnbildlichen ihren neuen religiösen Lebensstil mit einer Metapher, die ihn als natürliche Rückkehr zum Ursprung darstellt: Das neu erschlossene jüdisch-religiöse Leben wird mit dem Sinnbild eines aus einem Aquarium befreiten Fisches im Ozean verglichen (10) beziehungsweise als Apfel, der am Baum wächst (1), charakterisiert. Andere Interviewpartnerinnen heben hervor, es handele sich beim religiösen Wandel nicht nur um eine abstrakte oder kognitive Auseinandersetzung mit Glaubensinhalten oder um ein Anhäufen von Wissen, sondern um eine handlungsförmige und emotional verankerte Lebensgestaltung. Insbesondere an der Fokussierung auf eine emotionale Dimension des religiösen Lebens bildet sich der intrinsische Sinnhorizont ab (8; 9).
Mit dem zweiten Grundtyp zeigt sich ein individualisierter Rahmen des religiösen Lebenswandels und der Auslegung des Judentums. Der Lebenswandel wird zum Beispiel als „religiöse Journey“ (6) charakterisiert und darauf ausgerichtet, dass es keinen verallgemeinerbaren Weg gebe, sondern „jeder Mensch seinen eigenen, einzigartigen Weg zum Allmächtigen [hat, JB]“ (3). Mit der Auslegung des Judentums wird eine religiöse Wahrheit anerkannt, die aber mit anderen, nicht religiös begründeten Wahrheiten zu vereinbaren bestrebt wird. Das Judentum wird nicht von der säkularen Gesellschaft kontrastiert, sondern als Bereicherung dieser verstanden (5; 7).
Mit den pragmatischen Sinnhorizonten charakterisieren die Interviewpartnerinnen das Judentum und das religiöse Leben als Ressourcen. Im Fokus stehen dabei jene Ressourcen, die die Interviewpartnerinnen als „fine tuning“ (3), „Energiequelle“ (9) oder „Quelle des Lebens“ (10) wahrnehmen. Die Interviewpartnerinnen betonen überdies, das Judentum helfe ihnen, Krisen zu bewältigen (1; 3; 4; 9; 10). Es gebe ihr Kraft, so betont eine Interviewpartnerin, „immer wieder, nach dem Fallen, durch das Leiden, Weinen und Verzweifeln, aufzustehen“ (1). Auch eine andere Interviewpartnerin hebt auf diesen Aspekt der Stärkung der Resilienz ab und weist ihre Wahrnehmung des Weltverlaufs als Ausdruck des Wirkens G‘ttes als Voraussetzung dafür aus, dass man „diese Welt bewältigen“ kann und nicht auf „der Couch des Psychiaters lande[t]“ (9). Darin bildet sich die religiöse Überzeugung ab, dass jedes Geschehen einen (zu erkennenden) Sinn hat und zum Guten zu deuten ist (Gam Su Letova). Durch ihr (religiöses) Handeln sind sie aber auch darauf gerichtet, die Welt zu einem besseren Ort machen zu wollen (Tikun Olam).
Alltagsstruktur
Die meisten Interviewpartnerinnen betrachten das Judentum als einen integralen Bestandteil ihres Alltags. Die alltagsstrukturierende Geltung ergibt sich dabei wesentlich aus dem Befolgen der religiösen Gesetze (Halacha mit 613 Mizwot), was als Kern des Judentums verstanden wird. Vor diesem Hintergrund wird das Judentum als Gebrauchsanleitung für das Leben gedeutet, die sich mit einem lebenspraktischen Veränderungs- als Gewöhnungsprozess angeeignet werden musste. Das hat zum Beispiel verschiedene Formen des Verzichts betroffen, denen sich religiös-zionistischen und unterschiedlich orthodoxen Strömungen angehörige Interviewpartnerinnen angenähert haben: Schabbat (unter anderem keine Arbeit) und Kaschrut (Speisegesetze: Verzicht auf bestimmte Nahrungsmittel und auf nicht nach den Regeln zubereitete Speisen) einzuhalten, sich „sittsam zu kleiden" (Zniut) oder gegenüber Männern zu verhalten (Shmirat Negia - keinen körperlichen Kontakt zu Männern außerhalb der Ehe) oder eine Kopfbedeckung (Kopftuch oder Perücke) zu tragen. Diese Interviewpartnerinnen haben dieses Verzichtshandeln nicht als Oktroi, sondern als religiöses Handeln zur Selbstkorrektur gedeutet (8) oder als Glück (4; 9; 10) wahrgenommen. Der Weg dorthin wird jedoch auch als herausfordernd beschrieben. Das lässt sich am Befolgen der Speisegesetze nachvollziehen, das einer Interviewpartnerin zunächst „einfach unmöglich“ (2) und einer anderen als „Diät für immer“ (3) erschien. Dem Schabbat kommt für die Interviewpartnerinnen eine herausgehobene Bedeutung zu: Er gilt ihnen mehrheitlich als Grenze zum Alltag und deshalb als wichtiger Freiraum für sich selbst und die Familie. Mehrheitlich sind die Interviewpartnerinnen nach ihrem religiösausgerichteten Lebenswandel in einem überwiegend jüdischen Umfeld verankert, das ihnen die religiöse Alltagsgestaltung ermöglicht. Ein solches Umfeld versuchen sie auch für ihre Kinder zu schaffen, indem sie diese auf jüdische Schule oder zu Bildungs- und Freizeitprogrammen schicken. Drei Interviewpartnerinnen haben für sich in Deutschland kein angemessenes Umfeld herstellen können und sind nach Israel beziehungsweise Belgien ausgewandert, um dies dort zu suchen. Eine Interviewpartnerin beschreibt Deutschland als „Wüste“ für jüdisches Leben, die sie mit ihrer Familie und dem Leben in Israel hinter sich gelassen habe (10).
Fazit
Die Interviewpartnerinnen haben sich dem Judentum mehrheitlich in einem Prozess lebenspraktischer wie spiritueller Veränderungen angenähert und damit ihren Sinnhorizonten nach eine Lebensanleitung oder Ressource erschlossen. Diese Prozesse eines religiösen Lebenswandels stehen im Kontext der Krisenerfahrungen, welche die Interviewpartnerinnen als russischsprachige Jüdinnen in der Sowjetunion, im Zuge der Migration beziehungsweise als Jüdin in Deutschland gemacht haben. Dabei sind sie weniger als Reaktion auf Krisenerfahrungen, als vielmehr als Wiederherstellung eines Ursprungsverhältnisses zu deuten. Dieses folgt dem Verständnis des Judentums von der Rückkehr in die Religion und bildet sich in den Deutungen familiärer beziehungsweise kollektiv-identifikatorischer Kontinuitätslinien einer jüdischen Religiosität ab. Als Faktoren eines religiösen Lebensstils russischsprachiger Jüdinnen haben sich zudem das soziale Nahfeld als (religiöse) Prägungsinstanz und Gelegenheitsstruktur zum (religiösen) Lernen, die russische Sprache als symbolischer Türöffner zur jüdisch-religiösen Welt, intrinsische und pragmatische Sinnhorizonte zur Bedeutungsfestlegung und Begründung eines religiösen Lebens sowie der alltagsstrukturierende Charakter der neuen Lebensgestaltung rekonstruieren lassen.
Zitierweise: Julia Bernstein, „Von Reisen, Quellen und einer Wüste - Religion als Ressource von russischsprachigen Jüdinnen nach ihrer Einwanderung nach Deutschland “, in: Deutschlandarchiv 17.12.2024, www.bpb.de/55774.