Die große Kraft der Revolution. Kirche im Wandel seit 1990.
Ein Essay des Theologen und DDR-Bürgerrechtlers Ehrhart Neubert, der am 17. November 2024 im Alter von 84 Jahren verstarb.
Ehrhart Neubert
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Die gewaltlose Revolution vor 35 Jahren in der DDR war weitgehend eine evangelische. Denn der Kommunismus als "wissenschaftliche Weltanschaung" konnte die Kraft der Kirchen nie besiegen. Dennoch fiel nach dem Mauersturz 1989 die Vereinigung der Kirchen aus Ost und West nicht leicht. Reflexionen des Theologen und ehemaligen DDR-Bürgerrechtlers Ehrhart Neubert, der am 17. November 2024 in Limlingerode im Südharz starb. Acht Tage zuvor war Neubert noch als Posaunist bei der Gedenkfeier an den Mauersturz 1989 beteiligt, in Anwesenheit des Bundespräsidenten. Ein erfülltes Leben, das er denkanstoßreich ausfüllte. Nachfolgend sein Essay, den er 2022 für das Deutschlandarchiv verfasste. Es lohnt, ihn wiederzulesen.
Mehr als drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung bieten die Kirchen in Ostdeutschland ein weithin verändertes Bild. Evangelische Landeskirchen wurden zusammengelegt, teilweise auch mit westlichen. Vor allem aber sind seitdem die Kirchen in ein verlässliches Verfassungs- und Staatskirchenrecht eingebettet und können ungehindert öffentlich agieren. Die Kirchenmitglieder genießen endlich die neuen Freiheiten und ihr religiöses und soziales Engagement bedarf keiner Rechtfertigung. Aber die lange Zeit der DDR hat tiefe Spuren im Kirchenkörper eingegraben. Die weitgehend säkularisierte ostdeutsche Gesellschaft hat sich von den Kirchen entfernt. Deswegen lässt sich die gegenwärtige geistige und strukturelle Lage der Kirchen nur verstehen, wenn die Nachwirkungen aus ihrer Geschichte in der DDR mitbedacht werden.
1. Die Folgen der Kirchenpolitik der SED: Kampf gegen die Religion
Das Phantasma der kommunistischen »wissenschaftlichen Weltanschauung« mit der Vision der Überwindung aller Widersprüche konnte nie verwirklicht werden und wurde daher als gesellschaftliches Trugbild inszeniert. Der zwangsweise vereinheitlichten Gesellschaft mussten geistig kulturelle Traditionen eingepasst und die Individuen zum »richtigen Bewusstsein« veranlasst werden. Eines der wichtigsten Handlungsfelder dieser fortlaufenden Konstruktionen war die Auseinandersetzung mit der Religion und ihren konkreten sozialen Gestalten, den Kirchen. Die »Überwindung der Religion« erschien als Sieg des Kommunismus und seiner »wissenschaftlichen Weltanschauung«.
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So war die Entkirchlichung in der DDR ein gezielt herbeigeführtes Ergebnis der staatlichen kommunistischen Religionspolitik. Ein Element war die administrative Bekämpfung der kirchlichen Arbeit. Diese entwickelte sich von offenen Restriktionen in den 1950er Jahren bis hin zur späteren systematischen gesellschaftlichen Ausgrenzung der Christen.
Daneben spielte die marxistisch-leninistische »Aufklärung« ihre Rolle, die sich als Nötigung zur Konversion in eine »politische Religion« mit ihren Heils- und Glücksversprechen gestaltete. Dazu gehörte die -quasireligiöse Ritualisierung des öffentlichen Lebens, die mit der Verdrängung und Diskreditierung religiösen Wissens verbunden war. Die kompensatorische Religionsbekämpfung wirkte nachhaltig, allerdings gelang die Nachbildung kirchlicher Riten, die soziale Bedeutung erlangten, nur mit der Jugendweihe, die die protestantische Konfirmation weithin verdrängte und damit große Teile der jüngeren Generation von den Kirchen trennte.
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Diesem Dauerdruck ausgesetzt verloren die Kirchen in der DDR insgesamt etwa zwei Drittel ihrer Mitglieder. Ein unbestimmter Anteil des Schwundes rührte auch aus der Flucht von aktiven Christen in den Westen her. Und es spielten natürlich auch andere Faktoren eine Rolle, zum Beispiel wirkten noch ältere Stränge der Entkirchlichung und die äußere und innere Schwächung der Kirchen in der NS-Zeit nach.
Es erhebt sich die Frage, warum die von der Diktatur induzierte Entkirchlichung und die daraus resultierende Konfessionslosigkeit in der DDR so nachhaltig waren und bis heute sind, obwohl die allermeisten Konfessionslosen die marxistische Ideologie nicht als Deutungsmuster des sozialen und kulturellen Lebens verinnerlicht und noch weniger in die Alltagskultur aufgenommen hatten.
Die Bindung an die areligiöse Gegenwelt zur traditionellen Religion erwuchs aus dem Ineinander des Zurückweichens vor dem politisch-ideologischen Druck und dem Angebot, am »Sieg der Vernunft« teilzuhaben. Daraus entstand noch kein sozialistischer Glaube mit dem »richtigen Bewusstsein« über die ewigen Wahrheiten der kommunistischen Lehre, wohl aber führte die resignative Haltung gegenüber den ideellen Ansprüchen dazu, die Herrschaftsverhältnisse als ewig gegeben hinzunehmen. Man arrangierte sich in überschaubaren Räumen, die kleine Vorteile versprachen. Aus der Religionsgeschichte kennen wir: »Ich überwinde deine Religion, weil ich deinen heiligen Baum folgenlos abschlagen kann. Und dann liefert er das Feuer, an dem wir uns gemeinsam wärmen.«
Selbstbehauptung und Rückzug
Mit der Minorisierung der Kirchen war ein altes Deutungsmuster kirchlichen Selbstverständnisses herausgefordert. Friedrich Schleiermacher hatte Anfang des 19. Jahrhundert den Begriff der Volkskirche geprägt. Damit beschreibt er eine Kirche, die in ihrem organisatorischen Gefüge und ihrer Arbeitsweise auf eine deutliche Mehrheit in einem Volk ausgerichtet ist. In der NS-Zeit hatte die kollaborierende Kirchenpartei »Deutsche Christen« aus der Volkskirche eine völkisch-nationalistische Kirche machen wollen. Dies lehnte die widerständige »Bekennenden Kirche« ab und erklärte in der »Barmer Theologischen Erklärung« aus dem Jahr 1934, dass der kirchliche Auftrag sich an »alles Volk« (These VI) richte. Das gilt auch, wenn sich große Teile des Volkes vom Christentum abwenden, was offensichtlich in der DDR geschehen war.
Trotz der erschwerten Bedingungen haben die kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und die verbliebenen Kirchenmitglieder die kirchliche Arbeit in großer Treue aufrechterhalten, auch wenn die DDR-Geheimpolizei Stasi intensiv bemüht war, kirchliche Kreise zu unterwandern und zu zersetzen. Die Strukturen der Volkskirche blieben erhalten, wo und wie es noch möglich war. So haben tausende Menschen trotz Benachteiligungen ihren Glauben gelebt. Für manche von ihnen war das eine stille Praxis der Selbstbehauptung. Es gab Akte des öffentlichen Widerstehens. Der bekannteste ist die Selbstverbrennung des Pfarrers Oskar Brüsewitz am 18. August 1976 in Zeitz. Er protestierte damit gegen die kommunistische Jugendpolitik. Dieses Ereignis hatte nachhaltige Wirkung, indem es die Selbstbehauptung vieler Christen in der DDR stützte und öffentlich sichtbar machte.
Mit den Dauerkonflikten waren die Kirchen auch theologisch herausgefordert, ihr Selbstverständnis im sozialistischen Staat zu definieren, zumal sich die DDR-Kirchen 1969 auf Druck des SED-Staates organisatorisch von der gesamtdeutschen Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) trennen mussten. Zu dieser nie endenden Debatte hier nur wenige Hinweise, die verdeutlichen, dass leitende Theologen nicht nur apologetisch, sondern häufig resignativ argumentierten und so den gesellschaftlichen Rückzug legitimierten.
Eine Linie lief über den Begriff »Kirche im Sozialismus«, der sich Anfang der 1970er Jahre herauskristallisierte. Er blieb umstritten, weil er einerseits eine bloße Ortsangabe bedeuten konnte, was aber auch banal war. Andererseits blieb er für alle möglichen Interpretationen weit geöffnet, da unausgesprochen blieb, welche Haltung die Kirche zum realen oder ideellen Sozialismus einnimmt, wie dieser Sozialismus in die Kirche hineinwirkt, ob mit der Formel eine Affinität zwischen Kirche und Sozialismus gemeint ist und was überhaupt Sozialismus bedeutet. Insofern bildete die verschwommene Formel »Kirche im Sozialismus« einen kirchenpolitischen Zustand ab, der den Rechtsmangel im Staat-Kirche-Verhältnis als ungeregeltes und letztlich den Staat nicht bindendes Aushandlungsverhältnis verdeckte.
In der Praxis wurde der Begriff auch für alles Mögliche benutzt und der SED-Staat hat das gern gesehen. Interessant ist, dass sich immer mehr prominente Theologen mit dem leisen Schwund der Legitimität der DDR ab 1988 von der Formel verabschiedeten. Kurz vor der Revolution mochte sie kaum jemand mehr benutzen.
Eine andere theologische Denkfigur war folgenreicher: die Auseinandersetzung mit dem Religionsbegriff selbst. In der marxistischen Ideologie ist Religion durchweg negativ besetzt. Religion ist nach Marx das »Opium des Volkes«, ein geronnenes Substrat der Klassenherrschaft. Deshalb war es nötig, die Sprache und die Kultur von allem Religiösen zu bereinigen.
Innerhalb der Theologie und angrenzender philosophischer und soziologischer Analysen war der Religionsbegriff seit dem 19. Jahrhundert etabliert. Als sich im 20. Jahrhundert Kirche und Theologie mit der früheren engen Verknüpfung von Staat und Kirche mitsamt der religiösen Überwölbung des Staates auseinandersetzen mussten, kam es zu einer folgenreichen Sprachpanne. Der deutschschweizerische Theologe Karl Barth, einer der Autoren der »Barmer Theologischen Erklärung«, hat den Kunstgriff unternommen, zwischen christlichem Glauben und Religion eine unüberwindbare Kluft zu installieren. Der wahre am offenbarten Christus orientierte Glaube hätte nichts mit Religion zu tun. Religion sei dem reinen Glauben gar abträglich und müsse ausgeschaltet werden.
Barth, der unter anderem zweifellos den neumystischen Mulm der Nazis als Religion im Blick hatte, hat auch durch seinen großen Einfluss in der DDR mit dieser Art Religionskritik ein Stichwort geliefert, das die Religionskritik der Kommunisten ein Stück weit legitimierte.
Der Ostberliner Bischof Albrecht Schönherr hat die von Dietrich Bonhoeffer aufgerufene »Mündigkeit« auf die von der SED beherrschten Gesellschaft bezogen. Er schrieb: »Eine Mehrheitskirche protestantischer Prägung begegnet unausweichlich, nämlich als staatstragende politische Überzeugung und Weltanschauung, dem Marxismus-Leninismus. Der Marxismus versteht sich, wenn man Bonhoeffers Nomenklatur anwenden will, als emphatische Mündigkeitserklärung der Welt durch sich selbst. In der Internationale heißt es: ›Uns hilft kein Gott, kein höheres Wesen …‹. Für diese Begegnung gilt:
1. Die Kirche hat weder Veranlassung noch das Recht, in Angst um ihre Existenz zu leben.
2. Auch die säkularisierte Welt ist keine Welt ohne Gott. Gerade der Gottlose, der Gott als Feind ernst nimmt, ist dem wirklichen Gott unter Umständen näher als ein selbstgenügsames Kirchenglied, das von Gott lediglich die Erfüllung seiner religiösen Bedürfnisse erwartet.«
Jetzt entstanden Kirchenmodelle, die die Zwangssäkularisierung positiv aufnahmen. Das Ende der Volkskirche sollte zu einer bekenntnistreuen Minderheitskirche führen, die den traditionellen religiösen Ballast abgeworfen hätte. Das führte zu eigentümlichen Situationen. Die Schädigung der Kirchen, von der Austreibung religiöser Bildung aus allen pädagogischen Systemen bis zum Verlust von historisch wertvollen Kirchen, konnte als gottgewollte Zurechtweisung verstanden werden. Zugleich führte es zu einer Überforderung von Gemeinden und Kirchenmitgliedern, die von Schönherr als selbstgenügsam abqualifiziert wurden. Eine Jugendweiheteilnahme, die ähnlich wie die Beteiligung an vorgeschriebenen Demonstrationen oder an den Scheinwahlen Teil der distanzierten Verhaltensstrategie war, wurde kirchlich mit der Verweigerung der Konfirmation sanktioniert. Das hat der Tradition der Konfirmation ebenso geschadet wie die Jugendweihe selbst.
Der Anteil der Kirchen an der Säkularisierung ist bis heute nicht aufgearbeitet. Als sich aber in den 1980er Jahren zeigte, dass die theologischen Versuche lediglich aus der Not eine Tugend machten, konnte sich auch ein wissenschaftlicher Religionsbegriff als unerlässliches analytisches Hilfsmittel wieder etablieren.
Gesellschaftsersatz
Insgesamt zeigte sich aber auch, dass trotz der schweren Verluste der Kirchen die Reichweite der SED-Kirchenpolitik begrenzt war. In einigen Teilbereichen wurden die Kirchen vom SED-Staat gebraucht. Seit den 1970er Jahren wollte die SED nach außen dokumentieren, dass sie Religionsfreiheit gewähre. Für den 500. Geburtstag Luthers wurden die Lutherstätten mit viel Westgeld saniert. Die Kirchen wurden auch zu Devisenbeschaffern. Sie vermittelten in den Westgeschäften der SED, etwa beim Gefangenenfreikauf und der Ausreiseablösung. Die SED profitierte von westlichen Hilfsleistungen für die DDR-Kirchen, etwa bei der Unterstützung der Diakonie oder der Fahrzeugbeschaffung. Auch durften neue Kirchen gebaut werden, wobei die DDR für den Einsatz von Ostfirmen häufig Westgeld kassierte.
Bedeutungsvoller aber wurde der von der SED vollkommen unerwünschte Umstand, dass die evangelischen Kirchen seit den 1970er Jahren trotz verdeckter repressiver Maßnahmen des SED-Staates zu einem zwar eingeschränkten, aber doch wirksamen kulturellen, sozialen und politischen Freiraum, zu einer Art Gesellschaftsersatz wurden.
Für die meisten Kirchenmitglieder waren die Kirchen vor allem Nische und Ort einer sicheren Gemeinschaft. Nun wurde es auch unruhig. Jugendliche Subkulturen, verbotene oder ausgegrenzte Künstler und sehr viele Schriftsteller bevölkerten häufig die Kirchen. Auch soziale Randgruppen, Schwule und Lesben, feministische Gruppen, Ausreiseantragsteller, Wehrdienstverweigerer und andere fanden in den kirchlichen Strukturen Unterschlupf. Diese Bewegungen waren auch in den Kirchen umstritten, konnten sich aber trotzdem in vielen Gemeinden beheimaten. Am erfolgreichsten war das von mehreren Pfarrern und Diakonen praktizierte Konzept der »Offenen Jugendarbeit«. Die daraus hervorgegangenen Gruppen konnten Tausende junge Erwachsene auch aus der nichtreligiösen Bevölkerung integrieren. Diese wurden zu einem Reservoir der Opposition.
Politisch brisant wurde diese gesellschaftliche Funktion der Kirchen, als sich in ihren Strukturen in den 1980er Jahren Hunderte sozialethisch argumentierende Gruppen bildeten. Aus ihnen wuchsen kräftige Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtsbewegungen, die über verschiedene Netzwerke eng verknüpft waren und sich stetig politisierten. Sie betrieben Öffentlichkeitsarbeit (Samisdat) und organisierten wirksame Aktionen und öffentliche Proteste. Damit wurden sie zu einer oppositionellen Kraft, die von der Staatsmacht trotz der intensiven Bemühungen des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) nicht mehr ausgeschaltet werden konnte.
Deren Verhältnis zu den Kirchen war trotz personeller und struktureller Verbindungen zwar spannungsgeladen, aber nicht mehr aufkündbar. Es zeigte sich, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR, trotz einer weitgehend stillgelegten Zivilgesellschaft, Menschen in und außerhalb der Kirchen zur Selbstbehauptung herausforderten. Das hatte immer auch einen politischen Aspekt, da die religiöse Identitätswahrung und die eigenständige zivile Aktion das kommunistische Phantasma zerbröseln ließen.
Doch das war nur möglich, wenn ein sozialer Bewegungsraum mit Gelegenheiten zum Handeln vorhanden war. Den stellten Kirchen zur Verfügung, auch wenn es immer wieder Konflikte und Eindämmungsversuche vonseiten mancher Kirchenleitungen gab. Immerhin hatte der von den Kirchen und vielen Oppositionellen gemeinsam verantwortete »konziliare Prozess für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung« Ende 1988 und Anfang 1989 das gegenseitige Vertrauen gestärkt.
2. Kirchen in der Revolution und der Wiedervereinigung: Handelnde Kirche 1989
Seit dem Frühjahr 1989 spitzte sich die Krise der DDR zu, die Handlungsschwächen der SED zeichneten sich immer deutlicher ab. So reagierte die SED kaum, als im Mai die Opposition die umfänglichen Wahlfälschungen der letzten Kommunalwahlen aufdeckte, öffentlich machte und demonstrative Proteste organisierte. Das Dilemma der SED zeigte sich aber vor allem in der sich ausweitenden Massenflucht vieler meist junger Menschen. Die SED konnte die Probleme nicht mehr lösen, sie konzentrierte sich auf die Vorbereitungen der Jubelfeier zum 40. Jahrestag der DDR-Gründung am 7. Oktober.
Aus den Kirchen kamen kritische Anfragen an den SED-Staat. Aber noch waren die Kirchenleitungen um Stabilität bemüht. So rief die Konferenz der Kirchenleitungen im Juni 1989 zum Unterlassen von öffentlichen Demonstrationen auf. Doch diese Zurückhaltung wurde bald aufgegeben. Die Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen vom 15.-19. September 1989 in Eisenach nahm den Konflikt an und verschärfte die kirchliche Intervention, kritische Theologen und Laiensynodale gewannen die Oberhand. Am Rande der Synode wurden Papiere der inzwischen gegründeten neuen Oppositionsbewegungen und einiger Ost-CDU-Rebellen verteilt. Auch der Thüringer Landesbischof Werner Leich sprach sich offen für die nun außerhalb der Kirchen agierenden Oppositionsgruppen aus. Synodale verlangten den Boykott der Feierlichkeiten am 7. Oktober. Die Synode erklärte in ihrem Beschluss:
»Wir brauchen: ein allgemeines Problembewusstsein dafür, dass Reformen in unserem Land dringend notwendig sind, … verantwortliche pluralistische Medienpolitik; demokratische Parteienvielfalt; Reisefreiheit für alle Bürger; wirtschaftliche Reformen; verantwortlichen Umgang mit gesellschaftlichem und persönlichem Eigentum; Möglichkeit friedlicher Demonstrationen; ein Wahlverfahren, das die Auswahl zwischen Programmen und Personen ermöglicht.«
Damit waren die Kirchen Teil der damals noch nicht absehbaren demokratischen Revolution geworden und konnten schließlich in ihr eine hervorgehobene Rolle spielen. Auf drei Handlungsebenen zeigte sich, dass keine andere gesellschaftliche Größe diese Aufgaben übernehmen konnte.
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Erstens stellten Kirchen in den ersten Wochen der Revolution mit den Friedensgebeten öffentliche Räume zur Verfügung, in denen DDR-Bürgerinnen und Bürger ihre Sprachfähigkeit wiederfinden konnten. Schon in den Jahren zuvor hatten couragierte Gemeinden unabhängigen Gruppen solche Freiräume geschaffen, gesellschaftliches Nachdenken inspiriert und zu eigenständigem Handeln ermutigt. Außerdem wurde in demokratisch gewählten Kirchengremien Demokratie vorgelebt.
Auch übte die politische Spiritualität eine spürbare Faszination auf die Bevölkerung aus. Die für die meisten Oppositionellen und Kirchenleute vertraute Verknüpfung des Politischen mit dem Religiösen stellte für die nichtchristlichen Besucherinnen und Besucher einen Kontext her, der die enge Lebenswelt der DDR, die äußere und durch die gegenwärtigen Ängste auch innere Abschnürung in einen universalistischen Horizont öffnete. Zudem war diese politische Spiritualität sozialethisch aufgeladen und thematisierte die Gewaltlosigkeit. Das wurde angesichts der Gefahr eines gewaltsamen Eingreifens der SED-Sicherheitsorgane zu einer nicht gering zu schätzenden Quelle der Macht. So wie es ein bei einem Friedensgebet in Leipzig zitiertes Bibelwort ausdrückte: »Durch Geduld wird ein Fürst überredet, und eine linde Zunge zerbricht Knochen!«
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Mit der ihr zugewachsenen Moderationsrolle betraten Kirchen eine zweite Handlungsebene. Die Kirchenleitungen waren durch ihre dauerhaften Verhandlungen mit dem SED-Staat gut präpariert und konnten mit einem Minimalvertrauen der Staatsfunktionäre rechnen. Diese neue Rolle wurde möglich, weil die Kirchenleitungen durch die Opposition in eine neue Position gebracht und gedrängt wurden. Die Kirche wurde vom freundlichen Bittsteller zum freundlichen Mittler befördert.
Kirchenvertreter und -vertreterinnen vermittelten seit September 1989 in kritischen Lagen auf Demonstrationen und Großversammlungen, um die Konfrontation gewaltlos zu halten. Vielerorts moderierten sie die Prozesse des Übergangs zur Demokratie an den Runden Tischen. Die Protestanten brachten entsprechende Erfahrungen mit, da demokratische Verfahren stets ihre inneren Strukturen ausgemacht hatten.
Der Zentrale Runde Tisch in Berlin wurde von der Kontaktgruppe der Opposition vorbereitet. Im Auftrag dieser Gruppe sprach der Theologiedozent Wolfgang Ullmann mit Bischof Gottfried Forck über die moderierende Beteiligung der Kirchen. Als Tagungsort wurde das Dietrich-Bonhoeffer-Haus in Berlin vorgeschlagen, wo der Runde Tisch am 7. Dezember erstmals zusammentrat. Die Kirchenleitungen beteiligten an der Moderation auch die Freikirchen und die katholische Kirche.
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Ein dritter Bereich kirchlicher Präsenz war die Akteursebene. Aus Kirchen rekrutierte sich anfänglich weithin das Personal der Revolution. Theologen und Theologinnen, kirchliche Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sowie befähigte Laien, die oft auch die sich formierenden Oppositionsparteien und Bürgerbewegungen gründeten, hatten wichtige Positionen inne. Ihr Einfluss hatte mentale, geistige und praktische Facetten. Es war ihre sozialethische Prägung, vielfach ihre spezifischen Repressionserfahrungen und nicht zuletzt ihr Ringen, die eigene Identität zu bewahren, die sie in ihr politisches Handeln einbrachten.
Dies wirkte bis in die lokalen und regionalen Runden Tische und beeinflusste auch die Zusammensetzung der ersten frei gewählten Regierung unter Lothar de Maizière. Die Koalition, der er vorstand, wurde auch möglich, weil unter den neuen Politikern viele evangelische Theologen und kirchlich verbundene Laien waren, die über die Parteigrenzen hinweg eine gemeinsame Sprache finden konnten. Allein in der Regierung bekleideten vier Pfarrer – Hans-Werner Ebeling (DSU), Gottfried Müller (CDU), Markus Meckel (SPD), Rainer Eppelmann (DA) – Ministerämter. Hinzu kamen Inhaber von kirchlichen Synodal- und Laienämtern, wie de Maizière, Regine Hildebrandt (SPD) und Walter Romberg (SPD). Auch in der Volkskammer waren neben vielen kirchlichen Mitarbeitern zwölf Theologen. Kirchenleute hatten dort wichtige Funktionen, wie der Theologe und Philosoph Richard Schröder, der Fraktionschef der SPD wurde, oder Synodalpräsident Reinhard Höppner (SPD), der Vizepräsident der Volkskammer wurde. Sie gehörten nicht alle zur Opposition der 1980er Jahre, waren aber ohne Ausnahme mit dem konziliaren Prozess für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung vertraut.
In Ostdeutschland bildete sich 1989/90 in Ansätzen eine neue protestantische politische Klasse aus, die über Jahre die politische Kultur der Bundesrepublik um eine wichtige Facette bereichern sollte. Manche bekleideten höchste deutsche Staatsämter, wie ein Mecklenburger Pfarrer und eine evangelische Pfarrerstochter aus Mecklenburg. Sie waren Kinder der protestantischen Revolution.
Der französische politische Philosoph Alfred Grosser spricht von einer »doppelten Identität« der evangelischen Kirchen in der DDR. Sie hätte mit der Formel »Kirche im Sozialismus« das Missverständnis gefördert, dass »der SED-Staat den Sozialismus verkörperte«. Andererseits wäre die gewaltlose Revolution »weitgehend eine evangelische« gewesen.
Das Undenkbare: Wiedervereinigung
Als die Macht der SED im Zuge der Revolution zerfiel, begannen die Kirchen umgehend die neuen Freiheiten zu nutzen. Sie streiften die staatlichen Kontrollen ab und besetzten ihre Plätze in der Öffentlichkeit, den Medien, der Kultur und im Sozialwesen. Aber so sehr sich die Kirchen für die Freiheit eingesetzt hatten, so groß waren für viele Kirchenleute auch die Schwierigkeiten, mit der Wiedervereinigung umzugehen. In ihrem immerfort beschleunigten Gang überholte – man könnte auch sagen überrollte – die Revolution den erratischen Ideenblock, der sich in der Kirche und der ihr nahestehenden Opposition aufgebaut hatte.
Die Existenz der DDR war nicht nur hingenommen, sondern nicht selten ins Positive gewendet worden. Die Beseitigung dieses Staates war für viele undenkbar geworden. Denkbar waren seine Reformierung und irgendwie auch eine Erneuerung und Verbesserung des Sozialismus. Gemäß protestantischer Weltdeutung war die deutsche Teilung für viele mit dem Diktum der deutschen Schuld verknüpft. Jahrzehnte trugen Protestanten mit tiefem Ernst ihren Gemeinden vor, dass die Mauer als eine Art Bußleistung hingenommen werden müsse. Noch im Februar 1990 hieß es in einem Beschluss der Synode: »Für entscheidend halten wir die Erkenntnis, dass die Spaltung Deutschlands Folge deutscher Kriegsschuld war.«
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Deshalb könne die Vereinigung nur mit den Nachbarländern betrieben werden. Kirchenamtlich wurden nur wenige Hallelujas gesungen. Und der Aufruf, am Tag der Wiedervereinigung die Glocken läuten zu lassen, wurde scharf kritisiert. So waren am 3. Oktober 1990 in vielen Orten keine Glocken zu hören.
Jetzt kam auch wieder zum Vorschein, dass selbst die protestantischen Revolutionäre jene Defizite nicht ausgleichen konnten, die der mitteldeutsche Protestantismus in seiner Haltung zur modernen Demokratie im 20. Jahrhundert insgesamt aufzuweisen hatte. Die sozialethische Orientierung und der mit ihr verbundene Utopismus begünstigten eine Fremdheit gegenüber der neuen demokratischen Welt, die sie gerade mitgeschaffen hatte. Manche kirchlichen Oppositionellen glaubten, mit ihren ersten politischen Erfolgen im Herbst 1989 ihren Utopien nähergekommen zu sein. Mit Entsetzen sahen sie dann, als die gelähmte Gesellschaft wieder laufen lernte, dass »das Volk« seine eigenen Interessen verfolgte, die sich keinesfalls mit einer Utopie eines irgendwie reformierten oder liberalisierten Sozialismus in Übereinstimmung bringen ließen. Im Juni 1990 formulierte eine Arbeitsgruppe der Kirchenleitung: »Das Scheitern der sozialistischen Gesellschaft in der DDR sollte nicht vorschnell als der Untergang sozialistischer Ideen gedeutet werden …«
Gewarnt wurde auch vor dem negativen »Konsummaterialismus« und den Gefahren des kommenden Pluralismus. Das erschwerte die Beheimatung in der realen Welt, in der neben der Freiheit auch die Nation und der erstrebte Wohlstand eine Rolle spielten.
Vereinigung der Kirchen
Der institutionelle Einigungsprozess zwischen dem durch die SED 1969 erzwungenen »Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR (BEK)« und der »Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD)« verlief nicht reibungslos, war insgesamt aber erfolgreich. Die Vereinigung wurde im Juni 1991 auf einer gesamtdeutschen EKD-Synode in Coburg besiegelt. Die kirchlichen Dokumente dieser Vereinigung, angefangen mit der »Erklärung von Loccum« im Januar 1990, zeigen die Schwierigkeiten. Ostdeutsche Kirchenvertreter erhoben teils heftigen Widerspruch. Sie befürchteten, dass die Erfahrungen der Kirchen in der DDR übergangen würden. Wie in der Debatte um die staatliche Vereinigung klagten Ostdeutsche, dass es sich lediglich um eine Vereinnahmung und einen Anschluss handele. Es wurde bemängelt, dass sich die EKD in diesem Prozess nicht veränderte oder erneuerte.
In diesen Diskussionen wurde sichtbar, dass die sozialethisch aufgeladene Kritik der neuen demokratischen Rechtsordnung so manchen ostdeutschen Kirchenmenschen die Segnungen der staatskirchenrechtlichen Möglichkeiten übersehen ließ.
Das tiefe Misstrauen gegenüber dem DDR-Staat wurde auf die neue Bundesrepublik übertragen. So wehrten sich viele gegen den staatlichen Einzug der Kirchensteuer und die Einführung des Religionsunterrichtes als ordentliches Schulfach. Besonders aber wurde der Militärseelsorgevertrag abgelehnt. Hier erzwangen die Ostdeutschen eine Sonderregelung, die noch bis 2003 galt. Die puristische Selbstbegrenzung wurde aber allein schon durch die anhaltende finanzielle Abhängigkeit der Ostkirchen von den Interner Link: Westkirchen ausgebremst.
Aufarbeitung ohne Schuldbekenntnis
Zu den Nachwehen der Revolution gehörte der Aufarbeitungsprozess, der in den Kirchen begann. Innerhalb der Opposition gab es trotz aller politischer Differenzen einen breiten Konsens der Akteure, dass die Herrschaftsweise der SED und insbesondere deren Geheimdienst, das MfS, untersucht und aufgeklärt werden müsse. Kirchliche Oppositionelle gehörten zu den besonders vom politischen Geheimdienst überwachten und verfolgten Personen und Gruppen. Sie waren an der Erstürmung der MfS-Zentralen und der Sicherung der Akten beteiligt gewesen und hatten auch am Runden Tisch die endgültige Auflösung des MfS betrieben.
Den ersten großen Stasi-Skandal gab es kurz vor den freien Wahlen am 18. März 1990, als sich herausstellte, dass der Vorsitzende des Demokratischen Aufbruchs, der Rechtsanwalt Wolfgang Schnur, ein inoffizieller Mitarbeiter (IM) des MfS war. Schnur hatte jahrelang hohe kirchliche Laienämter innegehabt und trat als Anwalt von verfolgten Oppositionellen und Kirchenleuten auf.
Seit dem Frühjahr 1990 verbreiteten sich viele Gerüchte über inoffizielle MfS-Mitarbeiter auch in den Kirchen. Noch aber gab es keine rechtlichen Regelungen für die Öffnung der Akten und für die Überprüfung der Stasimitarbeiter. Die Volkskammer konnte nur sehr spät ein Gesetz vorlegen, das zur Grundlage des vom Bundestag 1992 beschlossenen Stasiunterlagengesetzes wurde. Nur wenige Arbeitsgruppen konnten MfS-Akten direkt einsehen. So veröffentlichte meist zuerst die Presse Enthüllungen, die in Kirche und Gesellschaft oft als schockierend empfunden wurden.
Kirchenleitungen haben sich umgehend und energisch gegen diese Aufklärung gewehrt. Sie fürchteten um ihren gerade in der Revolution erworbenen guten Ruf. Und sie sahen sich in ihrer Rolle als Verhandlungspartner mit dem SED-Staat verkannt. Sie wiesen jegliche Vorwürfe schuldhafter Verstrickung zurück.
In diese Situation platzte eine Veröffentlichung, die zahlreiche Akten des MfS über die Bearbeitung und Unterwanderung der Kirchen dokumentierte. Gerhard Besier und Stephan Wolf beschrieben das ganze Ausmaß der Unterwanderung der Kirchen. Danach wirkten in ihnen Hunderte IM, vom Küster bis in die Ebene der Bischöfe. Da die Autoren auch von einer »Kumpanei« der Kirchenleitungen mit der SED sprachen und ein Schuldbekenntnis verlangten, entstand eine erbitterte Auseinandersetzung. Die Emotionen in den Kirchen konnten kaum widersprüchlicher sein. Die einen verlangten unbedingte, der Wahrheit verpflichtete Aufklärung. Die anderen meinten, dass solche Forderungen als ein erneuter antichristlicher Angriff verstanden werden müssen.
In einem Aufruf zum Bußtag 1990, der vom Landeskirchenrat und vom Landesjugendkonvent in Thüringen ausging, hieß es »Wehrt der Lüge und dem Terror«. Auch von »Hexenjagd« war die Rede. An anderer Stelle wurde von den »teuflischen« Aktivitäten des MfS gesprochen, die nicht durch solcherart Aufklärung fortgesetzt werden dürften.
In den Kirchen jedoch wuchs der Druck, die Aufarbeitung voranzutreiben. Es meldeten sich Theologen, ehemalige Oppositionelle und engagierte Laien öffentlich zu Wort und gründeten Arbeitsgruppen zur Aufarbeitung. Die Initiative Recht und Versöhnung veranstaltete am 20. November 1992 in der Gethsemanekirche in Berlin eine »Geschichtswerkstatt«. In einem Vorbereitungspapier wurde faktisch ein Schuldbekenntnis gefordert:
»Wir beklagen, dass die Kirchen, denen in der Vergangenheit im besonderen Maße Vertrauen entgegengebracht wurde, bei der Aufarbeitung zögern. Wir fühlen uns mitverantwortlich. Wir schämen uns, dass viele in den offiziellen Leitungsgremien und Synoden nicht genügend Offenheit und Mut haben, Fehler einzugestehen und Schuld zu bekennen und sich sogar von manchen distanzieren, die sich dieser Aufgabe konkret stellen – mit all den darin liegenden Problemen und Irrtümern.«
Die Debatte wurde von einer Flut von Veröffentlichungen begleitet, die MfS-Akten im größeren Umfang dokumentierten. Es dauerte nur wenige Jahre bis sich rechtsförmige Verfahren weithin durchsetzten. Nach der Regelung umfassender Überprüfungen durch die Synoden wurden dienstrechtliche Verfahren in Gang gesetzt. Allein die Evangelisch-Lutherische Kirche in Thüringen ließ knapp 800 Theologen und Kirchenbeamte überprüfen. Davon wurden 20 als belastete IM eingestuft. Gegen acht wurden Disziplinarverfahren eingeleitet, die mit zwei Entlassungen und fünf Verurteilungen endeten. Manche IM konnten nicht verurteilt werden, weil sie sich eiligst aus dem Dienst der Kirchen entfernt hatten oder ihre Akten nicht mehr aufgefunden wurden. In diesen Jahren wurde schließlich keine gesellschaftliche Gruppe im Osten so gründlich durchleuchtet wie die Kirchen. Auch die geistige und theologische Verarbeitung dieses Prozesses war vorbildhaft.
Die Debatte hatte eine enorme gesellschaftliche und politische Relevanz. Sie prägte den mental bedingten Ost-West-Diskurs, der – je nach gängigem Vorurteil – die Ostdeutschen als ewige Opfer oder Täter ausmachte. Ablesbar war das auch an dem politischen Streit um den ehemaligen Konsistorialpräsidenten der Berlin-Brandenburgischen Kirche Manfred Stolpe, der 1990 zum Ministerpräsidenten des Landes Brandenburg gewählt worden war. Er hatte das MfS als konspirative Verhandlungsebene akzeptiert und war dort als IM »Sekretär« registriert. Die Bewertung Stolpes führte zu heftigen innerkirchlichen Auseinandersetzungen. Die Kirchenleitungen stellten sich nahezu vollständig hinter Stolpe, während die Kritiker Stolpes in der Regel aus den Reihen der früheren Opposition kamen. Die konkrete Aufarbeitung in Kirche und Gesellschaft, die sich mit Transformationsprozessen auf allen strukturellen und ideellen Ebenen befasste, war somit zu einem zusätzlichen Stressfaktor geworden.
3. Stabilisierung und Probleme: Bestandsaufnahme und Konsolidierung
Die ostdeutschen Kirchen mussten mit der Eingliederung in die EKD eine umfassende Bestandsaufnahme vornehmen. Die Minorisierung lenkte den Blick auf die konfessionslose Bevölkerungsmehrheit.
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Die Hoffnung mancher Kirchenleute, dass sich die DDR-Bürgerinnen und -Bürger mit der gewonnenen Freiheit wieder stärker den Kirchen zuwenden würden, wurde rasch enttäuscht. Die während der Revolution bei Friedensgebeten und Informationsveranstaltungen gefüllten Kirchen leerten sich wieder. Der Mitgliederrückgang der Kirchen, in denen nur noch ein gutes Viertel der Bevölkerung registriert waren, konnte nicht wieder ausgeglichen werden.
Daraufhin entwickelte sich eine theologische und religionssoziologische Forschung an kirchlichen und universitären Einrichtungen, die die Ursachen und Folgen der ostdeutschen Konfessionslosigkeit zum Gegenstand hatte. Auch wurde nach neuen Ansätzen einer Kommunikation zwischen Kirchen und Konfessionslosen gefragt. Um die ostdeutsche Konfessionslosigkeit zu verstehen, wurden auch die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland untersucht. Dabei stellte sich heraus, dass die westdeutsche Konfessionslosigkeit als Ausdruck von Autonomie und gesellschaftlicher Emanzipation zu verstehen war, während sie im Osten als »Weg des geringsten Widerstandes gegenüber einer Macht, die der Autonomie ein Ende bereiten wollte«, erschien.
Von hohem Wert für das Verständnis der Konfessionslosigkeit in Ost und West sind die mit mehreren Jahren Abstand von der EKD verantworteten Mitgliedschaftsuntersuchungen, die seit 1992 auch die Konfessionslosen einbeziehen. Die umfangreichen Erhebungen bilden die Entwicklung von Haltungen und Einstellungen der Kirchenmitglieder und der Konfessionslosen in Ostdeutschland seit 1990 ab. Diese Untersuchungen geben auch Hinweise für die Kommunikation zwischen Konfessionslosen und Kirchenmitgliedern innerhalb der kirchlichen Arbeit.
Nachdem seit 1990 im Osten die Anpassung kirchlicher Strukturen an das bundesdeutsche Staatskirchenrecht vollzogen wurde, konsolidierten sich die Kirchen als anerkannte Körperschaften öffentlichen Rechts. Jetzt entstanden Arbeitsbereiche, die vorher verschlossen waren. Die Achtung kirchlichen Eigentums, die neue staatskirchenrechtliche Sicherheit, die ungehinderte Öffentlichkeitsarbeit, die Ausweitung diakonischer Aktivitäten, die Einführung des Religionsunterrichts, die Interner Link: Gründung konfessioneller Schulen und vieles andere mehr erleichterten die Arbeit der Kirchen.
Eigene Zweige der kirchlichen Ausbildungseinrichtungen konnten aufgegeben werden, da die politisch-ideologische Selektion der Auszubildenden, die im staatlichen Bildungswesen der DDR üblich war, endlich wegfiel. Schulen und Universitäten waren nun allen Christen den allgemeinen Bedingungen entsprechend zugängig.
Bald aber gab es neue Probleme, da der rasche Wandel den kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zunehmend mental zusetzte. Für viele Seelsorger entstanden schwierige Situationen, da ihre Gemeinden vom wirtschaftlichen Umbau mit hoher Arbeitslosigkeit oder beruflicher Umorientierung betroffen waren. Zudem waren die kirchlichen Strukturen in der DDR-Zeit kaum verändert worden. Die Westkirchen hatten zu DDR-Zeiten auch defizitäre Bereiche großzügig finanziell gestützt. Jetzt mussten diese den geschrumpften Mitgliederzahlen, dem Bevölkerungsschwund vor allem in ländlichen Bereichen und den neuen Besoldungsstrukturen angepasst werden. Unter anderem wurden zahlreiche Pfarrstellen gestrichen.
Aber es gab auch Hoffnungsvolles. Der Religionsunterricht wurde von vielen Konfessionslosen angenommen. Die Erwachsenentaufen nahmen zu und Kircheneintritte gab es auch, konfessionelle Schulen wurden gegründet. Aber insgesamt wurde deutlich, dass sich radikale Traditionsbrüche, Bildungsdefizite und der Verlust der religiösen Sprache nicht kompensieren ließen.
Zu einer Erfolgsgeschichte wurde die Bewahrung der kirchlichen Architekturdenkmale, vor allem der Kirchenbauten. Zu DDR-Zeiten verfielen Hunderte Kirchen, viele waren 1989 kaum noch nutzbar. Abgesehen von einigen Vorzeigekirchen war die historische, wertvolle Bausubstanz insgesamt stark gefährdet. Seit 1990 wurden unzählige Kirchen gerettet, saniert und restauriert. Es gab vielfältige staatliche Förderungen und privat finanzierte Bauprogramme. Die ostdeutschen Kirchen waren sich bewusst, dass es sich nicht nur um ein partikulares Baugeschehen handelte. Vielmehr erkannten viele, dass nach der kommunistischen Verwüstung der Sakralbauten Osteuropas kulturelle und geistige Fundamente neu gelegt werden müssten.
Der sächsische Landesbischof Volker Kreß sagte 1995: »Auf einem vielsprachigen Kontinent wie dem europäischen bedarf es einer inneren Gemeinsamkeit, und diese innere Gemeinsamkeit ist unsere christliche Tradition, zu der die Kirchen als ein wunderbarer äußerer Ausdruck gehören. Um die Wiederbelebung unserer Tradition gerade in unserem östlichen Teil zu ringen, ist das tägliche Brot harter kirchlicher Arbeit.« Zu DDR-Zeiten hatten viele kleine Kirchengemeinden ihre Kirche gepflegt und trotz großer materiellen Schwierigkeiten um deren Erhalt gerungen. Dieses Engagement setzte sich nun fort. Neu war, dass sich auch Teile der nichtkirchlichen Bevölkerung für den Erhalt der Kirchen engagierten.
Mitgliedschaft
Im Jahr 2019 gab es in Ostdeutschland etwa zwei Millionen Protestanten. Das Gebiet der ehemaligen DDR hat etwa 13 Millionen Einwohner. Einschließlich der Ostdeutschen leben in ganz Deutschland 21 Millionen Evangelische unter insgesamt 82 Millionen Einwohnern. »In Westdeutschland stehen knapp 25 Prozent Konfessionslose 33 Prozent Evangelischen gegenüber, während die Anteile in Ostdeutschland bei fast 75 Prozent Konfessionslosen und 19 Prozent Evangelischen liegen.«
Alle Landeskirchen sind vom Schwund der Mitgliederzahlen betroffen. Ein wesentlicher Grund sind die Kirchenaustritte, wobei in Ostdeutschland prozentual wesentlich weniger Austritte als im Westen zu verzeichnen sind und junge ostdeutsche Kirchenmitglieder im Gegensatz zu westdeutschen kaum Neigungen zum Kirchenaustritt zeigen.
Der Schwund ist vor allem durch die demografische Entwicklung bedingt, er resultiert aber auch aus dem Verhalten jüngerer Menschen, die ihre Kinder nicht taufen lassen und nicht mehr selbst zu den die Mitgliedschaft konstituierenden Sakramenten greifen.
Zusätzlich kam es Anfang der 1990er Jahre im Osten zu einer Kirchenaustrittswelle. Allerdings traten viele aus den Kirchen aus, die dort in keiner Kartei erfasst worden waren. Ein Grund waren die gerade eingeführte und auch für erfahrene Kirchenmitglieder ungewohnte Kirchensteuer. In der DDR war die »Kirchensteuer« lediglich eine Spende nach einer Selbsteinschätzung des Verdienstes. Aber wahrscheinlicher ist es, dass sich hier auch das mentale Erbe der DDR-Bürgerinnen und -Bürger bemerkbar machte. Die Kirche erschien diesen wie die neue Macht, die auf das Portemonnaie zugriff, wie einst die SED den angeblich freiwilligen »Soli« (Solidaritätsabgabe) automatisch vom Lohn abzog.
Ein Grund für die Mitgliederstagnation war auch die bis in die Kirchengemeinden äußerst folgenreiche Abwanderung gerade junger Menschen in die alten Bundesländer. Und schließlich machte sich auch die Schwäche der Zivilgesellschaft bemerkbar. Die DDR-Bürgerinnen und -Bürger waren zur Mitgliedschaft in mehreren Massenorganisationen genötigt worden. Diese Mitgliedschaften wurden nach 1990 weithin abgestreift. Die neuen oder verbliebenen Großorganisationen, wie auch die Gewerkschaften, hatten es anfangs ebenfalls schwer, Mitglieder zu gewinnen.
Einen spürbaren Zuwachs erhielten die ostdeutschen Kirchen durch Zuzüge aus dem Westen. In den Aufbaujahren kamen zahlreiche meist hochgebildete Westdeutsche aus den Ober- und Mittelschichten als Aufbauhelfer in den Osten, die sich in der Politik, den Verwaltungen, der Wissenschaft und der Wirtschaft etablierten. Sie besiedelten bevorzugt die urbanen Zentren und Speckgürtel der sich erfolgreich ¬entwickelnden Städte.
Diese Zugewanderten fanden sich in einer mentalen Fremde wieder und konnten Vertrautes und Bekanntes zumeist nur in den Kirchengemeinden erleben. Hier rückten sie alsbald an wichtige Stellen in den Gemeinden, wurden in die Gemeindekirchenräte gewählt, waren als Fachleute gefragt und bestimmten kirchliche Arbeitsfelder. Ein vergleichbares intellektuelles Potenzial konnte aus den Ostgemeinden kaum rekrutiert werden, da die Christen aus den Eliten gezielt ausgegrenzt worden waren (Lehrer, Richter, Mediziner, Militärangehörige und andere). Daraus resultierten aber auch innerkirchliche und -gemeindliche Spannungen und Konflikte. Das »Wessi-Ossi«-Syndrom infizierte auch diesen Bereich. Nach über 30 Jahren sind diese Phänomene weithin abgemildert.
Volkskirche?
Die leitenden Bischöfe der EKD haben bis heute stetig den Anspruch erneuert, dass sich die evangelischen Kirchen als Volkskirchen verstehen müssten. Trotz der Stabilisierung der kirchlichen Arbeit im Osten konnte insgesamt die traditionelle Struktur der Kirchen als »Volkskirche« nicht wiederbelebt werden. Idee und Praxis waren schon durch den Nationalsozialismus pervertiert worden. In der DDR wurde sie durch die Religions- und Kirchenpolitik der SED erneut nachhaltig beschädigt, weiter minimiert und kirchlicherseits auch theologisch delegitimiert.
Allerdings gibt es auch regionale Ausnahmen. Während in vielen Regionen und vor allem in den Ballungsräumen die Kirchenmitgliedschaft auf wenige Prozent reduziert ist, gibt es Orte und Regionen mit einem hohen Anteil an Kirchenmitgliedern aller Generationen und einem blühenden kirchlichen Leben. Hier sind volkskirchliche Elemente bis heute wirksam.
Auch kommt solchen Kirchengemeinden eine soziale und kulturelle Bedeutung zu, die über die Mitgliedschaftsgrenzen hinaus wirken. Die Abwanderung aus den Dörfern, die kommunalen und wirtschaftlichen Großstrukturen sowie der Rückzug vieler Dienstleister und Versorger lässt ein kommunikatives Vakuum zurück, das auch durch die digitale Vernetzung nicht ausgefüllt werden kann. In dieser Lage können die Kirchengemeinden mitsamt ihren Traditionsbeständen, ihren Verflechtungen mit Vereinen und kommunalen Entscheidungsträgern, ihren steinernen Artefakten, ihren Narrativen und rituellen Angeboten kulturelle und soziale Identitäten verwalten und stiften. Und diese Prozesse sind weiterhin in Gang.
Eine wesentliche Aufgabe, auch verbunden mit Chancen, ist die kirchliche Bildungsarbeit. Die Kirchen können mit dem Religionsunterricht, mit konfessionellen Schulen, verschiedenen Bildungswerken und öffentlichen medialen Möglichkeiten einen wichtigen Beitrag zur allgemeinen Bildung der Gesellschaft erbringen. Die starke Nachfrage von Konfessionslosen nach Plätzen in den konfessionellen Schulen und nach dem Religionsunterricht zeigt, dass es im Osten einen Nachholbedarf gibt.
Volks- und Traditionskirchen leben von dem Engagement und der Verbundenheit ihrer Mitglieder. Dies findet sich immer noch vielfach in Ostdeutschland. Die Kirchenverbundenheit junger Menschen ist stärker ausgeprägt als im Westen. Das kann auch eine Folge der Erfahrungen der Eltern sein, die mit ihren Entscheidungen die Beheimatung in der Kirche gelebt hatten.
Dass in den Kirchen und in ihren Beziehungen zu Staat und Gesellschaft das 40-jährige Erbe der DDR nachwirkt, steht außer Frage. Es wirkt auch in der ostdeutschen Gesellschaft fort. Viele Haltungen, Verhaltensweisen und Mentalitäten aus der entstrukturierten Gesellschaft haben den Epochenwechsel 1990 überlebt. Geblieben ist auch die Jugendweihe. Sie hat allerdings ihren Sinn als DDR-Bürgerschaftsweihe eingebüßt. Nun weiht sie nur noch die Pubertierenden in die Großfamilie der Unterhaltungskonsumenten ein.
Unter den in zweiter und dritter Generation konfessionslos lebenden Menschen hat sich eine stabile Abwehr gegen alles Religiöse festgesetzt. Populistische Islamkritik findet dort ihre Anhänger. Pegida, »Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes«, Rechtsextreme, schüren die Angst vor dem religiösen Pluralismus. Dafür mobilisiert die Bewegung alt-neue Mythen, wie die Reinheit der Nation. Diese Anleihen bei politischen Religionen zeigen, dass sich ein religiöses Vakuum mit allem Möglichen auffüllen kann, auch mit religiösen Versatzstücken.
Die ehemaligen DDR-Bürgerinnen und -Bürger sind einem neuen Säkularisierungsdruck ausgesetzt. Trotz aller mentalen, retardierenden Sedimente entkommt die ostdeutsche Gesellschaft den sozialen Modernisierungen nicht. Die Restbestände kultureller und sozialer Milieus werden enttraditionalisiert und die Individualisierung mit der Nötigung zu riskanten Entscheidungen ist Alltag geworden.
'Auch die Kirchen sind dieser Entwicklung ausgesetzt. Eine kirchliche Mitgliedschaft hängt von individuellen Entscheidungen und Optionen ab und muss sich in die mobile Lebensplanung einfügen lassen. Traditionelle Sozialisationsmuster und Kirchlichkeitsrollen können dem entgegenstehen. Damit wirkt für viele Menschen die Lösung von den kirchlichen Standards als Erleichterung. Kirchen reagieren mit modernisierten Angeboten, die ein situationsgerechtes, kurz- und mittelfristiges Engagement und die Beteiligung an einzelnen »Events« offenbar annehmbarer machen als eine langfristige Bindung.
Aber die Kirchen befinden sich auch auf einem religiösen Markt. Dort stehen massenhaft sinngebende und sinnstiftende Angebote zur Verfügung. Esoterisch verzauberte Konsumgüter finden sich hier genauso wie metaphysisch aufgeladene Handlungsfelder, die zu betreten Opfer erfordern, wie auch Heil versprechen. Amulette, Steine, Sterne, Engel und Hexen, Yoga und New Age sowie viele andere okkulte Fragmente erfreuen sich reger Nachfrage. Sie werden inzwischen als außerkirchliche Religiosität wahrgenommen. Umstritten ist, ob diese ein Hinweis darauf sind, dass im Zuge der Säkularisierung lediglich die traditionelle Kirchlichkeit von anderen religiösen Phänomenen beerbt und abgelöst wird. Oder, das scheint einleuchtender zu sein, dass die außerkirchliche Religiosität ein Accessoire der Individualisierung ist, das die Säkularisierung nicht tangiert.
Die Möglichkeit, dass sich im konfessionslosen Feld weitere Phänomene der außerkirchlichen Religiosität, auch solche aus dem kirchlichen Bereich, ansiedeln und der religiöse Pluralismus weitere Neuheiten implantiert, ist nicht ausgeschlossen. Der Umstand, dass Konfessionslose zum Islam konvertieren, zeigt, dass die Säkularisierung keine Einbahnstraße ist.
Die Kirchen haben es mit Konkurrenten zu tun, im Osten noch mehr als im Westen. Im Osten werden viele aus den kirchlichen Traditionen abgeleitete und inzwischen kommerzialisierte Rituale für alle Lebenslagen angeboten. Dazu gehören Bestattungen mit und ohne Vaterunser, je nach Bestellung und Geschmack. Die Prognosen sehen einen weiteren Rückgang der Mitgliederzahlen der Kirchen voraus. Doch sollten in Religionsfragen soziologische Deterministen vorsichtig sein.
Religion, nicht zuletzt die christliche, trägt Spontanität und Kreativität in sich. Innerhalb der Kirchen werden Reform- und Kommunikationskonzepte entwickelt, die den neuen religiösen Pluralismus ernst nehmen und die kirchliche Arbeit öffnen wollen. Interessant ist, dass unter diesen Aspekten auch die ostdeutschen Kirchen neu in den Blick geraten.
Der bis 2023 amtierende ehemaliger Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, Heinrich Bedford-Strohm, hat einmal ausgeführt: »Schon jetzt ist deutlich, wie sehr uns die Erfahrungen der Gemeinden im Osten in ganz Deutschland weiterhelfen können. Mich jedenfalls inspiriert es immer wieder, wie stark das Bewusstsein für die Bedeutung der Kirchen auch in Regionen mit Kirchenmitgliedschaftszahlen von 10 oder 15 Prozent lebt. ›Ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar‹ – dieser Satz aus dem Psalm 23 gewinnt hier eine ganz neue Bedeutung. Ungezählte Menschen – viele von ihnen nicht formell Mitglieder der Kirche – engagieren sich für die Kirche im Dorf, für den Erhalt der Orgel, für die Sicherung der Friedhofsmauern und so weiter. Sie spüren, dass ihr Dorf eine Seele braucht, will es seine Identität nicht verlieren. Und deswegen engagieren sie sich dafür, dass die Kirche erhalten bleibt. Die Kirchen werden auf eine neue Weise zur Seele eines Dorfes oder einer Stadt, ganz ähnlich wie bei der Kathedrale Notre Dame.«
Kaum planbar und oft unerwartet wirkt Religion in Kirche und Gesellschaft. Das haben gerade die ostdeutschen Kirchen vor über drei Jahrzehnten Jahren erlebt und gelebt. Ihre Zukunft steht mindestens in den Sternen. Dabei sind die gesellschaftlichen Herausforderungen groß genug.
Zitierweise: Ehrhart Neubert, „Die große Kraft der Revolution. Kirche im Wandel seit 1990“, in: Deutschlandarchiv 21.11.2024, www.bpb.de/556708. Erstveröffentlichung in: Ilko-Sascha Kowalczuk, Frank Ebert, Holger Kulick; (Ost)Deutschlands Weg Teil I in der bpb-Schriftenreihe Band 10676 Band II, Bonn 2022, S. 549. Alle Beiträge im Deutschlandarchiv sind Recherchen und Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar und dienen als Mosaikstein zur Erschließung von Zeitgeschichte. (hk)
Geboren am 2. August 1940 Herschdorf (Thüringen), aufgewachsen in Großenbehringen und Sonneberg. Nach dem Abitur 1958 Studium der Theologie in Jena; anschließend Vikar und Pfarrer; Teilnahme an verschiedenen informellen Zirkeln, die - beeinflusst durch Robert Havemann - philosophische und soziologische Themen bearbeiteten; 1976-1984 CDU-Mitglied in der DDR; seit 1979 Mitarbeiter in Friedenskreisen, daraus resultierten Konflikte mit staatlichen und kirchlichen Instanzen. Seit 1984 Referent für Gemeindesoziologie beim Bund der Evangelischen Kirchen in Ost-Berlin; zahlreiche soziologische Studien zur Sozialstruktur und zu sozialethischen Fragen, u.a. die erste soziologische Interpretation der oppositionellen Gruppen der 80er Jahre.
Bereits vor der Friedlichen Revolution publizierte er unter dem Namen "Christian Joachim" auch in der Bundesrepublik. 1989 Mitglied des Initiativkreises zur Gründung des Demokratischen Aufbruch (DA), maßgeblich beteiligt an der Ausarbeitung des Parteiprogramms, Dezember 1989 - Januar 1990 stellvertretender Vorsitzender und Vertreter des DA am Zentralen Runden Tisch; Januar 1990 verließ er den DA, weil sich dieser immer mehr konservativ ausrichtete. Mitarbeiter in verschiedenen Untersuchungskommissionen; nach dem Parteiaustritt 1990 wieder im kirchlichen Dienst. Außerdem Mitarbeit in verschiedenen informellen Gruppen, u.a. Komitee Freies Baltikum, Initiative Recht und Versöhnung und von 1992-1994 für die Fraktion Bündnis 90 im "Stolpe-Untersuchungsausschuss" des Brandenburger Landtags; 1996 trat er der CDU bei; seit 1997 Mitarbeiter der Abteilung Bildung und Forschung beim ehemaligen Bundesbeauftragten für die Unterlagen des MfS der ehemaligen DDR (BStU); Verfasser einer umfangreichen Geschichte der DDR-Opposition von 1949 - 1989 und Begründer des „Bürgerbüro Berlin e. V.“ unter dem Dach von Versöhnungsgemeinde und Stiftung Berliner Mauer an der Bernauer Straße. (Quelle: www.chronikderwende.de).
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