Manchmal gibt schon die Entstehungsgeschichte von Denkmälern zu denken. Als Höhepunkt nationaler Erinnerungskultur sollte das Denkmal „Bürger in Bewegung“ vor dem Berliner Humboldt-Forum – der Replik des Berliner Schlosses, einem eher kontraproduktiven Beitrag zum kollektiven Gedächtnis – im Jahr 2013 eingeweiht werden. Das bewegliche Monument, für das sich rasch der Name „Einheits-Wippe“ fand, ist vom Unglück verfolgt, dazu gehören politischer Unwille, ein grotesker Streit unter den Baubeteiligten, Sicherheitsbedenken und fehlendes Geld. Baubeginn war schließlich, nachdem auch das Weihedatum 2018 verstrichen war, im Jahr 2020. Aber ob das Memorial, das an die friedliche Revolution der DDR 1989 erinnern soll und das von Anfang an Kritik aus unterschiedlichen Lagern auf sich zog, jemals wippend Bürger bewegen wird, steht derzeit in den Sternen.
Deutsche Erinnerungskultur: Rituale, Tendenzen, Defizite
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Was kann Erinnerungskultur leisten, wenn sich in einer Gesellschaft immer weniger daran erinnern möchten, was einmal war und welche Folgen es hatte? Wie kann von Museen, Gedenkstätten, Denk- und Mahnmälern Geschichtsvermittlung ausgehen als unabdingbare Voraussetzung, um auch in Zukunft gewappnet zu sein, alte Fehler nicht zu wiederholen? Ein Denkanstoß des Holocaustforschers Wolfgang Benz (83).
Jahrelanger Stillstand ist bei Denkmalprojekten nicht ungewöhnlich. 2012 wurde nach langen Querelen verschiedener Art das Denkmal für die unter NS-Ideologie verfolgten Sinti und Roma nördlich des Reichstagsgebäude in Berlin dem Publikum geöffnet. Seit Anfang 2020 ist die Anlage durch die geplante Trassenführung einer S-Bahnlinie ernsthaft bedroht.
Die Nachkommen der Opfer, denen das Mahnmal gewidmet ist, empfinden die Planung als emotionale Katastrophe. Der Sinn einer Erinnerungsgeste, die Frieden stiften soll, steht freilich nicht nur bei den Nachkommen der Verfolgten infrage, wenn nach der feierlichen Widmung abgeholzt, demoliert und schließlich neu errichtet wird. Solche Beliebigkeit desavouiert die gute Absicht der Zeichensetzung und macht die Erinnerungskultur in monumentaler Pose fragwürdig.
Ein weiteres Beispiel: Der Vorschlag des Bundestages aus dem Oktober 2020, ein „Polendenkmal“ in Berlin zu errichten
Was wenige wussten, als der Streit tobte: Ein Polendenkmal gibt es längst in Berlin. Es steht seit 1972 im Volkspark Friedrichshain und zeigt eine Betonsäule, umschlungen von einer wehenden Bronzefahne mit einem Relief, das einen Rotarmisten, einen polnischen Soldaten und einen deutschen antifaschistischen Widerstandskämpfer darstellt. Auch die sowjetischen Ehrenmale und Heldenfriedhöfe auf dem Territorium der einstigen DDR haben mit der Wende keineswegs ihren Sinn verloren.
Hinzugekommen sind Gedenkstätten wie das Stasi-Gefängnis in Berlin-Hohenschönhausen, ähnliche Errichtungen in Cottbus und Bautzen und die Dokumentationszentren in Potsdam, die in der Lindenstraße an das diktatorische Regime der DDR und in der Leistikowstraße an die Willkür des sowjetischen Geheimdienstes erinnern. Die didaktischen Konzepte mancher Erinnerungsstätten sind umstritten, soweit sie mit schwarzer Pädagogik Emotionen des Abscheus stimulieren. Umgekehrt kultivieren zahlreiche DDR-Museen Nostalgie und präsentieren die Alltagsidylle einer untergegangenen Lebenswelt.
Wachsende Herausforderung: Die Erinnerung an das NS-Regime und seine Verbrechen
Eigentlicher Gegenstand der Erinnerungskultur und bleibende Herausforderung im wachsenden Abstand zu den Ereignissen bleibt die nationalsozialistische Herrschaft im „Dritten Reich“. Der Blick auf die Szene des Erinnerns aus der Distanz von mehr als drei Jahrzehnten zeigt, dass die Sorge unberechtigt war, nach der die deutsche Vereinigung das Ende des Gedenkens an die Zeit des Nationalsozialismus und seiner Folgen bedeuten würde. Tatsächlich erblühte die Erinnerungskultur in einer Weise, die nach der verdrossenen „Vergangenheitsbewältigung“ im Westen und dem selbstgerecht zur Schau getragenen Antifaschismus im Osten nicht denkbar schien.
Ist für die Nachgeborenen der dritten oder vierten Generation das Erinnern an die nationalsozialistische Diktatur und das Gedenken an die Opfer im Abstand vieler Jahrzehnte noch sinnvoll oder gar notwendig? Es gibt viele Gründe dafür. Geschichte ist niemals nur Vergangenheit, denn sie wirkt auf vielfache Weise fort. Alles, was einmal geschah, kann sich wiederholen. Auch die Katastrophe des Nationalsozialismus, die in den Zweiten Weltkrieg führte, Völkermorde verursachte und im Zweiten Weltkrieg etwa 55 Millionen Menschenleben forderte.
Der Versuch rechter Populisten und Extremisten, Parolen der Ausgrenzung, die einst in die Katastrophe führten, als neue Ideen zu verkaufen, und die Tendenz, die Geschichte zu verharmlosen oder umzudeuten und damit fortwirkendes Leid zu ignorieren – auch das ist ein Argument für das Erinnern.
Essentiell: Aufklärung und Fakten
Die weltoffene demokratische Gesellschaft lebt aus den Lehren der Vergangenheit. Dazu bedarf es der Aufklärung über Fakten und der Empathie für die Opfer. Dazu dienen symbolische Zeichen im öffentlichen Raum und authentische Orte als Gedenkstätten und Möglichkeiten des Lernens. Die Idee der Menschenrechte hat erst spät Eingang in Gesetze und Konstitutionen gefunden. Umso mehr wurden und werden sie missachtet - in der nationalsozialistischen Zeit durch Diskriminierung und Entrechtung von Bürgerinnen und Bürgern, Ausplünderung okkupierter Territorien, den Völkermord an Juden, Sinti und Roma, die Versklavung der Bewohnerinnen und Bewohner eroberter Gebiete in Osteuropa.
Daran zu erinnern bedeutet, dass die unveränderlichen und unveräußerlichen Rechte unantastbar sind – Rechte, die jedes Individuum aufgrund seines Menschseins hat, unabhängig von seinem Verhalten, seinem Charakter und Temperament, und zwar als autonome Person in der Gesellschaft gegenüber dem Staat. Menschenrechte konstituieren den Frieden in der Gesellschaft durch gesetzliche Vereinbarung.
Der beunruhigende Wiederanstieg gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit
Jenseits verfassungsrechtlicher Verabredung stehen individuelle und kollektive Emotionen und Verhaltensweisen, für die in den Sozialwissenschaften der neue Begriff „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ geprägt wurde. Das schließt alle Verhaltensweisen gegenüber ethnischen, sozialen, kulturellen Minderheiten ein, die aus Ressentiments entstanden sind und tendenziell in Gewalt münden. Die Ressentiments können aus religiösen Gründen (Islamfeindlichkeit), aus rassistischen Vorbehalten (gegenüber Sinti und Roma, Afrikanern oder Asiaten), aus beiden Wurzeln (wie die Judenfeindschaft) und ebenso aus politischen, sozialen und kulturellen Vorurteilen erwachsen (wie die Vorurteile gegen Ausländer, Schwule und Lesben oder beliebig definierte Feinde wie „Fremde“ oder „Andere“).
Die nationalsozialistische Ideologie konstruierte Feindbilder gegen Andersdenkende und unerwünschte Gruppen – Bolschewisten, Juden, slawische „Untermenschen“, religiöse Minderheiten wie Jehovas Zeugen oder Menschen bestimmter sexueller Orientierung und andere –, Feindbilder, die mit Demagogie und Gewalt durchgesetzt wurden. Die Nachwirkungen sind noch spürbar und werden durch rechtsradikale „Populisten“, die Erinnerung verweigern, neu angeheizt.
Die Protagonisten der Verweigerung in der AfD etwa legen Wert auf einen bürgerlichen Habitus, sie wollen sich nicht als „rechtsextrem“ definieren lassen. Die Lehren aus der Katastrophe des Nationalsozialismus aber gelten für den Umgang mit allen Menschen. „Fremde“ dürfen nicht als Störenfriede spießbürgerlichen Behagens und dumpfpatriotischen Selbstgenügens stigmatisiert werden. Brennende Wohnheime von Asylbewerberinnen und -bewerbern, grölende und gegen verängstigte Geflüchtete pöbelnde Dorfbewohner, jubelnde Fremdenfeinde, die Feuerwehrleute am Löschen einer brennenden Flüchtlingsunterkunft hindern wollen, Hetzjagden gegen „Fremde“ sind Zeichen einer Menschenfeindlichkeit, die unsere Demokratie in den Grundfesten erschüttert.
Überfremdungsängste, wurzelnd in der Furcht vor als „anders“, „fremd“ und damit als unverträglich mit dem Eigenen und als bedrohlich definierter Wahrnehmung, sind sozialpsychologisch erklärbar, sie haben eine lange Tradition mit wechselnden Objekten der Abneigung und Ausgrenzung. Die Stereotypen in der Wahrnehmung von Minderheiten dienen der Selbstvergewisserung der Mehrheit und der Festschreibung des niedrigen sozialen Status der jeweiligen Minorität. Das darin gestaute Konfliktpotenzial bedeutet für das Zusammenleben der Menschen in einer komplexen Gesellschaft eine latente Bedrohung. Erinnerungskultur ist deshalb notwendig, weil sie nationalsozialistische Herrschaft als Lehrstück begreift für die Folgen, wenn Unsichere, Verängstigte, Ratlose sich um Populisten scharen, die nicht an Problemlösungen, sondern nur an der Macht interessiert sind.
"Gegen Aufwiegler hilft nur Vernunft"
Gegen Aufwiegler, die jenseits der Realität agieren, hilft nur Vernunft. Notwendig ist Aufklärung mit dem Ziel, Einsicht in schwierige Zusammenhänge zu gewinnen, um rational mit Problemen umzugehen, auf Vernunft und Logik gegründete Politik zu treiben und zu verstehen. Das ist immerwährendes Gebot des Zusammenlebens in einer pluralen Gesellschaft, die auf Menschenrechten und Gleichberechtigung basiert.
Aufklärung ist eine Haltung, kein schnell wirkendes Wundermittel. Gegen den Krakeel Ratloser, Verführter, habituell Unzufriedener, die Erinnerung an historische Fehlentwicklungen, an belastete Vergangenheit und moralische Schuld verweigern, die sich von Verführern gängeln lassen, hilft keine einmalige Anstrengung, kein „Aufstand der Anständigen“, kein Ruck, keine Aufwallung, sondern nur stetige und alltägliche Aufklärung als demokratisches Prinzip. Das ist mühsam, aber erfolgreich. Vernunft muss jeden Tag aufs Neue durchgesetzt werden. Die Erinnerung an die Katastrophen der deutschen Geschichte ist dazu unumgänglich. Das ist der Sinn unserer Erinnerungskultur.
Das wurde drastisch vor Augen geführt, als ein prominenter Vertreter der Partei „Alternative für Deutschland“ gegen die Erinnerungskultur pöbelte, gegen das Denkmal, das in Berlin an den Judenmord erinnert. Gegen „diese dämliche Bewältigungspolitik“ müsse eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ vollzogen werden.
Für Rechtsextreme ein "Denkmal der Schande", das Holocaust-Memorial nahe dem Brandenburger Tor in Berlin. Wie eine sichtbar bleibende Narbe im Stadtraum soll es an die Vernichtung der Juden im Nationlasozialismus erinnern. (© bpb / Holger Kulick)
Das deutsche Volk, verkündete der AfD-Mann unter dem Jubel moralisch Anspruchsloser, befinde sich im „Gemütszustand eines total besiegten Volkes“, es sei das „einzige Volk der Welt, das sich ein Denkmal der Schande in das Herz seiner Hauptstadt gepflanzt“ habe. In der Schule werde deutsche Geschichte auf die zwölf Jahre des Nationalsozialismus reduziert und alles Übrige „mies und lächerlich gemacht“. Der Mann, Björn Höcke, der solches phantasiert, müsste es besser wissen, denn er war Studienrat für Geschichte, ehe es ihn in die Niederungen rechtsextremer Demagogie verschlug, ehe er als Frontmann spießbürgerlicher Verweigerung Karriere machte.
Lehren aus der Geschichte brauchen aktuelle Bezüge
Seit mehr als sieben Jahrzehnten, seit dem Untergang des NS-Regimes, wird von Unbelehrbaren das Gleiche verzapft: Zuerst von abgehalfterten Nazis, die sich in Neonaziparteien zusammenschlossen, dann im ersten Bundestag saßen, schließlich verboten wurden, um in den 1960er-Jahren in der NPD Auferstehung zu feiern. Die „Alternative für Deutschland“ hat inzwischen der NPD das Wasser abgegraben, aber nicht nur der Radikale aus Thüringen, der den völkisch-rassistischen Flügel der Partei repräsentiert, benutzt die gleichen Argumente, mit denen die NPD 1964 an den Start ging.
Im wachsenden Abstand zu Ereignissen wie der Vertreibung und Ermordung der deutschen Jüdinnen und Juden stellt sich die Frage, an was und wie erinnert wird, wofür die historischen Fakten als Exempel dienen und was für nachwachsende Generationen aus der Geschichte der NS-Zeit zu lernen ist. Acht Jahrzehnte nach dem „Dritten Reich“ genügt die Beschreibung des Unrechtsregimes nicht. Lehren aus der Geschichte müssen aktuellen Bezug haben, sonst wird Erinnern zum selbstgenügsamen Ritual. Den Judenmord zu betrauern, ohne des Völkermords an Sinti und Roma und deren andauernder Diskriminierung zu gedenken, vertut die Chance, die Wirkung von Ressentiments und Feindbildern zu verstehen. Historische Katastrophen wie der Holocaust, die Okkupation von Ländern im Namen einer Herrenmenschengesinnung, die Verfolgung und Vernichtung von Menschen aufgrund ihrer Herkunft, Religion oder Kultur müssen verstanden werden als Folge von Ideologien, die immer noch wirkmächtig sind.
Fremdenfeindschaft und Rassismus richten sich heute gegen neue Opfer, denn Geschichte kann sich wiederholen, aber nie auf identische Weise. Der Alltagsrassismus und die Fremdenfeindschaft unserer Tage, die aktuelle Diskriminierung anderer Minderheiten als im „Dritten Reich“ ist heute genauso ernst zu nehmen wie im Rückblick auf das historische Unrecht. Es geht immer um die Menschenrechte – derzeit von Geflüchteten, besonders Muslimen – die ohne Einschränkung zu achten sind, wenn eine Gesellschaft beansprucht, demokratisch zu sein.
Die deutsche Erinnerungskultur steht vor aktuellen politischen Herausforderungen. Wenn wir der sechs Millionen ermordeter Jüdinnen und Juden gedenken, dann müssen wir auch diese Lehre aus der Geschichte ziehen: Wenn Geflüchtete, die heute bei uns Hilfe begehren, abgewiesen werden sollen oder mit Hass beobachtet werden, weil wir lieber unter uns bleiben möchten, weil wir sie als gefährliche Fremde sehen wollen und unsere Ruhe in der Festung Europa haben möchten – wenn wir so reagieren, dann haben wir nichts gelernt, sondern belügen uns scheinheilig mit dem frommen Lippenbekenntnis, dass sich die Barbarei nicht wiederholen dürfe.
Historische Leistung bei der Integration von Geflüchteten
Der historische Augenblick, der uns ein Stück vom Odium des Barbarentums nimmt, war der, als den Hilfsbedürftigen und Schutzsuchenden an Deutschlands Grenzen die Arme geöffnet wurden. Dass die Aufnahme Probleme schaffen würde, dass es schwierig sein würde, stand fest. Dass es zu schaffen ist, haben wir aus der Geschichte gelernt, durch zwölf Millionen Heimatvertriebene, die Deutschland im ersten Nachkriegsjahrzehnt nach 1945 integriert hat. Wir haben auch gelernt, dass es gut für uns war, vier Millionen DDR-Flüchtlinge in der Bundesrepublik aufzunehmen. Auch zwei Millionen Spätaussiedler aus Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion gehören zur Bilanz. Das sind historische Leistungen, auf die wir stolz sein dürfen.
Der Ruf nach dem Schlussstrich, neu intoniert von einem Radikalen, der die NS-Zeit mit einem Vogelschiss in der Geschichte verglich, der als Vordenker Gleichgesinnter agiert, hat keine Befreiung von historischen Altlasten, aber neue gesellschaftliche Probleme geschaffen, keine wirklich neuen Probleme freilich, sondern die alten, mit denen wir uns aber immer wieder aufs Neue auseinandersetzen müssen.
Die Methoden, die Erinnerung stimulieren, müssen zeitgemäß sein, damit sie Wirkung entfalten, Aufklärung setzt nicht auf emotionale Betroffenheit, sondern auf Einsicht und Erkenntnis. Das Erinnern und darauf gründendes Lernen und Verstehen bedarf der Sichtbarkeit, der Spurensuche und der Bewahrung durch Zeichen, manifeste Dokumente und Orte. Das kann vieles bedeuten: Spuren jüdischen Lebens sichern, Reste von Synagogen und Friedhöfen oder jüdische Behausungen und Unternehmen markieren, beschreiben und erläutern. Deportationsorte und Stätten des Naziterrors wie Gestapokeller, Gefängnisse, KZ und andere Lager kennzeichnen, Spuren der SED-Diktatur sichern, und – vor allem – erklären. Man muss es nur wollen.
Nahe Fürstenberg an der Havel. Hier stand einst eine Waffenfabrik der Nazis, in der weibliche KZ-Häftlinge aus Ravensbrück zwangsarbeiten mussten. Dann entstand daraus eine sowjetische Panzerwerkstatt. Heute, nachdem alle Gebäude abgetragen wurden, wächst ein alternativer Campingplatz auf den letzten Spuren dieser vielschichtigen Vergangenheit, an die aber kaum noch etwas erinnert. Auf diesen Schienen fuhren einst Munitionszüge direkt an die Produktionshallen von Panzergranaten heran.
An den historischen Orten gedenken wir nicht nur der Opfer, wir wollen dort auch Erkenntnisse gewinnen und Geschichte verstehen. Notwendig sind dazu zwei Momente: Der historische Ort, der haptische Überrest, steht für die Fakten. Diese wenden sich an den Verstand, fördern rationales Erkennen, bewirken Einsicht in Zusammenhänge, verweisen auf Ursachen und Voraussetzungen, auf Folgen und Wirkungen historischen Geschehens.
Das zweite Moment sind die Emotionen der Nachgeborenen. Sie anzurühren bedarf künstlerischer Zeichen. Dem konkreten Gedenkort, der mit musealen Möglichkeiten arbeitet, steht das Denkmal zur Seite, das mit abstrakten Mitteln die rationale Erkenntnis ästhetisch festigt und vertieft. Das können Stolpersteine leisten, die – ebenso wie Erinnerungstafeln am historischen Ort – die Vergangenheit in den gegenwärtigen Alltag rufen. Auf monumentale Weise bewirkt das Denkmal für die ermordeten Juden Europas die Erinnerung auf nationaler Ebene in der Mitte der Hauptstadt. Für Gedenkstätten, die dadurch charakterisiert sind, dass sie am authentischen Ort stehen, wie für Denkmale, die an beliebiger Stelle als abstrakte Erinnerungszeichen errichtet werden, gilt gleichermaßen, dass sie Erinnerungsarbeit unterstützen und damit Gedächtnis stiften. Rationalität und Emotionen wirken mit ästhetischen Mitteln zusammen und appellieren an den Verstand und die Empfindung Nachgeborener.
Emotionale Betroffenheit allein ist keine Erinnerungskultur
Gedenkstätten sind nicht in erster Linie Museen nationalsozialistischer Vergangenheit oder der Herrschaft der SED. Sie sind Orte der Erfahrung, der Erkenntnis und der Erinnerung an die Opfer, und dazu brauchen sie, über die pädagogischen Dienste hinaus, Zuwendung und Fürsorge durch engagierte Bürgerinnen und Bürger. Erinnerungskultur birgt auch Gefahren in sich: zum einen esoterisches Selbstgenügen, das in die Abstraktheit flieht und deshalb das große Publikum verfehlt, zum anderen politische und moralische Rhetorik, die sich in abgegriffenen Metaphern erschöpft, und zum dritten Kitsch, der nur Betroffenheit erzeugen will, Emotionen anrührt, aber ebenso wenig Aufklärung erzeugt wie die reine Kunstform und die moralische Beteuerung.
Beispiele sind die unkritische Glorifizierung von Sophie Scholl und Anne Frank oder das mediale Inanspruchnehmen der Jüdin Stella Goldschlag durch die Unterhaltungsbranche Kino, die vor Jahren auch einen kitschigen Film über den Frauenprotest in der Berliner Rosenstraße hervorgebracht hat. Beispiele für emotionale Betroffenheit anstelle rationaler Überzeugung finden sich auch in der Sprache der Politik, der Medien, des Alltags. Floskeln sind stets dort in Gebrauch, wo Kenntnis fehlt und Beteuerung die Überzeugung ersetzt.
Das inflationär deklamierte „Nie wieder!“, die Erfindung des Begriffs „Reichspogromnacht“, das neuerdings zwanghafte Gendern „Juden und Jüdinnen“, das für andere Opferkategorien wie Sinti und Roma oder „Artfremde“ oder „Zeugen Jehovas“ und so weiter nicht üblich ist. Das ist keine Anklage gegen den Wandel der Sprache, sondern ein Hinweis auf Gedankenlosigkeit im Umgang mit schwieriger Materie.
Wenn von einer „Wohlfühl-Erinnerungskultur“ die Rede ist (Jens Christian Wagner), gar von „Versöhnungstheater“ (Max Czollek), in dem willenlose Opfer beliebter sind als Widerstandleistende, in der die freudige Hinnahme von Diktatur durch allzu viele immer noch lieber beschwiegen wird, dann muss auch von Kitsch und Gefühlsduselei und von politischer Instrumentalisierung der Erinnerung gesprochen werden. Das junge Mädchen, das sich mit dem Schicksal der Anne Frank öffentlich identifizierte, weil es wegen der Pandemie nicht zur Geburtstagsfeier einladen durfte, ist ein Beispiel. Die Usurpation des 20. Juli durch die Dresdner Pegida-Protestierer, die „Widerstand“ skandieren und dabei eine Fahne schwenken, die einer der Verschwörer des 20. Juli auf seinem Notizblock skizzierte, ist ein anderes.
"Die Auseinandersetzung mit belasteter Geschichte bleibt Auftrag an künftige Generationen"
Ein Problem besteht im Begriff „Opfer“. Sind wir nicht in Gefahr, von den Tätern zu schweigen und diejenigen, um die es geht, als gesichtslose Objekte zu entindividualisieren? Und gibt es nicht Verfolgten-Gruppen, denen wir das Gedenken noch schuldig bleiben? Jehovas Zeugen zum Beispiel, jene religiöse Gruppe, die als einzige christliche Gemeinschaft geschlossen Widerstand geleistet und dafür KZ und Ermordung hingenommen hat. Der spät vorgetragene Wunsch der Zeugen Jehovas, auf der Berliner Erinnerungsmeile mit einem bescheidenen Denkzeichen vertreten zu sein, wurde lange Zeit hinhaltend und zögerlich von der Mehrheitsgesellschaft behandelt. Derzeit stehen der Realisierung nur noch die Bedenken der Denkmalschützer im Wege, die eine Beeinträchtigung der Sichtachse im Tiergarten befürchten. Denn die Skulptur soll sich auf einer Grundfläche von weniger als einem Quadratmeter vier Meter in die Höhe recken.
Dass auch „Berufsverbrecher“ und „Asoziale“ wegen erlittener Verfolgung (jenseits ihrer gesetzlich verwirkten Strafe) Anspruch auf einen Platz in der öffentlichen Erinnerung haben, wurde ihnen, ebenso wie den Sinti und Roma, lange Zeit verweigert. Demnächst wird, den Deserteuren der Wehrmacht folgend, die schon seit einiger Zeit akzeptiert sind, den „Asozialen“ und „Berufsverbrechern“ eine Ausstellung gewidmet, als erster Schritt, ihr Schicksal ins kollektive Gedächtnis zu holen.
Zur Vertiefung des Themas Zukunft der Erinnerung veröffentlicht Wolfgang Benz im Frühjahr 2025 weitere Denkanstöße, auch im Deutschlandarchiv. (© dtv-Verlag München)
Zur Vertiefung des Themas Zukunft der Erinnerung veröffentlicht Wolfgang Benz im Frühjahr 2025 weitere Denkanstöße, auch im Deutschlandarchiv. (© dtv-Verlag München)
Blickt man auf die ersten Jahrzehnte nach dem Sturz des Nationalsozialismus zurück, dann hat die Erinnerungskultur in unserem Land spät, aber umso eindrucksvoller Fortschritte gemacht. Das ist nicht zuletzt dem Engagement, dem Bürgersinn, der Vernunft vieler Nachgeborener zu danken.
Die Auseinandersetzung mit belasteter Geschichte bleibt Auftrag an künftige Generationen. Zu Selbstgerechtigkeit besteht trotz der zahlreichen Denkmäler, Gedenkstätten, Rituale und sonstigen Zeichen verantwortungsvollen Geschichtsbewusstseins aber kein Anlass. Das lehrt allein schon der wachsame Blick auf beunruhigende Entwicklungen in der Gegenwart.
Zitierweise: Wolfgang Benz, „Deutsche Erinnerungskultur: Rituale, Tendenzen, Defizite“, in: Deutschlandarchiv 31.10.2024, www.bpb.de/555824. Alle Beiträge im Deutschlandarchiv sind Recherchen und Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar und dienen als Mosaikstein zur Erschließung von Zeitgeschichte. (hk)
Ergänzend:
bpb-Themenschwerpunkt
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Diskussion im Bundespräsidialamt:
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Prof. Dr. em., geb. 1941; lehrte bis 2011 an der Technischen Universität Berlin und leitete von 1990 bis 2011 das Zentrum für Antisemitismusforschung.
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