Sharon Adler: Elianna, als Künstlerin arbeitest du „an der Schnittstelle von Biografie und Geschichte(n)“, wie Du selbst sagst, und hinterfragst in deinen Arbeiten „historische Narrative und deren Auslassungen“. In welchen Bereichen begegnen dir im Kontext von weiblicher Geschichtsschreibung diese Auslassungen?
Elianna Renner: In allen Bereichen. Frauen* sind in der Geschichtsschreibung zuhauf unterrepräsentiert. Schauen wir uns nur mal die Kunstgeschichte an: Viele Künstlerinnen haben über die Jahrhunderte hinweg bedeutende Werke und innovative Beiträge geleistet, wurden aber oft von männlichen Künstlern in den Hintergrund gedrängt. Ihre Werke wurden nicht ausreichend dokumentiert. Der Künstler wurde und wird noch immer als Genie gesehen – solange wir dieses Bild nicht wegbekommen, werden wir es weiter mit diesem Stereotyp zu tun haben.
Mich interessieren oft Randgruppen, sprich marginalisierte Personen, und hier sehe ich bei Frauen*, die mit mehrfachen Diskriminierungen im Alltag beschäftigt waren und noch immer sind, mehrfache Auslassungen, da die Personen nicht einfach nur in die Kategorie Geschlecht/Frau* fallen, sondern ihre Biografien aufgrund von Selbstbestimmung, Sexualität, Lebensweise, aber auch Religion/Herkunft/Klasse nicht der vorgegebenen Lebensweise ihrer Zeit entsprachen und entsprechen.
Sharon Adler: Wo siehst und dechiffrierst du die Lücken in der weiblichen Geschichtsschreibung mit Blick auf Jüdinnen, sowohl im künstlerischen Bereich als auch im gesamtgesellschaftlichen Kontext?
Elianna Renner: Bei jüdischen Frauen* spielen neben den Faktoren Sexismus und Misogynie auch Antisemitismus und kulturelle Vorurteile eine Rolle.
In meinen künstlerischen Arbeiten beginnt die Entschlüsselung mit dem Aufzeigen der Lücken. Eine Möglichkeit, sie zu dechiffrieren, besteht darin, jüdische Künstlerinnen und ihr Werk zu erforschen, um ihre Beiträge sichtbar zu machen. Mir geht es neben dem Sichtbarmachen auch darum, wie Geschichten weitergegeben werden. Auch ein Gerücht kann dafür ein fantastischer Ausgangspunkt sein. Oft ist es einfach schon die Untersuchung selbst, das Offenlegen oder Enthüllen, das zur Sichtbarkeit beiträgt.
Dass ich mich immer wieder mit jüdisch-historisch-kulturellen Themen oder Frauen* beschäftige, hängt sicher mit meiner lückenhaften Familiengeschichte zusammen. Ich habe meine Oma mütterlicherseits zwar nie kennengelernt, aber ihre couragierten Heldinnentaten waren immer Teil unserer Familiengeschichten. Dazu gehört auch die Erzählung, wie sie mit einem Topf selbstgekochter Suppe trotz der Luftangriffe zum jüdischen Altersheim in Iași
Cheerleading
Sharon Adler: Um die Lücken, aber auch das Leben und Wirken und die Marginalisierung von Frauen sicht- und erfahrbar zu machen, nutzt du Genres wie Fotografie, Audio- und Videoinstallation und Performance. Worum geht es in deiner Vier-Kanal-Videoinstallation „Cheerleading“ (2012)?
Elianna Renner: Ich habe vier Teams von Cheerleaderinnen aus New York dazu eingeladen, die Namen von 42 wegweisenden Künstlerinnen, Schriftstellerinnen, Schauspielerinnen, Musikerinnen, Frauenrechtlerinnen, Politikerinnen und Aktivistinnen aus dem Zeitraum von 1850-1950 in den öffentlichen Raum zu rufen. Dabei wollte ich mich mehr oder weniger auf die klassische Moderne konzentrieren, eine Zeit der großen Umbrüche.
Die Videoinstallation zeigt die Cheerleaderteams, die sich gegenüberstehen und sich nach der Cheerleading-spelling-Manier die Namen der Frauen* zurufen. So entsteht ein Erinnerungsspiel mit Namen oder eben auch ein Namedropping, sprich: Welche Frauen* und welche Namen haben welche Relevanz in welcher Gesellschaft? Wenn wir Namen hören, stellen wir assoziativ Bezüge her. Nach diesem Prinzip habe ich 2018 die Audioinstallation „Callout“ konzipiert: ein wachsendes Archiv, das Frauen*namen interaktiv sammelt und von Stadt zu Stadt, im öffentlichen Raum, aufgeführt wird.
Sharon Adler: Wonach hast du die Frauen* ausgewählt und was zeichnete sie aus, zu welchen Gruppen gehörten sie?
Elianna Renner: Es war eine schwere Entscheidung. Ich musste von einer Liste mit ursprünglich 200 Personen auf 42 reduzieren. Es haben mich viele inspiriert, wie zum Beispiel Rosa Shapire,
Das Cheerleading-Projekt ist auch meine persönliche Inspirationsquelle, neben der „Callout“-Audioinstallation sind weitere Arbeiten entstanden, wie die über Raquel Lieberman (La Organización, 2016), Bertha Pappenheim (Bertha Pappenheim-Map, 2015-2020) und Hannie Schaft
Weiblicher kommunistischer Widerstand
Sharon Adler: Welche Frauen haben dich besonders beeindruckt? Und inwiefern prägen diese role models dein eigenes Arbeiten?
Elianna Renner: 2023 habe ich in Bremen gemeinsam mit der Modedesignerin Cläre Caspar aus Berlin an dem Projekt „T-rigger Shirt“ gearbeitet, ein kollaboratives Projekt zwischen Kunst, Mode und Geschichte(n). Es war ein Work in progress-Experiment, in dem der Projektraum zum Atelier wurde und wir es dem Publikum ermöglicht haben, in die Gedankengänge des Projekts miteinbezogen zu werden. Später stieß noch die Bildhauerin Dorothea Nold aus Berlin zu dem Projekt dazu.
Seit 2023 arbeitet Elianna Renner an dem Work in progress-Experiment „T-rigger Shirt“ über weiblichen Widerstand, darunter Hannie Schaft und Freddy und Truus Overstegen. Elianna Renner: „Die drei Frauen waren aktiv an der Erschießung ranghoher Nazis beteiligt, organisierten Verstecke für untergetauchte Kinder und Erwachsene, schmuggelten Flugblätter und Waffen und beteiligten sich an Spionage- und Sabotageakten.“ (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2023)
Seit 2023 arbeitet Elianna Renner an dem Work in progress-Experiment „T-rigger Shirt“ über weiblichen Widerstand, darunter Hannie Schaft und Freddy und Truus Overstegen. Elianna Renner: „Die drei Frauen waren aktiv an der Erschießung ranghoher Nazis beteiligt, organisierten Verstecke für untergetauchte Kinder und Erwachsene, schmuggelten Flugblätter und Waffen und beteiligten sich an Spionage- und Sabotageakten.“ (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2023)
Das weiterentwickelte Projekt „Trigger-Warnung“ setzt sich mit den Widerstandskämpferinnen Hannie Schaft und den Schwestern Freddy und Truus Overstegen auseinander. Sie bildeten in Haarlem, Holland von 1941 bis1945 eine Widerstandsgruppe gegen die deutsche Besatzung. Die drei Frauen waren aktiv an der Erschießung ranghoher Nazis beteiligt, organisierten Verstecke für untergetauchte Kinder und Erwachsene, schmuggelten Flugblätter und Waffen und beteiligten sich an Spionage- und Sabotageakten. Sie waren ein eingespieltes Team. Ihre Strategien: Hannie und Truus traten während ihres Einsatzes als Ehepaar auf: Hannie als Ehefrau, Truus als Ehemann und Freddy sicherte die Umgebung ab. Bis Hannie nach einer Aktion von den Nazis als „das Mädchen mit rotem Haar“ gesucht wurde. Am 17. April 1945 wurde sie in den Dünen von Bloomfield von den Nazis exekutiert.
Freddy, Hannie und Truus wurden von staatlicher Seite in den Niederlanden erst in den 1980er-Jahren gewürdigt. Dass viele Widerstandskämpfer*innen in der kollektiven Erinnerung meist nicht beachtet wurden, liegt wohl unter anderem an deren politischer Gesinnung. Viele hatten einen sozialistischen und kommunistischen Hintergrund. In Zeiten des Kalten Krieges wurden diese Lebensläufe häufig ausgeklammert. Wenn sie in der Geschichtsschreibung Erwähnung fanden, tauchten sie oft als „die Frau, Verlobte, Freundin von…“ auf.
Sharon Adler: Du hast auch zur Geschichte des Frauenhandels im 19. und 20. Jahrhundert gearbeitet und mit „Tracking the traffic“
Elianna Renner: Während meiner achtmonatigen Forschungsreise, die mir ein DAAD-Stipendium ermöglicht hat, habe ich mich auf die Spuren des jüdischen Zuhälterrings Zwi Migdal begeben, um nach Frauen wie Raquel Liberman
Dafür bin ich nach New York, Buenos Aires, Montevideo, Saõ Paulo, Rio de Janeiro, Mumbai, Shanghai, Johannesburg und Kapstadt gereist und habe mit Historiker*innen, Schriftsteller*innen, Künstler*innen und Filmemacher*innen gesprochen, die dazu geforscht haben. Friedhöfe wurden auf der Reise wichtige Orte. Sie wurden für mich zu Datenbanken.
Ich konnte durch meine Recherchearbeit und mein lokales Engagement in Buenos Aires bewirken, dass es auf dem Friedhof, wo Raquel Liberman begraben ist, eine Zeremonie zu ihren Ehren gab, zu der auch ihre Enkelkinder eingeladen wurden. Ich habe den seit 30 Jahren verwilderten Friedhof, der zum Zuhälterring Zwi Migdal gehört hat, mit einem Gärtner*innenteam aufgeräumt und eine Zeremonie inszeniert, als Vier-Kanal-Videoinstallation (La Organización).
Ich verstehe diese Arbeit als Hommage und Gedenkveranstaltung für Raquel Liberman, aber auch für die anderen verschleppten Frauen und ihre unsichtbaren Geschichten. Raquel Liberman hat als einzige Frau in der Geschichte einen Zuhälter hinter Gitter gebracht. Für diesen Teil der Recherche und den Aufenthalt in Buenos Aires wurde ich 2015 unter anderem von der „Stiftung Zurückgeben“ gefördert. Auf einer der großen Friedhofswände wurde eine Plakette in Gedenken an Raquel Liberman angebracht. „Tracking the traffic“ hat mehrere Projekte hervorgebracht.
Die Bertha Pappenheim Map führt in drei Stadtrundgängen auf den Spuren der jüdischen Sozialaktivistin und Frauenrechtlerin in Frankfurt a. M. durch das Westend, Bahnhofsviertel und Innenstadt sowie das Ostend. Elianna Renner: „Der Bahnhof und die Bahnhofsgegend spielten in Zeiten des Frauenhandels eine wichtige Rolle. Dort hat Bertha Pappenheim die jüdische Bahnhofshilfe vor allem für allein reisende junge Frauen aufgebaut.“ (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2023)
Die Bertha Pappenheim Map führt in drei Stadtrundgängen auf den Spuren der jüdischen Sozialaktivistin und Frauenrechtlerin in Frankfurt a. M. durch das Westend, Bahnhofsviertel und Innenstadt sowie das Ostend. Elianna Renner: „Der Bahnhof und die Bahnhofsgegend spielten in Zeiten des Frauenhandels eine wichtige Rolle. Dort hat Bertha Pappenheim die jüdische Bahnhofshilfe vor allem für allein reisende junge Frauen aufgebaut.“ (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2023)
Die Bertha Pappenheim-Map
Sharon Adler: Aus dem „Tracking the traffic“-Projekt ist dein Kunst-Wissenschaftsprojekt
Elianna Renner: Die Idee, interdisziplinär und interaktiv eine Bertha Pappenheim-App zu konzipieren und zu gestalten, ist in Zusammenarbeit mit der Professorin für Judaistik an der Goethe-Uni in Frankfurt, Rebekka Voß,
Der Bahnhof und die Bahnhofsgegend spielten in Zeiten des Frauenhandels eine wichtige Rolle. Dort hat Bertha Pappenheim die jüdische Bahnhofshilfe
Sharon Adler: Welche aktuellen Parallelen zu Frauenrechten beobachtest du heute? Wie stellst du diese durch deine Arbeit her? Und wie können dadurch Lern- und Denkprozesse angestoßen werden?
Elianna Renner: Im Frankfurter Bahnhofsviertel gibt es heute immer noch ein Prostitutions- und Zwangsprostitutionsproblem. Bertha Pappenheim ist überall hin gereist, in das britische Mandatsgebiet Palästina, nach Konstantinopel und Galizien. Dort ist sie in die Bordelle gegangen und hat protokolliert, was vor Ort geschah. In meiner Auseinandersetzung damit habe ich versucht, diesen besonderen Bezug zur Straße zu gewinnen. Ich habe unter anderem mit vielen wohnungslosen Frauen über die Situation auf der Straße gesprochen und in einem Diakonie-Werk einen Vortrag über Bertha Pappenheim gehalten. Dort habe ich mit den Frauen einen Kunstworkshop durchgeführt, in dem Collagen und Postkarten aus Bertha Pappenheims „Denkzetteln“
Bertha Pappenheim (1859–1936) war eine der Mitgründerinnen des 1904 gegründeten Jüdischen Frauenbunds (JFB). Die jüdische Sozialaktivistin und Frauenrechtlerin engagierte sich auch gegen Zwangsprostitution. Elianna Renner: „Bertha Pappenheim ist überall hin gereist, in das britische Mandatsgebiet Palästina, nach Konstantinopel und Galizien. Dort ist sie in die Bordelle gegangen und hat protokolliert, was vor Ort geschah.“ (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2023)
Bertha Pappenheim (1859–1936) war eine der Mitgründerinnen des 1904 gegründeten Jüdischen Frauenbunds (JFB). Die jüdische Sozialaktivistin und Frauenrechtlerin engagierte sich auch gegen Zwangsprostitution. Elianna Renner: „Bertha Pappenheim ist überall hin gereist, in das britische Mandatsgebiet Palästina, nach Konstantinopel und Galizien. Dort ist sie in die Bordelle gegangen und hat protokolliert, was vor Ort geschah.“ (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2023)
Sharon Adler: Siehst du darin Chancen, neue Wege zu beschreiten, abseits von traditionellen Medien wie Lehrbüchern und Lexika ?
Elianna Renner: Ich habe in dem Sinne ja keinen Lehrauftrag. Ich mache Kunst, und meine Auseinandersetzung ist die Form der Sichtbarmachung, auch wenn das jetzt universell im Raum steht, weil das alles und nichts sein kann – und es manchmal auch den Menschen konzeptuell vielleicht weniger zugänglich ist und man über Ecken nachdenken und angeschubst werden muss. Ich biete die Plattform an, damit Diskussionen entstehen können.
Die Videoinstallation Re·per·toire
Sharon Adler: Anlässlich der Ausstellung „Zurück ins Licht. Vier Künstlerinnen – Ihre Werke. Ihre Wege“
Elianna Renner: Ich wurde vom Jüdischen Museum Frankfurt eingeladen, Teil dieser Ausstellung zu sein. Die Videoinstallation „Re·per·toire“ besteht aus drei Teilen und beschäftigt sich mit den Lücken im künstlerischen Werk sowie der Biografien der Künstlerinnen. Ich habe lose Fragmente in deren künstlerischen Schaffen und Biografie erkundet und daraus Bildräume und Videos entwickelt, die den Zuschauer*innen Einblicke in die Auseinandersetzung über deren Leben, die Kunst, die Kunstproduktion, die Kunstwelt und den Mythos Künstler*in im letzten Jahrhundert bis heute ermöglichen.
Familienbiografisches
Sharon Adler: Du bist in der Schweiz geboren und aufgewachsen. Wie haben deine Eltern und Großeltern überlebt?
Elianna Renner: Mein Vater kam mit seiner Mutter und seinem Bruder aus Ungarn mit dem Kasztner-Transport
Dieses Nichtwissen, ob er tot ist oder am Leben, hat meine Oma ihr Leben lang verfolgt. Als sie gestorben ist, fand ich ein Etui mit seiner Brille und Sachen für die ersten Tage, wenn man sich wiedersieht. Sie hatte auf ihn gewartet. In Yad Vashem gibt es ein Dokument, was sie unterschrieben hat, wonach sein Tod deklariert ist. Aber sie bekam nie eine Nachricht. Die einzige Geschichte, die ich von meiner Oma habe, ist diese Liebe zu ihrem Mann. Das ist meine väterliche Seite und der Grund, warum ich einen Schweizer Pass habe.
Die Familie meiner Mutter kam aus Iasi in Rumänien, wo es einen großen jüdischen Bevölkerungsanteil gab. Als sie drei Jahre alt war, fand das Pogrom in Iasi statt. An dem Tag ging sie mit ihren Großvätern, Janku Wasserman und Janku Solomon, zum Markt, um einzukaufen. Die Großväter kamen nie wieder zurück. Man weiß nicht, ob sie sofort erschossen oder gefangengenommen und in den Viehwaggon gepfercht wurden, den man zehn Tage lang bei vierzig Grad in der Sonne auf den Gleisen stehenließ. Als man die Türen der Züge aufgemacht hat, fielen alle Leichen heraus. Meine Mutter wurde auf dem Markt fremden Menschen übergeben, die sie nach Hause zu ihren Eltern brachten. Das habe ich erst Jahre später während einer Recherche über mein Kunstprojekt „Yankl 'N' Yankl went to the market“
Die Wassermans kamen aus Galizien und lebten in Iasi und sind ungefähr 1944, nach dem Pogrom, nach Bukarest weiter und von dort – nachdem die Rote Armee in Rumänien war – 1951 mit dem Schiff nach Israel ausgewandert. Meine Eltern haben sich in Israel kennengelernt. Meine Mutter war eine unabhängige, freiheitsliebende Person, die viel reiste, erst spät heiratete und Kinder bekam. Deshalb bin ich für mein Alter eine junge Angehörige der Zweiten Generation, mein fünfjähriger Sohn ist die Dritte Generation.
Sharon Adler: Wie erklärst du deinem Sohn die Shoah?
Elianna Renner: Er hat das Wort „Auschwitz" bestimmt schon am Esstisch aus meinen Gesprächen mit meiner Mutter aufgeschnappt. Dass es ein überschatteter Ort ist und was ein Konzentrationslager ist, habe ich selbst auch schon als Kind erfahren. Es wurde zu einem Thema, das mich meine ganze Kindheit hindurch begleitet hat. Mit etwa zehn Jahren habe ich die Biografie von Elie Wiesel gelesen und viele Filme über die NS-Zeit gesehen. Nachts konnte ich nicht schlafen, weil das alles so brutal und furchtbar war. Das wünsche ich meinem Kind natürlich nicht, aber er wird jeden Tag mit dem Thema rechtsextreme Gewalt konfrontiert, wenn wir auf dem Weg zum Kindergarten an dem „Köfte Kosher“
Dieser Ort erinnert an zwölf Todesopfer rechtsextremer Gewalt seit der deutschen Wiedervereinigung. Sie stehen stellvertretend für alle Opfer rechter Gewalt in Deutschland. Der Platz, auf dem der Gedenkpavillon steht, wurde 2018 in Marwa-El-Sherbini-Platz
Sharon Adler: Du bist Angehörige der Zweiten Generation. Was hat sich mit dem Umzug von der Schweiz nach Deutschland für dich verändert?
Elianna Renner: In Deutschland hatte ich das Gefühl, dass es meinem Gegenüber peinlich ist, wenn ich sage, ich bin Jüdin. Dass ich eine zur Farbe gewordene Person geworden bin, die aus seinem Schwarz-Weiß-Bild entstanden ist. Der Unterschied war, dass es in der Schweiz keine deutsche Besetzung gegeben hatte und auch keine Deportationen. Auch wenn der Antisemitismus dort wie überall Teil der Gesellschaft ist, und auch wenn das Profitieren am jüdischen Besitz bis heute verschwiegen wird, war es kein Kuriosum, jüdisch zu sein. Trotzdem habe ich in der Schweiz als Kind sehr viel direkten Antisemitismus erlebt.
Um die Nullerjahre wurde ich an der Kunsthochschule Bremen angenommen und bin zum Studieren nach Deutschland gezogen. Ich war dort schon vorher in der Punkszene aktiv, habe Konzerte und Touren für Punkbands organisiert und in Bands gespielt. Nach Deutschland zu ziehen, war wohl der größte rebellische Akt gegen meine Mutter. Denn wir sind, seitdem ich ein Jahr alt war, um die ganze Welt gereist, aber nie nach Deutschland. Ich erinnere mich noch gut daran, wie meine Mutter zum Telefonhörer griff, als die Mauer fiel und Familie und Freund*innen anrief und aufgeregt in den Hörer schrie: „Deutschland wird wieder eins.“ Da steckte keine Freude dahinter, sondern die Angst einer Überlebenden. Sie musste sich überwinden, mich in Deutschland zu besuchen. Inzwischen ist es okay für sie.
Sharon Adler: À propos Mutter, worum geht es in deinem Projekt „Matrophobia“?
Elianna Renner: Matrophobia ist die Angst, so zu werden wie die eigene Mutter. Das kann jede/n treffen: Alle, die sich mit ihren Müttern in irgendeiner Form identifizieren – oder auch nicht – und sich davon lösen wollen. Frauen, die Kinder kriegen, und sich ertappen, so wie ihre Mütter zu sein. Es gibt in einer patriarchalen Gesellschaft keine größere Angst, als so zu werden wie die Mutter. Anders als beim Vater, vor dem man Ehrfurcht oder Angst hat. Das war der Grund, weshalb ich das Matrophobia
Jiddisch
Sharon Adler: In deiner Familie wurde Jiddisch gesprochen. Was bedeutet diese Sprache für dich persönlich, und wie bindest du sie in deine Arbeiten ein?
Elianna Renner: Ich sehe Jiddisch als Teil meiner persönlichen Geschichte. Mein Großvater sprach Jiddisch, und meine Mutter hat als Kind Jiddisch, Französisch und Rumänisch gesprochen. Die Struktur der deutschen Sprache meiner Mutter basiert auf Jiddisch. Das habe ich erst später gecheckt, als ich die Sprache und die Grammatik im „Summer Program for Yiddish Language and Literature“ am Vilnius Yiddish Institute richtig gelernt habe. Mich hat die Geschichte, Literatur und Musik interessiert. Mein Projekt „Tracking the traffic“ kam durch ein jiddisches Lied einer Prostituierten ins Rollen, und ohne Jiddisch-Kenntnisse hätte ich dazu nicht recherchieren können.
Auch bei meiner Installation „Pitshipoy“ spielte Jiddisch eine wichtige Rolle. Dafür habe ich mich auf die Spuren des Wortes und seine verschiedenen Geschichten, Übersetzungen und Interpretationen begeben. Der Begriff stammt ursprünglich aus dem jiddischen Kulturgut und ist vor allem in Reimen und Liedern zu finden. Er beschreibt einen imaginären Ort. Mein Interesse galt der Wandlung, der Migration dieses Wortes. Mein Ausgangspunkt war das Sammellager Drancy. Dort gelangte er zu einer neuen Popularität, die mich neugierig machte. In Drancy wurde er zuletzt von den Deportierten verwendet, angesichts der Züge, von denen sie nicht wussten, wohin sie fuhren. Das Wort „Pitshipoy“ stand für das Ungewisse, und wurde zu einem Synonym der Hoffnung. Meine Installation vereint Text, Film und Audioaufnahmen, die fragmentarisch die Recherche des Begriffes präsentieren.
Teil meiner künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Wort Pitshipoy war eine Luftperformance, bei der das Wort Pitshipoy auf einem Stoffbanner, von einem Flugzeug gezogen, am Himmel über Berlin kreiste.