Zum Kontext
Mit dem von der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb geförderten Projekt „Religion als Ressource. Religiosität bei russischsprachigen jüdischen Frauen nach ihrer Einwanderung“ ist der übergeordneten Frage nachgegangen worden, wie jüdische Frauen aus der (ehemaligen) Sowjetunion nach ihrer Einwanderung in Deutschland ihre Religion entdeckt haben, nachdem sie in der Sowjetunion über drei Generationen hinweg der Repression des sowjetischen Regimes und einer kulturell-religiösen Entwurzelung ausgesetzt waren. Im Rahmen dieses kleinen Forschungsprojekts wurden zehn offene – narrativ-autobiografische – Interviews mit aus der (ehemaligen) Sowjetunion eingewanderten Jüdinnen geführt. Die Gespräche wurden zusammen mit der Sozialwissenschaftlerin Anastassia Pletoukhina vorbereitet und von ihr durchgeführt. Ein wichtiges Kriterium zur Auswahl der Interviewpartnerinnen war, dass diese einen religiösen Lebenswandel vollzogen und sich einer der unterschiedlichen Strömungen des Judentums zugewendet haben. Das Sample enthält also Interviews mit zehn Zeitzeuginnen, die mit unterschiedlicher Verbindlichkeit ihren Lebensentwurf an religiösen Gesetzen und Handlungsformen ausgerichtet haben. Sie gehören dem liberalen (1), dem traditionellen (1), dem religiös-zionistischen (1) und dem orthodoxen Judentum an (modern: 2, litauisch: 2 und chassidisch: 3).
Es wurden Kontrasthorizonte zwischen an religiösen Strömungen konturierten Lebensentwürfen erfasst. Damit ist der Untersuchungsgegenstand von solchen Lebensentwürfen zu unterscheiden, die auf einer säkularen Adaption oder einem primär kulturellen Verständnis des Judentums basieren. Die Forschungsbefunde spiegeln also lediglich ein – wenngleich für die Religion wesentliches – Spektrum des religiösen Lebenswandels und von jüdischer Religiosität. Ihnen kommt explorativer Charakter zu, mit ihnen wird also kein Anspruch auf Repräsentativität erhoben. Es ging im Projekt vielmehr darum, ein bisher wenig beleuchtetes Phänomen anhand von Einzelfällen und ihren Gemeinsamkeiten und Unterschieden zu untersuchen. Auf dieser Grundlage konnten Sinn- sowie Erfahrungs- und Handlungsmuster rekonstruiert werden. Diese geben einen Einblick in die Prozesse rund um den religiösen Lebenswandel russischsprachiger Jüdinnen in Deutschland, sind jedoch nicht einfach zu pauschalisieren oder gar auf die Gesamtheit dieser Gruppe zu übertragen.
Die Forschungsbefunde werden in zwei Schritten vorgestellt. In einem ersten Beitrag („Von Reisen, Quellen und einer Wüste. Religion als Ressource von russischsprachigen Jüdinnen nach ihrer Einwanderung nach Deutschland“) wird der Fokus darauf gelegt, wie russischsprachige Jüdinnen nach ihrer Migration nach Deutschland das Judentum für sich (wieder)entdeckten. Um diese Frage zu beantworten, wurde im Projekt zunächst in das Konzept der „Rückkehr in die Religion“, wie es im Judentum durchaus als zentral zu betrachten ist, eingeführt. Damit wurde ein Sinnhorizont erstellt, dem sich die Interviewpartnerinnen annähern und das sie zum Bezugspunkt ihres neuen religiösen Lebenswandels machen konnten. Alle Interviewpartnerinnen verstehen das Judentum als wertvolle Ressource, die ihre Geltung nicht nur funktional aus einer auch die Migration verursachten Krisenbewältigung erhält, sondern aus sich selbst heraus als Identitäts- und Lebensentwurf sowie als „Gebrauchsanweisung“ für das Leben.
Im zweiten Beitrag („Herausforderungen russischsprachiger Jüdinnen beim religiösen Lebenswandel“) wird auf soziale Aspekte der Hinwendung zur Religion fokussiert. Hier geht es darum, was russischsprachige Jüdinnen in ihrem religiösen Lebenswandel als herausfordernd empfunden haben und wie sie damit umgangen sind. Im Vordergrund stehen dabei Umgangsweisen beispielsweise innerhalb oder gegenüber der Familie, mit denen die Hinwendung zum Religiösen im Zusammenhang mit Erwartungen, nicht religiös zu handeln oder zu sein, erklärt oder durchgeführt worden ist. Die Interviewpartnerinnen haben in diesem Zuge unterschiedliche Konflikte und Lösungsstrategien entwickelt.
Hier geht es zu den zwei Beiträgen von Julia Bernstein:
>> Erster Beitrag:
>> Zweiter Beitrag: