Wie geht es Menschen heute, die in der DDR massives Unrecht erfahren haben? Der Psychosomatiker und Psychiater Carsten Spitzer über Misstrauen, Schmerz und den Kampf um Anerkennung von Opfern der "operativen Psychologie" der Stasi, von Doping im Leistungssport, Zersetzung und Inhaftierungen in der DDR. Ein Interview von Jana Hauschild, übernommen aus "Psychologie heute" (10/24).
Herr Spitzer, Sie und Ihr Team haben mit Menschen gesprochen, die in der DDR politisch verfolgt oder ohne ihr Wissen gedopt wurden. Wie viele Personen betraf das denn überhaupt?
Carsten Spitzer: Es gibt nur Schätzungen für die einzelnen Personengruppen, denn oft fehlen dafür handfeste Dokumente. Wir wissen weder, wie viele Frauen und Männer betroffen waren, noch in welchem Alter sie im Durchschnitt waren. Beim Interner Link: Doping wissen wir: Im Jahr 1974 wurde es von der SED flächendeckend im Leistungssport angeordnet. Aus politischen Gründen inhaftiert wurden in der DDR zwischen 150.000 und 280.000 Menschen. Die von sogenannten Zersetzungsmaßnahmen der Stasi Betroffenen zu zählen ist ebenfalls schwierig. Aber ein Dokument des Ministeriums für Staatssicherheit von 1988 beziffert allein für dieses Jahr mehr als 19 000 „operative Personenkontrollen“.
Zersetzungsmaßnahmen, was verbirgt sich hinter diesem Begriff?
Politisch Oppositionelle wurden anfangs in der DDR vor allem inhaftiert. Ab Mitte der 1970er bemühte sich das Land aber, außenpolitisch in der Welt anerkannt zu werden. Erich Honecker unterzeichnete 1975 die Interner Link: Schlussakte von Helsinki bei der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, in der es auch um die Wahrung von Menschenrechten ging. Das führte aber nicht dazu, dass politische Oppositionelle weniger unterdrückt wurden. Man überlegte vielmehr: „Wie können wir das jetzt machen, ohne die Personen zu inhaftieren?“ Hier kam die sogenannte „operative Psychologie“ ins Spiel. Das war ein Studienfach, das man an der Hochschule des Ministeriums für Staatssicherheit studieren konnte. Dabei wurden psychologische Erkenntnisse genutzt, um politisch Andersdenkende zu drangsalieren, ohne sie in Haft zu nehmen.
Wie lief so etwas ab?
Es ging bei Zersetzungsmaßnahmen darum, Individuen, aber auch Gruppen, die sich zusammengeschlossen hatten und als oppositionell galten, in ihrem Selbstwert beziehungsweise ihrem Zusammenhalt zu erschüttern. Unter anderem wurde dafür der Ruf dieser unliebsamen Personen beschädigt. Es wurden Gerüchte gestreut, Fotomontagen erstellt, die die Leute in peinlichen Situationen zeigten. Sie wurden am Arbeitsplatz nicht befördert, hier fand, wie man heute sagen würde, Mobbing statt, ganz systematisch. Es wurde außerdem in Abwesenheit der Menschen ihre Wohnung oder das Haus durchsucht, und dabei wurden gezielt kleinste Gegenstände umgestellt oder Dinge wie Teesorten ausgetauscht. Das führte bei den Menschen, die heimkamen und die Veränderungen bemerkten, aber nicht zuordnen konnten, auf Dauer zu einer massiven Verunsicherung. Insbesondere weil den Betroffenen häufig gar nicht klar war: „Ist tatsächlich etwas passiert? Oder habe ich mir das nur eingebildet?“ Das konnte zur Folge haben, dass sie sozusagen schleichend an sich selbst irre wurden. Interner Link: Zersetzungsmethoden wie diese sind ja auch filmisch verarbeitet worden, zum Beispiel in Das Leben der Anderen, wo man sehr genau sehen kann, wie das funktionierte.
Wie fanden die Teilnehmenden es, dass Sie dieses Thema nun erforschen?
Relativ viele unserer Studienteilnehmer waren froh, dass endlich jemand ein wissenschaftliches Interesse an ihrem Schicksal zeigte. Für viele war es eine Form von Anerkennung. Gleichzeitig haben einige gesagt: „Diese Untersuchung kommt zu spät.“ Ganz viele Betroffene haben uns berichtet, dass sie sich in jahrzehntelangen Kämpfen mit Behörden verstrickt haben, in denen es um die Anerkennung von erlebten Repressionen und ihre Rehabilitierung ging. Für sie war unser Projekt nur ein Tropfen auf den heißen Stein, denn wir konn- ten ihnen – außer unserem Interesse und Respekt – nichts in Aussicht stellen in Form von gesellschaftlicher Anerkennung, Rente oder Rehabilitation.
Was haben Sie bei den Gesprächen mit den Betroffenen herausgefunden?
Was uns am meisten beeindruckt hat, ist, dass die Menschen, die Opfer von Zersetzungsmaßnahmen waren, recht einsam und isoliert leben. Sie sind untereinander nicht gut vernetzt, wie das beispielsweise bei den Opfern vom Staatsdoping der Fall ist, und haben wenige soziale Kontakte. Diese Gruppe hat wirklich kaum eine Lobby. Und man merkt ihnen bis heute an, was ihnen damals geschehen ist. Es sind Menschen – man muss es fast schon zynisch formulieren –, bei denen die Maßnahmen der Stasi in gewisser Weise erfolgreich waren: Es sind zerstörte Seelen.
Inwiefern?
Sie sind außerordentlich misstrauisch. Wahrscheinlich ist das auch mit ein Grund, warum es ihnen schwerfällt, überhaupt an Studien wie unserer teilzunehmen. Sie haben kein Vertrauen in Vertreterinnen und Vertreter „des Systems“, was wir als Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen ja sind. Die Menschen tun sich aber auch generell schwer, Vertrauen zu fassen. Bei seelischen und körperlichen Beschwerden leiden sie eher für sich, anstatt sich mit „Bagatellgeschichten“, wie manche es nennen, an einen Arzt oder eine Ärztin zu wenden. Das ist aus unserer Sicht eine Folge davon, dass über diese Zersetzungsmaßnahmen nachhaltig Vertrauen zerstört wurde, sowohl im zwischenmenschlichen Bereich als auch in Institutionen und im weitesten Sinne in staatliche Apparate. Entsprechend sensibel mussten wir vorgehen.
Sie haben sich in der Untersuchung vor allem auf die Langzeitfolgen für die Gesundheit konzentriert. Wie geht es den Menschen heute?
Wir fanden bei den Befragten eine hohe Anzahl psychischer Erkrankungen. Wir haben bei über der Hälfte der Betroffenen depressive Störungen im Lebensverlauf gefunden, bei etwa einem Viertel eine Agoraphobie diagnostiziert sowie weitere Angsterkrankungen bei über 10 Prozent. Häufig neigen die Menschen zu schädlichem Gebrauch von Alkohol oder Cannabis. Wir haben Zwangsstörungen, posttraumatische Belastungsstörungen sowie Somatisierungsstörungen festgestellt, bei denen körperliche Symptome im Vordergrund stehen, ohne dass die Organmedizin entsprechende Befunde erheben konnte. Teilweise ging es im Rahmen einer Zersetzung so weit, dass sich Betroffene das Leben genommen haben. Diese Menschen kamen nicht in unserer Studie vor, aber es ist bekannt, dass manche vor lauter Verzweiflung Suizid begangen haben.
Wovon hängt es Ihrer Meinung nach ab, ob das, was den Menschen damals passiert ist, bis heute nachhallt?
Das hat etwas damit zu tun, was Anlass und Ursache dafür war, dass jemand überhaupt ins Blickfeld der Stasi geriet und Opfer von Zersetzungsmaßnahmen wurde. Jemand, der sich zum Beispiel politisch aktiv engagierte und damit in gewisser Weise sehenden Auges das Risiko in Kauf nahm, ins Visier der Stasi zu geraten, der oder die hatte sowas wie eine Mission. Die Person war überzeugt von dem, was sie tat, und war sich bewusst, dass das Risiko für Repressionen hoch war. Je klarer die Menschen wussten, dass ihnen etwas passieren konnte, desto gewappneter waren sie. Es gab aber auch Leute, die zum Beispiel aufgrund ihres Engagements in der Kirche ins Blickfeld der Stasi kamen oder weil sie homosexuell waren oder einen vermeintlich schwierigen Charakter hatten. Sie wurden nicht primär wegen politischer Opposition zersetzt. Sie haben bis heute zum Teil wesentlich heftiger mit den Folgen der Zersetzungsmaßnahmen zu kämpfen als klar bekennende politische Oppositionelle.
Wie gut kann man denn überhaupt die heutige Gesundheit der Menschen mit dem erlebten SED-Unrecht von vor Jahrzehnten verknüpfen?
Natürlich können wir den Zusammenhang nicht beweisen. Es wäre auch vermessen zu sagen: „Die Gruppeder Unrechtsbetroffenen ist so und so belastet und das lässt sich direkt auf das erlebte Unrecht zurückführen.“ Aber was man mit einer gewissen Plausibilität sagen kann, ist, dass sich manche Befunde nicht durch den Zufall erklären lassen. Ein Beispiel: Bei den Opfern von Staatsdoping haben nur zwei Prozent der von uns Untersuchten keine psychische Erkrankung in ihrer Biografie.
Die Menschen, die durch den Staat gedopt wurden, bildeten die zweite Personengruppe, die Sie zu Gesprächen eingeladen haben.
Ja. Hierbei handelt es sich nicht um politisch Verfolgte. Die Sportlerinnen und Sportler wurden gedopt, weil die DDR ein großes Interesse daran hatte, dass sie bei Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen besonders gut abschnitten. Man spricht ja auch von „Diplomaten in Trainingsanzügen“, denn der Sport war ideologisch aufgeladen. Ein Ziel war, mit sportlichen Höchstleistungen – vor allem besseren Leistungen als denen der Bundesrepublik oder der USA – zu beweisen, dass das sozialistische System dem kapitalistischen überlegen war.
Das Doping in der DDR erfolgte in der Regel schon, bevor die Betroffenen volljährig waren – und ohne ihr Wissen und ihre Einwilligung. Wenn sie in einer Disziplin aktiv waren wie zum Beispiel dem Turnen, bei der die höchste Leistung üblicherweise mit 14 bis 16 erreicht wird, dann konnte es passieren, dass sie schon vor Einsetzen ihrer Pubertät gedopt wurden. Mit drastischen Folgen. Das hatte erhebliche Auswirkungen nicht nur auf die körperliche Entwicklung, sondern auch auf ihre psychische Verfassung, zum Beispiel wenn bei Mädchen eine männliche Behaarung einsetzte oder wenn es bei ihnen zu einem Stimmbruch kam.
Welche psychischen Folgen konnten Sie beobachten?
Wir haben festgestellt, dass viele der Betroffenen unter chronischen Schmerzen leiden, bis heute. Wir gehen davon aus, dass sowohl das Doping als auch das immense Trainingspensum, aber eben auch die Maßnahmen, die ergriffen wurden, damit die Sportlerinnen und Sportler trotz Erreichen ihrer Leistungsgrenze weitertrainieren konnten, zu einer nachhaltigen Schädigung des gesamten Schmerzsystems führten. Wie schon erwähnt haben viele im Verlauf ihres Lebens zumindest einmal unter einer psychischen Störung gelitten, vor allem an depressiven Erkrankungen oder an Angststörungen. Auch bedeutsam: Die Phobie vor Verletzungen und die Phobie vor Spritzen waren unter den Befragten im Vergleich zu der Allgemeinbevölrung überzufällig häufiger. Das führen wir natürlich auf diese Trainingsbedingungen zurück. Die Befunde sind aber nicht repräsentativ, denn bei Studien zu Folgen von Doping kommt unter anderem der sogenanntsurvival bias zum Tragen.
Was steckt hinter dem Begriff?
Das ist eine statistische Verzerrung. Sie entsteht, weil besonders schwer von Doping Betroffene nicht mehr am Leben sind und deswegen nicht an einer Befragung teilnehmen können. Wenn Sie zum Beispiel als junge Turnerin schon vor der Pubertät mit männlichen Geschlechtshormonen gedopt wurden, blieb das natürlich nicht folgenlos für Ihren Körper. Es gibt aus der Forschung gut verbürgte Hinweise darauf, dass Sportlerinnen und Sportler auch an den Folgen des Dopings starben. Man kann davon ausgehen, dass dies besonders schwer betroffene Menschen waren. Sie fehlen in unseren Befunden.
Der Mauerfall jährte sich 2024 zum 35. Mal. Wieso wendet sich die psychologische Forschung erst über drei Jahrzehnte nach dem Ende der DDR diesen Menschen zu?
Unser Forschungsverbund ist ins Leben gerufen worden, weil es nun finanzielle Mittel dafür gibt. Aber man kann sich schon fragen, warum das erst 25 bis 30 Jahre später passiert. In der Wissenschaft sagt man, dass eine Generation zwischen 20 bis 30 Jahre umfasst, und möglicherweise ist es genau das: dass es erst eine Generation später, also mit ein bisschen Abstand möglich wird, sich solchen Dingen zu widmen. Manche sehen es aber auch kritisch, dass Jahrzehnte später noch zu Unrecht in der DDR geforscht wird. Es gibt in einigen gesellschaftlichen Kreisen durchaus die Tendenz, die DDR zu verklären, sie zu verherrlichen. Deswegen finde ich es nach wie vor außerordentlich wichtig, mit konkreten Zahlen zu belegen, dass die SED ein Unrechtssystem schuf und die DDR ein Unrechtsstaat war. Das muss nicht bei jedem Bürger und jeder Bürgerin in der DDR zum Tragen gekommen sein. Ich möchte auch nicht behaupten, dass jeder, der in der DDR groß geworden ist, zwingend Schäden davongetragen hat. Bei der Mehrheit war das vermutlich überhaupt nicht der Fall. Nichtsdestotrotz gab es Menschengruppen, die von der DDR mit Unrechtsmaßnahmen überzogen wurden, und das darf nicht in Vergessenheit geraten.
Zitierweise: Carsten Spitzer interviewt von Jana Hauschild, „Langzeitfolgen von DDR-Unrecht". in: Deutschlandarchiv 15.12.2024, www.bpb.de/557663. Erstveröffentlichung in der Zeitschrift "Psychologie Heute" (10/24). Alle Beiträge im Deutschlandarchiv sind Recherchen und Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar und dienen als Mosaikstein zur Erschließung von Zeitgeschichte. (hk)
Zum Weiterlesen:
Bernhard Strauß, Jörg Frommer, Georg Schomerus, Carsten Spitzer (Hg.): Gesundheitliche Langzeitfolgen von SED-Unrecht. Psychosozial 2024
Prof. Dr. med Carsten Spitzer ist Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universitätsmedizin Rostock und leitete ein Teilprojekt im Forschungsverbund „Gesundheitliche Langzeitfolgen von SED-Unrecht“. Er studierte Medizin in Aachen und Lübeck. Er promovierte zu Patienten mit Konversionsstörungen und beschäftigt sich seither klinisch und wissenschaftlich mit dem Konstrukt der Dissoziation und der Psychotraumatologie. Als Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie sowie für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie leitete er von 2012 bis 2019 als Ärztlicher Direktor das Fachklinikum Tiefenbrunn, bevor er im Mai 2019 an die Uni Rostock wechselte.
Die Journalistin Jana Hauschild studierte Psychologie und schreibt seit 2012 als freiberufliche Autorin unter anderem für Psychologie Heute, sie wurde 2020 mit dem Preis für Wissenschaftspublizistik der Deutschen Gesellschaft für Psychologie ausgezeichnet.
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