Mumpe, Bello, Spanner, Pritscher, Krimi, BVer, Ost-Stich, piken, Ufos, aufjucken, Brotwein. Was bedeutet das alles? Das können eigentlich nur ehemalige Gefangene in der DDR wissen. In Cottbus mussten sie in drei Schichten „schnitzen“ für den VEB Pentacon Dresden. Deswegen konnten die Fotoapparate aus der Ostzone so billig im Westen angeboten werden. Dumpingpreise, die den Volkswirt Thilo Sarrazin schon Jahre vor dem Mauerfall zu der nicht unbegründeten Annahme verleiteten, dass ein solcher Staat ökonomisch bald ans Ende gelangen müsse.
So äußerte sich der damalige Berliner Finanzsenator einmal bei einer Veranstaltung, die der Rezensent besuchte. Der Hintergrund war allerdings ein in der Bundesrepublik noch weitgehend unbekannter: Haftzwangsarbeit mit hohen Leistungsnormen, geringer Entlohnung und vielen Arbeitsunfällen. Und immer wieder Drohungen gegenüber Inhaftierten, demnächst im „Genickschuss-Barka“ unterwegs zu sein oder anderweitig „versandfertig“ gemacht zu werden. Welche Ängste wurden hier gestreut? Aufschluss hierüber gibt die autobiografisch angelegte Erzählung „Stasi-Knast“, verfasst von Dietrich Kessler: 1946 geboren, Rock-Bandleader und Komponist in der DDR mit Auftrittsverbot ab 1981, im Juni 1983 verhaftet, in Magdeburg und Cottbus inhaftiert und 16 Monate später freigekauft in den Westen.
Haftkameraden und „Erzieher“
Dietrich Kessler hat als aufmerksamer Chronist seiner Haftzeit mit „Stasi-Knast“ eine Sozialstudie über seine Haftkameraden geschrieben. Seine Mitgefangenen waren hauptsächlich Arbeiter, die mit der Unfreiheit im vermeintlichen „Arbeiter- und Bauernstaat“ gründlich abgeschlossen hatten und nur noch raus wollten. Das im Buch dokumentierte „Cottbus-Lied“ aus der Haftanstalt spricht Bände: Es stammt aus den siebziger Jahren und hat dieselbe Melodie wie das „Lied der Moorsoldaten“, das 1933 im KZ Börgermoor entstand. „Cottbus heißt die öde Stätte, wo ein Zuchthaus fest erbaut, der politischen Gefangenen jahrelanger Aufenthalt. Das ist das Zuchthaus Cottbus, Symbol des Sozialismus – in Aktion!“, heißt es darin (Stasi-Knast, S. 153). Es zu singen war verboten, aber trotzig stimmte es die Häftlingsgemeinschaft gelegentlich an.
Zumeist waren unter den Eingepferchten aufrechte Antikommunisten, die es später im Westen mit den Linken, die keine kommunistische Diktaturerfahrung hatten, nicht leicht hatten (S. 120). Aber unter den Mitgefangenen gab es auch posende und eingefleischte Neonazis, die sich in der Zelle gern als „Sturmbannführer“ anreden lassen wollten und die das rassistische Südafrika lockte (S. 165, S. 249 ff.).
Durch seine Empathie gelingt dem Autor, er ist studierter Germanist und Musikwissenschaftler, eine nahe gehende episodenhafte Darstellung von Schicksalen und Widerfahrnissen, die typisch für im SED-Staat Unangepasste, Eigensinnige und Andersdenkende waren. Sie kündet vornehmlich von verzweifelten und waghalsigen Fluchtversuchen, die grausam scheiterten. Manch „hartnäckiger Übersiedlungsersuchender“ geriet wegen Nichtigkeiten in die Fänge des Staatssicherheitsdienstes.
Einem an der ungarisch-österreichischen Grenze gefassten Flüchtling war in der Budapester U-Haft ein Ohr blutig geschlagen worden (S. 216), ein anderer berichtete von einer Scheinhinrichtung, die ihm in Bulgarien widerfuhr (S. 230). Ein Mithäftling hatte seine Tochter verloren, die beim Fluchtversuch mittels Schlauchboot in der Ostsee ertrank (S. 155). Die Frau eines anderen wurde bei einem versuchten Grenzdurchbruch in Ungarn getötet (S. 193).
Denjenigen, die wegen sogenannter „Asozialität“ eingesperrt wurden, drohte eine Verdopplung der Strafe, wenn sie nach der Entlassung mit Arbeitsplatzbindung wieder einmal den Arbeitsbeginn um wenige Stunden verschlafen hatten (S. 134). In einem demokratischen System wären sie schlimmstenfalls schlicht entlassen worden. Oder sie hätten sich drei Tage krankmelden können.
Sehr deutlich wird, dass Charaktere differieren und extreme Belastungen von Betroffenen unterschiedlich verarbeitet und zum Ausdruck gebracht werden. Wer schlimmer als ein Tier eingesperrt wird, kann selbst zum Tier werden (S. 241). Diese Passagen, obwohl recht nüchtern erzählt, sind wohl die aufwühlendsten des Buches – und mitunter kaum auszuhalten. Das kann auch einen Rock 'n' Roller schwer erschüttern.
Das Perfide am DDR-Knastsystem war, dass immer auch Kriminelle („BVer“, Berufsverbrecher wie Mörder oder Diebe) unter die „Politischen“ gemischt wurden – und die entscheidenden Machtpositionen zugesprochen bekamen, sei es als Stubenältester (Mörder waren länger „drin“), Vorarbeiter oder „Brigadier“. Manche von ihnen verkaufte das SED-Regime in den Westen für entsprechendes Salär; Kessler traf ein paar von ihnen dort später wieder. Manche agierten weiterhin im kriminellen Milieu (S. 241). Eine unterstützende Sozialisationshilfe gab es im DDR-Knast ohnehin nicht. Kriminelle fühlten sich häufig im Gefängnis am wohlsten: Da konnten sie Macht ausüben und machten die Regeln, wie Kessler schreibt. Im Alltag draußen kamen sie nach mehrmaligen Knast-Aufenthalten überhaupt nicht mehr zurecht.
Eine Amnestie, die „Amme“, war aber auch unter den politischen Gefangenen nicht unbedingt beliebt, denn sie konnte für Ausreiseantragsteller und Fluchtwillige bedeuten: Verbleib in der DDR („Ost-Stich“) (S. 136, S. 164). Hoffnungen richteten sich auf die Bundesrepublik, endlich „freigekauft“ zu werden.
Zunächst aber gab es viel Stress untereinander. Lautstarke Streitereien beim Glücksspiel auch nachts, gefüllte Aschenbecher, die in die Dreistockbetten gepfeffert wurden, erniedrigende Handlungen an Schwächeren. Nackte Hintern, die mit Schuhcreme beschmiert wurden, nachdem zuvor noch Schlimmeres angedroht worden war (S. 238, S. 243). Das Zusammenleben in der Zelle war auf der einen Seite von tiefem Misstrauen geprägt. Auf der anderen Seite entwickelten sich unter „Politischen“ Freundschaften, die nach der Entlassung in den Westen häufig anhielten, wie Kessler berichtet (S. 215 ff.).
Die Zivilangestellten, Schließer und Knastoffiziere („Erzieher“) charakterisiert der heutige Musikverleger ohne zu pauschalisieren, aber allein deren Spitznamen drücken viel aus: RT („Roter Terror“), „Arafat“, der Würger „Texas“, „Rambo“, „Stürmer“, „Russe“, „Stalin“ oder „Lollo“ wurden sie heimlich von den Insassen der Bautzener Straße 140 in Cottbus genannt. Ein Inhaftierter verstarb an einer durch Schläge verursachten Nierenverletzung (S. 157). Wenige der brutalen Schließer wurden nach 1990 wegen Menschenrechtsverletzungen angeklagt und zu Haft im offenen Vollzug oder auf Bewährung verurteilt (S. 162). Nach der Lektüre erscheint unfassbar, was Menschen anderen Menschen antun können – selbst wenn man sich der Devise des Kommunismus erinnert, dass Andersdenkende als Feinde zu brechen und zu liquidieren sind.
Lebensumstände
Immer wieder eingeflochten in Dietrich Kesslers Erinnerungen sind allgemeinere Betrachtungen über das Leben unter der SED-Herrschaft und ihrer sozialistischen Feindbild-Ideologie. Dabei erweist sich der Autor nicht nur als belesen, wenn er Reminiszenzen an Hannah Arendt über George Orwell und Alexander Solschenizyn bis hin zu Konrad Löw und André Glucksmann in seine Erzählung einbettet. Seine Auseinandersetzung mit der kommunistischen Diktatur ist vor allem erfahrungsgestützt.
Nebenher gewährt der fast 300-seitige Band erhellende Einblicke in die damaligen Bedingungen, unter denen Rockbands arbeiten mussten. Backstage auf sozialistisch sozusagen. Hier berichtet Kessler über Textzensoren und die Schwierigkeiten, an Instrumente und Bühnentechnik zu gelangen. Qualitativ gute Ausrüstung gab es nur in der Bundesrepublik, und da musste geschmuggelt und gedealt werden. Der Druck von Plakaten ließ monatelang auf sich warten (S. 57 ff., S. 159). Gegen Fans gingen Volkspolizisten brutal vor, und der Band wurde immer wieder mit Auflösung gedroht, wenn zu viele Besucher in die Tanzsäle strömten (S. 59).