»Man kann sich die Geschichte länglich denken. Sie ist aber ein Haufen.«
Thomas Heise in "Material".
"Alles ist im Übergang" Ein Nachruf auf den Dokumentarfilmer Thomas Heise (1955–2024) und andere Freunde, verstorben in diesem verflixten Jahr
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Im Juni 2024 war ich im „Metzer Eck“, einer Kneipe unweit vom Wasserturm im Prenzlauer Berg, mit Jens Stubenrauch verabredet. Wir kennen uns aus den 1990er-Jahren, als Jens noch als freier Filmemacher unterwegs war. Sein Film von 1998 über die größte Flugzeugtragödie in der DDR „Der Todesflug der IL 62“ ist mir noch in guter Erinnerung. Als Redakteur beim RBB betreute er viele Dokumentarfilme, auch aus der Schweiz. Über den plötzlichen Tod von Thomas Heise war er genauso erschüttert wie ich, kannten wir doch seine Filme, die stets einzelne Menschen in ihren Mittelpunkt rückten, die von der Gesellschaft "oft unverstanden waren".
Die letzte Ruhestätte fand Thomas Heise an der Grabstelle seiner Familie auf dem Neuen Friedhof St. Marien – St. Nikolai am 24. Juni 2024 im Prenzlauer Berg. Auf dem Weg dorthin kommt man am Grab des Dichters und überzeugten Anarchisten Bert Papenfuß vorbei, der ein Jahr zuvor im Alter von 67 Jahren verstarb. Auch die Dokumentarfilm-Regisseurin Petra Tschörtner, eine gute Freundin von Thomas Heise, ist schon seit 2012 auf diesem Areal beigesetzt, sie hatte ein ähnlich gutes Auge, "überraschende Einblicke in das Selbstverständnis durchschnittlicher DDR-Mentalität" zu vermitteln, wie es einmal ein Kritiker ausdrückte. Jens Stubenrauch sagte zu mir, dass dieser Ort hier am Königstor der Greifswalder Straße den Dorotheenstädtischen Friedhof an der Chausseestraße einmal ablösen wird als die zentrale Begräbnisstätte vieler Intellektueller des Prenzlauer Bergs, insbesondere der ostdeutschen Intelligenzija.
Tatsächlich sind im Trauerzug am 24. Juni viele bekannte Gesichter aus dem Prenzlberg dabei. Neben mir Klaus Wolfram, der Verleger vom BasisDruck Verlag. Sein Sohn war an der Kamera bei Heises Dreharbeiten oft dabei und deshalb kenne man sich seit Jahren gut. Da ist sie wieder: die Verzahnung vieler ostberliner Biografien.
In der Trauergemeinde nicht zu übersehen, eine große Gestalt mit dichten, hochstehenden grauen Haaren: Heises langjähriger Kameramann Peter Badel. Beide kannten sich seit den frühen 80er-Jahren aus der Filmhochschule Konrad Wolf in Potsdam-Babelsberg. Mit Peter tausche ich sogleich viele Gedanken zum so jähen Tod von Thomas Heise aus. Peter war bis zum letzten Tag an der Seite seines Freundes und zeigte sich noch am Grab überwältigt von der Lebensdisziplin Heises, der nach seiner tödlichen Diagnose weiterarbeitete, so, wie es ihm sein Kalender vorgab. Da gab es kein Zaudern oder Jammern, sondern eine straffe Tagesordnung, als ginge es auf eine große Reise. Und dafür sind bekanntlich viele Dinge vorher noch zu regeln. Nur der Tag der Abfahrt war im ärztlichen Bulletin nicht angegeben.
Mit Peter verabrede ich seinen Besuch bei uns im Studio von Zeitzeugen TV, denn persönlich kenne ich Thomas Heise mehr aus der Zeit unserer Arbeit bei der Staatlichen Filmdokumentation (SFD) im Filmarchiv der DDR in den 1980er-Jahren. Danach habe ich sein Filmschaffen zwar weiterverfolgt, aber leider kaum noch persönliche Kontakte gehabt. Von Peter Badel erhielt ich, wenn er bei einem meiner Filme an der Kamera stand, den einen oder anderen Hinweis, woran Heise gerade arbeitete. Fast ein halbes Jahrhundert zählt die Arbeitsfreundschaft von Regisseur Heise und Kameramann Badel. Peter Badel kann wie nur wenige über den Dokumentarfilmer authentisch und seriös Auskunft geben.
Wir beginnen im Aufnahmestudio unser Gespräch über die Filmarbeiten von Thomas Heise und Peter Badel bei der SFD im Jahr 1984, Filme, in denen sich beide bereits als gemeinsame "Menschenbeobachter" profilierten.
Bild: STAU von Thomas Heise (© ÖFilm Dörr & Schlösser GmbH)
Nachdem Heises Hochschulabschlussfilm, der im Dokumentarfilmstudio Berlin zum Thema „Erfinder 1982“ produziert wurde, der Zensur zum Opfer gefallen war, hatten beide gehört, dass man in einer Abteilung beim Filmarchiv unzensierte Filme für das Archiv, sozusagen für die Nachwelt, drehen könne. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich gerade meine Filmdokumentation „Studien und Randbemerkungen“ über den Wissenschaftler Jürgen Kuczynski abgeschlossen. Thomas Heise kannte den jüdischen Exilanten Kuczynski aus seinem Elternhaus, und so kamen wir ins Gespräch über dessen sagenumwobene Bibliothek und hielten uns über unsere jeweiligen Projekte auf dem Laufenden.
Für Thomas und Peter war eine Filmdokumentation über das Berliner Bezirksamt Mitte am Alexanderplatz der Einstand bei der SFD. Der Eingang zu den Büros befand sich unweit der Weltzeituhr. Für Thomas war das natürlich ein günstig gelegener Ort, denn er wohnte nahebei.
"Wann der Film gezeigt wird, wissen wir nicht"
Peter erzählt, dass sie damals in das Bezirksamt gingen, als wären sie selbst Antragsteller mit eigenen Wünschen. Bei den Dreharbeiten klebten sie Zettel an die Türen mit der Aufschrift „Wir drehen für die Staatliche Filmdokumentation. Wann der Film gezeigt wird, wissen wir nicht. Wer nicht aufgenommen werden will, bitte eine Tür weiter benutzen.“
„Auf dem Flur der Abteilung Wohnungsverwaltung gab es acht Türen“, kann sich Peter noch erinnern. „Die Leute haben sich zum größten Teil überhaupt nicht um die Kamera gekümmert, die wollten nur eine Wohnung, und das war in der DDR eine umkämpfte Mangelware. In der SFD hatte man sich die ersten gedrehten Rollen angeschaut und gesagt: Okay, macht weiter.“ Rückblickend waren wir beide uns einig, dass die SFD damals so etwas wie die Insel der Glücklichen war. Wo gab es das schon in der DDR, dass man völlig frei arbeiten konnte!
Die Räume der Staatlichen Filmdokumentation waren im Obergeschoß der Rosenthaler Straße 72a. Im Erdgeschoß war eine öffentliche Kantine untergebracht, die in den 1920er-Jahren zu den weithin bekannten Aschinger-Lokalen gehörte. Dort verkehrten die Leute aus ärmeren Schichten, darunter auch viele Werkstudenten. Der Historiker Walter Markov erzählte mir, dass er während seines Geschichtsstudiums oftmals bei „Aschinger“ eine Erbsensuppe löffelte.
Peter ergänzt noch, dass eine Etage unter den Schnitträumen eines der Büros des berühmten Anwalts Dr. Vogel logierte. „Ja“, sage ich, „obwohl er gehbehindert war, hat er jede Hilfe kategorisch abgelehnt, wenn man ihm anbot, einen seiner schweren Aktenkoffer die vielen Treppen hinunterzutragen.“ Einen Fahrstuhl gab es in dem fünf Stockwerke hohen Gebäude nicht.
Diese Kantine schloss damals am frühen Nachmittag und so liefen wir zum späteren Essen einfach 200 Meter weiter die frühere Wilhelm-Pieck-Straße in Richtung Rosa-Luxemburg-Platz zum ‚Café Burger‘. Eine private Gastwirtschaft mit kleiner deutscher Küche und Fassbier. Bei Kartoffelsalat und Wiener Würstchen tauschten wir uns über Fortschritte und Probleme unserer Filmarbeit aus. Thomas wollte in jeder Amtsstube des Bezirksamtes ein anders soziales bzw. bürokratisches Thema aufnehmen und fragte in die Runde, ob wir jemanden kennen würden, der Unterstützung für sein Kind beantragen wollte. Alleinstehende Mütter und sehr arme Familien bekamen dort finanzielle Hilfen, zum Beispiel für Kinderkleidung.
Da eine Freundin von mir solch ein Problem hatte, konnte ich helfen. Der Vater des Kindes war nach Nicaragua zurückgekehrt und sie war als Alleinverdienerin stets knapp bei Kasse. Für die Einschulung ihrer Tochter wollte sie deshalb auf dem Sozialamt Geld für die Einschulung beantragen. Sie war mit Filmaufnahmen einverstanden und so dokumentiert die Szene im Film ‚Das Haus‘, dass in der DDR auch bedürftige junge Menschen existierten, die sich aus eigenem Einkommen keine Zuckertüte für ihren Erstklässler leisten konnten. Das ‚Café Burger‘ wurde nach der Wende von dem anarchistischen Dichter Bert Papenfuß übernommen. Ich war mit einer Mini-DV dabei, als die alte Wirtin bei der Übergabe Bert das Bierzapfen lehrte. Da floss sehr viel Schaum den Tresen hinunter. Papenfuß etablierte dort die ‚Russen Disko‘ mit Wladimir Kaminer. Aus dem bürgerlichen Café wurde ein europaweit bekanntes Szenelokal.
Filmthema Volkspolizei
Als wir im Gespräch zum zweiten Film „Externer Link: Volkspolizei“ über das Polizeirevier 14 in der Brunnenstraße kommen, den Thomas Heise mit Peter an der Kamera bei der SFD drehte, frage ich ihn, ob er die Vorgeschichte zu dem Projekt kenne. „Welche Vorgeschichte?“, fragt Peter, er kenne keine. Das hängt mit einer anderen Filmarbeit zusammen, die ich zum Thema Anti-Kriegs-Museum in der Parochialstraße realisierte. Dort, gleich neben dem Restaurant „Zur letzten Instanz“, stand vor 1933 das „Anti-Kriegs-Museum“ von Ernst Friedrich. Ein vehementer Kriegsgegner, der sich durch sein Buch „Krieg dem Kriege“ mit Fotos verstümmelter Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg die Nazis zum Feind machte. Nach Hitlers Machtergreifung musste Friedrich fliehen. Die SA verwüstete die Ausstellungsräume und richtete im Museum ein Sturmlokal ein.
Nach mühsamen Recherchen hatte ich noch Zeitzeugen zum Museum und dessen Betreiber Ernst Friedrich gefunden. Während der Dreharbeiten in den Überresten der Parochialstraße wurde unser Team durch die Volkspolizei verhaftet. Auf dem Polizeipräsidium in der Keibelstraße kam der Vorwurf „Illegale Aufnahmen von einer Polizeikaserne“. Was wir nicht wussten: Die Baracken hinter der Parochialstraße gehörten zu einem Polizeirevier. Trotz aller Beteuerungen, dass die Filmaufnahmen genehmigt worden waren, dauerte es mehrere Stunden, bis wir durch Kommunikation mit dem Leiter des Filmarchivs und dem Polizeikommandanten freigelassen wurden. Einen solch langen Aufenthalt auf einem Polizeirevier hatte ich noch nie erlebt.
Einige Zeit später entschuldigte sich das Polizeipräsidium beim Leiter des Filmarchivs. Als Kompensation würden sie ein Filmteam als Gast in einem Polizeirevier begrüßen. Natürlich hätte ich die Einladung gern persönlich angenommen, war aber zu diesem Zeitpunkt intensiv mit den Dreharbeiten zu einer Dokumentation über schlesische Flüchtlinge beschäftigt.
Szenenbild aus dem 60-minütigen Dokumentarfilm "Volkspolizei" von Thomas Heise, der im Mai 1985 auf dem Ostberliner VP-Revier 14 in der Berliner Brunnenstraße entstand. Die Polizisten vermuteten im Regisseur zunächst einen Beauftragten des DDR-Ministeriums des Inneren, so dass Heise zunächst problemlos Einblicke gewährt wurden. Nachdem der Schwindel aufflog, wurde das Filmmaterial konfisziert.
"Wie geht ein Staat mit seinen Bürgern um?"
„Weißt du“, setzt Peter unser Gespräch fort, „Thomas Heise hat immer interessiert: Wie geht ein Staat mit seinen Bürgern um? Es war ein elementares Thema für ihn, weil es ein vermintes Feld ist. Der Staat kann ja nicht jeden Wunsch eines Bürgers erfüllen. Es muss Regeln geben und demzufolge Mitarbeiter, die die Wünsche erfüllen oder die, wenn das nicht vorgesehen ist, auf das Reglement pochen. Dieser Widerspruch zwischen Staat und Bürger hat ihn regelrecht umgetrieben. Filmisch wollte er immer genau an dieser Schnittstelle der Gesellschaft die Kamera aufbauen. Das Polizeirevier war natürlich so ein idealer Ort – so eine Schnittstelle zwischen Bürger und staatlicher Gewalt. Lustig war, wenn wir in einem VP-Auto
In der DDR konnten wir unsere Filme nur in kleineren Kreisen vorführen. Das Fernsehen war absolut tabu. Thomas Heise zum Beispiel in der Akademie der Künste, und der Kuczynski-Film lief in der Akademie der Wissenschaften. Es war auch technisch eine Herausforderung, denn die Filme mussten zweistreifig vorgeführt werden, also Bild- und Tonspur liefen auf separaten Filmstreifen synchron. Dafür gab es nur ganz wenige Projektoren und man musste schon betteln, dass ein Vorführer sich dieser Aufgabe annahm. Als man zu Beginn des Jahres 1986 eine Abnahme aller Filme durchführte, die 1985 fertiggestellt worden sind, haben die Filme „Volkspolizei“ und „Umsiedler 1945“ wesentlich dazu beigetragen, dass man die SFD zum Ende des Jahres auflöste. Unsere Filme passten einfach nicht mehr in die „heile Welt“ des Realsozialismus. Nicht auszudenken, welche Filmdokumentationen noch bis zum Mauerfall hätten entstehen können.
Posthum folgt Heises letzter Film "Übergang"
Thomas Heise ist während der Dreharbeiten zu seinem dritten Film zum Thema „Heimat“ gestorben. Den ersten Teil nennt er „Vaterland“ (2002), den zweiten „Heimat ist ein Raum aus Zeit“ (2019), der dritte den Titel „Übergang“. Peter Badel wird mit Mitarbeitern von Thomas Heise den Film posthum fertigstellen. Heise hat die staatlich ausgerufene Militarisierung der Gesellschaft als einen Einbruch in die bisherige Heimatvorstellung betrachtet. Kann man sie schon am Verhalten der Menschen erkennen? Der S-Bahnhof Schönhauser Allee ist eine Brücke, ein Verkehrsknotenpunkt von U-, S- und Straßenbahn. Ein Übergang von einem Verkehrsmittel zum anderen als Sinnbild von Transformation gesellschaftlicher Prozesse. Besonders wichtig war Peter, noch zu betonen, dass Thomas Heise das Töten hasste. Er spürte den Übergang von einer Zeit des Friedens nach dem Ende des Kalten Krieges in eine Zeit der Militarisierung. Geschichte sei wie der Kosmos – alles ist im Übergang.
Am Grab der Regisseurin Petra Tschörner auf dem Friedhof Neuer St. Marien - St. Nikolai. Die in Potsdam aufgewachsene und ausgebildete Dokumentarfilmregisseurin starb bereits 2012. (© bpb / Holger Kulick)
Am Grab der Regisseurin Petra Tschörner auf dem Friedhof Neuer St. Marien - St. Nikolai. Die in Potsdam aufgewachsene und ausgebildete Dokumentarfilmregisseurin starb bereits 2012. (© bpb / Holger Kulick)
Das Schreiben dieses Nachrufes wäre unvollständig, würde ich nicht auch der Freunde gedenken, die mich ebenfalls in diesem verflixten Schaltjahr (ich bin nicht abergläubig!) für immer verlassen haben. Mit der Todesnachricht von Thomas Heise kam gleichzeitig die von Paul Stutenbäumer, den viele Filmemacher als äußerst hilfsbereiten Filmpionier aus dem alten Westberlin kennen. Mein Freund René Dommermuth wurde Mitte Juli, kurze Zeit nach dem Tod meiner Mutter leblos in seiner Wohnung gefunden. Ohne ihn würde hätte ich die Studienbibliothek und meine Schweizer Freunde wahrscheinlich gar nicht kennengelernt haben.
So überraschend wie Thomas Heise starb Jens Stubenrauch ‒ ebenfalls völlig unerwartet, am 8. Oktober 2024 mit 63 Jahren. "Er hat vielen Filmemacher*innen ermöglicht, der deutsch-deutschen Wirklichkeit kostbare Dokumentarfilmstoffe zu entreißen und sie auf die große Leinwand zu bringen", würdigt ihn Annekatrin Hendel in einem Nachruf und formuliert wunderbar: "Wir verlieren einen Partner, Komplizen, Vertrauten, Gefährten, Mittäter und einen Freund".
Zitierweise: Thomas Grimm, „Alles ist im Übergang“, in: Deutschlandarchiv 28.11.2024, www.bpb.de/556968. Alle Beiträge im Deutschland Archiv sind Recherchen und Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar und dienen als Mosaikstein zur Erschließung von Zeitgeschichte. (hk)
Ergänzend:
bpb-Mediathek:
Matthias Dell,
Der Film Externer Link: "Volkspolizei" von Thomas Heise aus dem Jahr 1985 auf youtube.
Thomas Heise über
Weitere Nachrufe:
Auf dem Berliner Friedhof Neuer St. Marien - St. Nikolai im Herbst 2024. (© bpb / Holger Kulick)