Vor 35 Jahren: Die Großdemonstration am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz und ihre Bedeutung. „Manch einer hat sich gekniffen, um festzustellen, ob das wirklich wahr ist, oder nur ein Traum“, sagt der Historiker Stefan Wolle. Seine persönliche Erinnerung über den Tag in der DDR, an dem die SED bemüht war, die Kontrolle über die Friedliche Revolution zurückzugewinnen, aber einsehen musste: Es ist vorbei.
Die legendäre Mokka-Milch-Eisbar in der Ost-Berliner Karl-Marx-Allee bot am frühen Nachmittag des 4. November 1989 keinen Platz mehr. Genauer gesagt, die großräumige Milchbar einschließlich der Empore, wo ebenfalls Tische standen, war hoffnungslos überfüllt. Für Anfang November zeigte sich das Wetter jedoch ausgesprochen mild. Nach einem grau verhangenen Vormittag, war gegen Mittag die Sonne hervorgekommen, so dass es sich ohne weiteres auf der Terrasse sitzen ließ. Gerade war auf dem nahe gelegenem Alexanderplatz eine Riesendemonstration zu Ende gegangen. Womöglich war es wirklich die größte Demonstration, die es jemals dort gegeben hat. Die Anzahl der Teilnehmenden ist bis heute umstritten, 500.000? Eine Million? Oder noch mehr?
Auf jeden Fall war es der erste derartige Massenprotest, bei dem die Menschen nicht vom SED-Staat herbei beordert, sondern freiwillig gekommen waren. Ebenso friedlich wie machtvoll hatten sie auf dem Alex gejubelt, geklatscht, gepfiffen und dazwischen gerufen, wie ihnen der Schnabel gewachsen war und nicht, wie es die allmächtige Partei befahl. Manch einer wird sich heimlich gekniffen haben, um festzustellen, ob das alles wirklich wahr ist, oder nur ein Traum.
Nach so viel Geschichtsträchtigkeit war das Bedürfnis nach einem Eiskaffee oder Michshake groß. So versammelten sich einige Bekannte, teils verabredet, teils zufällig, in Ost-Berlins bekanntester Eisdiele. Wie lange die auch sonst nicht gerade flinken Serviererinnen brauchten, sich durch das Gewühl durchzukämpfen, war an diesem Tag egal, wir hatten eine Menge zu diskutieren.
Plötzlich „zur Freiheit verurteilt“
So spannend ein Kriminalstück oder ein Liebesdrama immer sein mag, der Schluss steht schon fest, wenn sich der Vorhang zum ersten Mal hebt. Das große Drama der Geschichte, das nun begonnen hatte, war dagegen vollkommen offen. Es war keineswegs klar, ob es ein Lustspiel, eine Tragödie oder vielleicht nur eine billige Posse werden würde. Nicht einmal der Titel stand schon fest. Wir waren die Verfasser und Akteure in einer Person, auch wenn wir nicht wussten, wer alles uns ins Handwerk pfuschen würde. Wir waren zur Freiheit verurteilt, egal ob man das bekannte Zitat von Jean-Paul Sartre kannte oder nicht. So saßen wir in der nachmittäglichen Herbstsonne, schlürften unsere Getränke, die irgendwann tatsächlich gekommen waren, und überschlugen noch einmal den ersten Akt des Dramas.
Der Anfang war nicht übel. Doch wie sollte es nun weitergehen und wie sollte es enden? In den vergangenen vier Wochen war mehr passiert als sonst in 40 Jahren. Die Jubelorgie am 7. Oktober 1989, dem 40. Jahrestag der Republik, war unversehens zur Totenfeier geraten. In Berlin zogen am 7. Oktober 1989 Tausende Demonstrierende vom Alex zum rigoros abgesperrten Palast der Republik, wo die Staatsführung mit ihren Ehrengästen zum Wohle der blühenden Republik die Sektgläser klingen ließ. Zwei Tage später krachte es in Leipzig – oder es krachte eben gerade nicht, und das war der eigentliche Umschwung. Die Einsatzleitung vor Ort wagte es nicht, den Befehl zum gewaltsamen Vorgehen gegen über 70.000 Demonstrierenden auszulösen und in Berlin herrschte Funkstille.
Am 18. Oktober 1989 trat SED-Generalsekretär Erich Honecker zurück und aus dem Politbüro übernahm Egon Krenz als sein Nachfolger das Ruder, wieder ein devoter Parteiideologe. Zu seiner Inthronisation als Staatsratsvorsitzender am 24. Oktober zogen Demonstranten und Demonstrantinnen von der Gethsemanekirche quer durch Berlin bis zum Staatsratsgebäude am Marx-Engels-Platz. Als sie durch die Schönhauser Allee strömten, riefen sie im Sprechchor „Egon Krenz, wir sind nicht deine Fans“, eine Paraphrase auf einen Spruch, den Jahre zuvor die FDJ zur Ehrung ihres Vorsitzenden erfunden hatte. Rund zwei Wochen vorher hatten an diesem Ort unzählige Sicherheitskräfte auf Demonstrierende eingedroschen. Nun sperrte die Volkspolizei den Verkehr, um den Demonstrationszug ungehindert passieren zu lassen.
Die SED versuchte Vertrauen zurückzugewinnen, das sie nie besaß
Doch trotz aller weltumstürzenden Vorgänge gab es immer noch eine klare Konfrontation. Auf der einen Seite stand die bis an die Zähne bewaffnete Staatsführung mit der Partei an der Spitze, auf der anderen Seite die Unzufrieden und Aufsässigen, denen man großzügig zubilligte, was man ihnen nicht mehr verbieten konnte. Die Partei, so wurde offiziell in den immer noch systemtreuen Medien getönt, müsse „Vertrauen zurück gewinnen“, als ob sie es jemals gehabt hätte. Sie würde nun ihr „Gesicht dem Volke zuwenden“, was die Frage provozierte, welches Körperteil sie bisher dem Volke zugewandt hatte.
Die neue SED-Führung versuchte, sich an die Spitze der Erneuerungsbewegung zu setzen, frei nach der Devise „Wenn wir wollen, dass alles so bleibt, muss sich alles ändern“, die Guiseppe Tomasi di Lampedusa in seinem Roman „Der Leopard“ dem jungen Aristokraten Tancredi in den Mund legt, der sich 1860 Garibaldis Rothemden anschließt. Ob der SED im Herbst 1989 dieser Salto mortale gelingen würde, war die Frage, die am 4. November auf der Tagesordnung stand. Das Revolutionsstück versprach ein Heldenepos mit gutem Ausgang zu werden und strebte dem entscheidenden Wendepunkt zu, sozusagen seiner Peripetie, um in der Terminologie der Dramentheorie zu bleiben.
Die Mimen proben den Aufstand
Als wir nach der Demonstration auf dem Alex innerlich aufgewühlt in der Mokka-Milch-Eisbar saßen, kannte keiner von uns die Vorgeschichte der Großdemonstration. Teilweise waren die Hintergründe nicht öffentlich bekannt geworden, teilweise waren sie im Wirbel der Ereignisse untergegangen. Am 15. Oktober 1989 fand im Deutschen Theater eine Zusammenkunft von Theaterleuten und Mitgliedern der gerade erst gegründeten Bürgerbewegung Neues Forum statt, die bereits im Vorfeld viel Staub aufgewirbelt hatte. Bereits am 18. September 1989 hatte es in der Volksbühne ein ähnliches Treffen gegeben, auf der die Zusammenkunft vom 15. Oktober 1989 vereinbart worden war. Der Zuschauerraum des Deutschen Theaters war an diesem Vormittag bis auf den letzten Platz gefüllt. Etwa 700 bis 800 Theaterleute hatten sich eingefunden und die Stimmung war mehr als aufgeheizt. Die gesamte Diskussion wurde auf Tonband mitgeschnitten und lag später lange Zeit unbeachtet im Archiv des Deutschen Theaters. Erst 2010 wurden die Tonaufzeichnungen verschriftet und als Protokollband unter dem Titel „Antrag auf Demonstration“ von Hans Rübesame, dem Archivar am Deutschen Theater, veröffentlicht.
An die Spitze der internen Revolte hatten sich einige sehr populäre Schauspieler und Schauspielerinnen , wie Johanna Schall und Jutta Wachowiak gesetzt. Ihre Stellung im SED-Staat war auf seltsame Weise ambivalent. Natürlich waren sie privilegiert, doch andererseits wird man ihnen eine besondere Sensibilität für die Krisensituation zubilligen können. Ihre Sorge um die Zukunft der DDR war mit Sicherheit ehrlich und tiefgreifend. Auch die Empörung über die Übergriffe der Polizei während der Demonstrationen am 7. und 8. Oktober 1989 war ohne Zweifel echt. Die Kulturschaffenden, die nun aktiv wurden, wollten einen Wandel, aber waren sich mit sich selbst uneins, wie weit dieser Wandel gehen sollte. Es ging, zumindest soweit die Dinge ausgesprochen wurden, immer um eine Verbesserung des bestehenden Systems.
Während der Versammlung wurde erstmals die Idee geäußert, statt der wilden Demonstrationen – die formal gesehen in der Tat ungesetzliche Zusammenrottungen waren – eine Demonstration förmlich bei den Behörden anzumelden. Ein solcher Schritt wirkt heute naheliegend, damals war der Gedanke verblüffend.
Erstmals Demo „auf dem Rechtsweg“
Vorgebracht wurde der Vorschlag von Jutta Wachowiak auf Anregung von Jutta Seidel, die dem Führungskreis des Neuen Forums angehörte. Nun kam Gregor Gysi ins Spiel, der eine Art informelle Rechtsberatung für die Veranstaltung übernommen hatte. Er meinte: „Lasst uns doch alle gemeinsam den Rechtsweg gehen!“. Ob es ein spontaner Einfall oder eine mit Kreisen der Parteiführung abgestimmte Strategie war, muss dahingestellt bleiben. Es entsprach präzise der politischen Linie der SED-Führung und lenkte die bisher recht chaotische Debatte auf ein klares Ziel. Es wurde beschlossen, für den 4. November 1989 eine Demonstration zu beantragen.
Für die organisatorische Vorbereitung wurde eine Initiativgruppe gebildet. Alle Versuche, seitens der SED oder der Staatssicherheit, diese Gruppe zu instrumentalisieren, schlugen fehl. Selbstbewusst wurde die Rednerliste zusammengestellt. Sowohl Vertreter des alten Regimes als auch der neuen gesellschaftlichen Gruppen, vor allem aber bekannte Schriftsteller sollten zu Worte kommen. Ein letzter Versuch der Steuerung wurde zwei Tage vor dem Termin, also am 2. November 1989, gestartet. Das Berliner Bezirksorgan der SED, die Berliner Zeitung, veröffentlichte einen Aufruf unter dem Titel „Friedliche Manifestation muß ihrem Grundanliegen gerecht werden können“. Darin hieß es:
„Am 4.11.1989 führen Berliner Kunst- und Kulturschaffende in Ausübung ihrer demokratischen Rechte eine Demonstration durch. Gemeinsam mit anderen Werktätigen der Hauptstadt wollen sie für eine DDR als sozialistischen Rechtsstaat eintreten, der die Rechte und Meinungen seiner Bürger schützt und ihnen entspricht.“ Dann folgte ein Aufruf zur Gewaltlosigkeit. Es solle dafür Sorge getragen werden, dass diese „...friedliche Manifestation […] nicht durch Provokationen und Gewalt gestört wird.“
Den Aufruf hatten der Oberbürgermeister Ehrhard Krack, der Minister für Kultur Hans-Joachim Hoffmann und der Vorsitzende der Gewerkschaft Kunst, Herbert Bischoff, unterzeichnet, drei hohe Vertreter des SED-Systems also. Eine besondere Unverschämtheit bestand darin, angesichts der bislang so friedlichen Demokratiebewegung die Gefahr von Gewalt an die Wand zu malen. Seit vierzig Jahren war die Gewalt vom SED-Regime gegen das eigene Volk ausgegangen. Davon sollte plötzlich nicht mehr die Rede sein. Die Initiativgruppe der Theaterschaffenden wies diesen Versuch der feindlichen Übernahme umgehend zurück. Immerhin machten diese Aufrufe der SED die Demonstration am 4. November 1989 weiter bekannt. Gleichzeit versuchten Medien, Nebelkerzen zu werfen. Am 3. November 1989 gaben Zeitungen lediglich Straßensperrungen und Umleitungen der Bus- und Straßenbahnlinien bekannt, ohne auf den Inhalt der geplanten Veranstaltung hinzuweisen. Stattdessen wurde auf die Orte und Zeiten einer Volksaussprache am Sonntag, dem 5. November 1989 aufmerksam gemacht. Bei diesen Aussprachen war klar, dass Vertreter von Staat und Partei oben sitzen würden, und das Volk Beschwernisse vor der hohen Obrigkeit ausbreiten darf. Die immer flinke Berliner Schnauze hatte für diese Art von "Dialog"-Veranstaltungen schnell einen treffenden Begriff parat. Sie nannte die Zusammenkünfte „Volksmeckern“. Das sollte die Demo auf dem Alex keinesfalls werden.
Auch für die Sicherheit war gesorgt. In Gesprächen mit dem Polizeipräsidium von Berlin vereinbarte sie eine Sicherheitspartnerschaft. 300 Theatermitarbeitende erhielten Schärpen mit der Aufschrift „Keine Gewalt“ und sollten die Demo begleiten. Da die Staatsmacht einen Durchbruch zur Mauer befürchtete, wurden für diesen Fall einsatzbereite Einheiten der NVA postiert, teils offen sichtbar, teils verborgen in Höfen.
Der Tag der Demonstration. Zunächst noch leise
Ab etwa acht Uhr morgens sammelten sich im nördlichen Teil der Karl-Liebknecht-Straße immer mehr Menschen. Sie kamen einzeln, als Familie oder gruppenweise. Auch manches Arbeitskollektiv trat geschlossen an, so wie sie es seit Jahren Sitte und Brauch war. Viele hatten Plakate und Losungen gemalt.
Eine förmliche Explosion des Volkswitzes fand stand. Das Lieblingsbild aller Fotografen und Kameramänner war Egon Krenz als böser Wolf mit der Nachthaube der Großmutter, die er gerade verschlungen hatte. Dazu die ängstliche Frage Rotkäppchens: „Großmutter, warum hast du so große Zähne?“. Einem vierundzwanzigjährigen Kunststudenten war der Coup seines Lebens gelungen. Die Stimmung war eher ruhig, fast gelassen. Das zeigen auch die Fernsehbilder. Polizei oder Sicherheitskräfte waren weit und breit nicht zu sehen. Eine ungewöhnliche Situation für Großereignisse aller Art in der DDR. Gegen zehn Uhr setzte sich der Demonstrationszug in Bewegung. Vorangetragen wurde ein breites Banner mit der Aufschrift „Protestdemonstration“. Dann folgten die Menschenmassen mit ihren individuellen Losungen und Plakaten, darunter auch verblüffend viel Kritik am MfS: „Rechtssicherheit spart Staatssicherheit“ oder „Stasi in die Produktion!“. Nicht nur die Angst (wie erstmals am 9. Oktober 1989 in Leipzig), sondern auch der Respekt vor der Staatsmacht war nunmehr weg.
Die immer stärker anwachsende Masse zog die Karl-Liebknecht-Straße entlang am Palast der Republik vorbei über den Marx-Engels-Platz. Zunächst wirkte die Demonstration sehr still, fast ungläubig, dass so etwas möglich war. Auf Videoaufnahmen des Ministeriums für Staatssicherheit, aus dem Palast der Republik heraus gefilmt, sieht man zunächst fast zurückhaltend wirkende Menschen langsam wie in einer Schweigeprozession vorbeiziehen. Viele schienen dem Frieden nicht zu trauen.
Tatsächlich führte vom Marx-Engels-Platz aus eine Sperrkette von Uniformierten quer über den Boulevard Unter den Linden, der von hier zum Brandenburger Tor führt, also zur Mauer. Es handelte sich um Angehörige des Wachregiments „Felix Dzierzynski“ der Staatssicherheit, die durch ihre Päsenz verdeutlichen sollten: hier nicht lang!
Erst am Staatsratsgebäude und dem Palast der Republik kam mehr Demostimmung auf. Gruppen erklommen die dem Palast vorgelagerten Treppen und Emporen. Sie schwenkten dort ihre Fahnen und stimmten ironisch die Nationalhymne der DDR an, deren Text seit 1973 nicht mehr gesungen wurde. „Deutschland, einig Vaterland“, heißt es in dieser Hymne aus dem Jahre 1949, und „…dass die Sonne schön wie nie über Deutschland scheint“. Dazu wurde Kabarett gespielt.
„Mauer ins Museum!“
Möglicherweise war es der einzige Hinweis auf den Wunsch nach Wiedervereinigung, der einige Wochen später den Staat aus den Angeln heben sollte. Der Westen und die Mauer waren an diesem Tag unendlich weit weg, obwohl zwei Mutige im Demozug weissagend auch ein Transparent trugen: „Mauer ins Museum“!
Vierzig Jahre lang war nahezu alles im Kontext mit der deutsch-deutschen Problematik gesehen worden. Der Westen war immer da, in den Maßnahmen und der stumpfsinnigen Propaganda der Staatsmacht, jeden Abend im Wohnzimmer wenn der Westen eingeschaltet wurde und in den Träumen und Wünschen der Menschen. Nun stand zum ersten Mal die Bevölkerung der DDR im Mittelpunkt der medialen Aufmerksamkeit. Diese Menschen waren die Helden des Augenblicks.
Schließlich verlief der Zug über die Rathausstraße zurück zum Alex. Dort hatten gegen 11:25 Uhr die Reden begonnen, doch längst nicht alle Demonstrierenden waren vor Ort. Sie strömten noch längere Zeit auf den Riesenplatz. Vielleicht kamen nun auch einige von zu Hause. Denn die Veranstaltung würde überraschend und unangekündigt rund drei Stunden lang im Fernsehen der DDR übertragen. Welch Wandel in diesem sonst so übervorsichtigem und zensurgeprägten Land. So konnte die ganze Welt live und in den Bonbonfarben des Ostfernsehens die provisorischen Holztribüne auf dem Lastkraftwagen der Marke W 50, die Rednerinnen und Redner und die Massen auf dem Alex bestaunen.
Im Bild Jan Josef Liefers bei seiner Rede auf der Abschlusskundgebung. (Bundesarchiv, Bild 183-1989-1104-029 / Fotograf: Hubert Link) Lizenz: cc by-sa/3.0/de
Und immer wieder schwenkte die Kamera über die endlose Menschenmenge. Nacheinander wurden die insgesamt 26 Redner und Rednerinnen von Moderator Henning Schaller angekündigt. Sie erhielten hörbar unterschiedlich starken Beifall.
Am problematischsten verliefen die Auftritte von Vertretern der alten Staatsmacht. Günter Schabowski, zu diesem Zeitpunkt immer noch erster Sekretär der SED-Bezirksleitung Berlin, wurde kräftig ausgebuht, hielt aber dem Sturm der Entrüstung stand und erntete allein deshalb zum Schluss doch einigen Applaus. Immerhin konnte er reden wie ein Volkstribun, auch gegen eine tobende Menge von einer halben oder ganzen Million Menschen.
Der ehemalige Spionagechef der Stasi, Markus Wolf, wurde von vielen als ein heimlicher Emissär der Gorbatschow'schen Reformpolitik gesehen, möglicherweise auch von einer neuen Karriere an der Spitze des Staates träumend. Vielleicht hat er geglaubt, das Volk würde ihm zujubeln. Doch wahrscheinlich hat er nie geahnt, wie verhasst die Stasi beim Volk war. Seine Rede ging unter in einem allgemeinen Pfeifkonzert.
Gregor Gysi, der nur im engen Kreis der führenden SED-Genossen als Anwalt für heikle Fälle bekannt war, verblüffte durch fundamentale Forderungen nach Rechtssicherheit, einem neuen Wahlgesetz, einem Verfassungsgerichtshof sowie demokratischer Kontrolle der Machtorgane. Im Grunde war er der radikalste Redner des Tages, verwirrte aber das Publikum durch eine Lobrede ausgerechnet auf Egon Krenz und sein Bekenntnis zur führenden Rolle der Partei. Gysi brachte die neue Politik der Krenz-Führung präzise auf den Punkt: Reformen ja, auch Rechtsstaatlichkeit, aber bei Beibehaltung der Macht der SED.
Den größten Applaus ernteten natürlich bekannte Schriftsteller. Stefan Heym wurde vom Moderator als „Nestor unserer Bewegung“ angekündigt und Riesenbeifall brauste über den Platz. Heym hielt dann auch die sprachlich und rhetorisch wohl beste Rede:
„Es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen", meinte Heym, "nach all den Jahren der Stagnation, der geistigen, wirtschaftlichen, politischen, den Jahren von Dumpfheit und Mief, von Phrasengewäsch und bürokratischer Willkür, von amtlicher Blindheit und Taubheit.“
Er wandte sich dann direkt an die Menschen auf dem Platz, die sich aus seiner Sicht versammelt hätten, um „für Freiheit und Demokratie und für einen Sozialismus, der des Namens wert ist“ einzutreten. Das war alles schön gesagt, aber ohne jeden konkreten Vorschlag, wie die neue Staatsordnung konkret funktionieren sollte. Konnte der Dichter so sicher sein, dass die Menschen in demokratischer Entscheidung den Sozialismus wirklich noch wollten?
Nur einen optimierten Sozialismus im Blick?
Der Schriftsteller Hans-Josef Ortheil, Verfasser einiger wunderbarer Romane, veröffentlichte später unter dem Titel „Blauer Weg“ Tagebuchaufzeichnungen aus den Wendemonaten, darunter einige Impressionen vom 4. November 1989. Er hatte die Ereignisse in Graz am Fernsehbildschirm verfolgt. Doch gerade diese Distanz ermöglichte ihm einige bemerkenswerte Einsichten. Die Demonstration wirkte auf ihn „bescheiden, sie toleriert ihre Grenzen.“ Es herrschte, so meinte Ortheil, „das pure Erstaunen, das Erstaunen darüber, daß sie möglich geworden ist, genehmigt und gewaltfrei.“
Einige Reden verwirrten ihn: „...das Losungswort ‚sozialistisch‘ wird zu meinem Erstaunen immer wieder verwendet, wie ein Schild, den man zur Sicherheit vor sich herträgt, um sich keine Blöße zu geben. … Christoph Hein spricht vom Sozialismus so, als sei er gleichsam das Reinigungsbad nach den alten Verhältnissen; Stefan Heym unterscheidet zwischen dem richtigen vom Stalinschen und fordert nach vierzig Jahren DDR ein erneutes sozialistisches Bauvorhaben, diesmal aber demokratisch und Christa Wolf liefert die Pointe zu diesem Erneuerungsprojekten: „Stell dir vor, es ist Sozialismus und keiner geht weg“."
Ortheil konstatierte eine „Babylonische Sprachverwirrung“ und ein gänzliches Fehlen klarer Ziele. „… stattdessen wirken die Begriffe weit, offen, beinahe beliebig. Sie umkreisen eher die Unruhe, als daß sie sie stellen“.
All dies ist gut beobachtet, doch ohne jedes Verständnis für die mentale Situation derer, die dort erstmals demonstrierten, angstfrei ohne dass es staatliche Vorgaben für Banner und Losungen gab. In der DDR hatte vierzig Jahre lang kein offener Diskurs über gesellschaftliche Probleme stattgefunden. Auch innerhalb der Opposition wurde fast ausschließlich mit „weiten, offenen, beinahe beliebigen“ Begriffen operiert – und zwar mehr moralisch, oft auch theologisch, als politisch. Es ging darum, in der „Wahrheit zu leben“ wie es Václav Havel nannte. Wahrheit war das Gegenteil der Lügen, die man täglich aufgetischt bekam. Die politischen Witze, die im Lande kursierten, waren oft von dialektischer Schärfe, aber immer nur negativ. Insofern ist es bei Ortheil eine treffende Beobachtung, wenn er über die Demonstration schreibt, es seien „ihre besten Momente gerade jene, die von einem Auflachen begleitet sind: „Aus Wandlitz, da machen wir ein Altersheim“."
Die offene Diskussion beginnt - beste Voraussetzung für Demokratie
Dies alles hörte sich am Kaffeehaustisch vor der Mokka-Milch-Eisbar schon sehr viel konkreter an. Einer der Anwesenden befürchtete, die Leute würden sich von den schönen Redensarten der SED noch einmal einwickeln lassen. Tatsächlich hatten die größten Phrasen ja auch den größten Beifall bekommen.
Zwei Dinge stünden jetzt zur Disposition, meinte ein anderer. Es gehe um den Sozialismus und die DDR als Staat. Das erregte heftigen Widerspruch. Ein bekanntes Mitglied der Opposition murmelte etwas von Konterrevolution und blindem Antikommunismus, der alles zu verderben drohe. Er gehörte zu den Erstunterzeichnern des Aufrufs des Neuen Forums vom 10. September 1989. Das gab ihm eine große Autorität. Doch im Grunde war dieser Aufruf bereits der Schnee von gestern. Nichts hatte dort gestanden, als die Einforderung eines Dialogs zwischen Staat und Gesellschaft. Den hatten wir nun, doch was damit anfangen? Ein Historiker, der gerade an seiner Doktorarbeit über Byzanz saß, meinte, es gäbe nur eine sinnvolle politische Forderung: Freie Wahlen. Alles andere käme danach. Er ging davon aus, dass die SED eine solche Wahl krachend verlieren würde, so wie es gerade in Polen geschehen war.
„Die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug“, formulierte einst Hegel sehr hübsch. Der Philosoph meinte damit, dass erst in der Abenddämmerung die Einsichten zu den Geschehnissen des Tages kommen, die der geflügelte Bote der Weisheit symbolisiert Doch solange konnten wir nicht warten. Als die Sonne hinter den Neubaublocks der Karl-Marx-Allee verschwand, wurde es kühl und Zeit zum Aufbruch. Nicht nur nach Hause, sondern auch in eine neue Zeit neuen Selbstbewusstseins.
Es war das letzte Mal, dass die Kaffeestube unser „öffentlicher Raum“ der Debatte war. Denn von nun an vollzog sich Ungeahntes flächendeckend in der DDR. Aus der Kaffeehausopposition wurde eine echte Opposition.
Es endete die unverbindliche Traumtänzerei und es begann unser Zeitalter der Politik, das heißt, das Ringen um Mehrheiten im offenen Streit der Meinungen. Gleichwohl schmerzte es, in den Tagen danach zu erfahren, dass es auch am 4. November noch Aussperrungen gegeben hatte, Wolf Biermann etwa wurde die Einreise verwehrt, Bärbel Bohley hatte ihn eingeladen:
QuellentextUnd eine Zensur fand trotzdem statt: Der 4. November ohne Janka und Biermann
Konnten die Berliner Akteure des 4.11.89 tatsächlich alleine bestimmen, wer reden darf und wer nicht? SED- und MfS-nahe Kreise unter den Programmverantwortlichen setzten beispielsweise durch, dass ein vorgeschlagener Name wie Jürgen Fuchs nicht auf die Rednerliste kam, der ehemalige DDR-Schrifsteller und Kritiker des SED-Regimes war 1977 zur Ausreise nach West-Berlin gezwungen worden. Das MfS verließ sich dabei "auch auf "progressive Kräfte unter den Theaterschaffenden, wie den Intendanten des Maxim-Gorki Theaters, Albert Hetterle", der befürchtet habe, "dass feindliche Kräfte die vorgesehene Demonstration für antisozialistische Ziele missbrauchen könnten".
Wolf Biermann ausgesperrt
Die Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley hatte im Vorfeld bereits den Liedermacher Wolf Biermann als möglichen Redner ins Spiel gebracht und eingeladen, zumindest am 4.11. zu der Demo zu kommen. Aber Biermann erhielt ein Einreiseverbot. Bohley formulierte daraufhin einen offenen Interner Link: Protestbrief, hier nachlesbar als PDF. Der 1976 aus der DDR ausgebürgerte Liedermacher Wolf Biermann hatte auf dem Alexanderplatz ein neues Lied vortragen wollen, in dessen Text es unter anderem selbstkritisch hieß:
"Das Schlimmste war nicht an unseren Tyrannen die rot getünchte Tyrannei Das Schlimmste waren dabei wir selber all unsere Feigheit und Kriecherei..."
Markus Wolf statt Walter Janka
Intensiv gerungen wurde, ob auch Markus Wolf reden dürfe. Der einstige Spionage-Chef der Stasi-Auslandsabteilung HV A hatte sich in den Vormonaten gezielt als Schriftsteller ein softeres Image in den DDR-Medien verschafft, so dass er wie ein Reformer im Stile Gorbatschows wirkte. Die Veranstalter hatten aber auch den ehemaligen Aufbau-Verlagschef Walter Janka als Redner gewonnen. Janka war 1956 verhaftet und in das Stasi-Untersuchungsgefängnis Berlin-Hohenschönhausen gebracht worden. Der Vorwurf: er sei Verschwörer gegen Staats- und Parteichef Walter Ulbricht und habe die DDR desavouiert, indem er freie Wahlen, Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit gefordert habe. Am 26. Juli 1957 wurde er „als unmittelbarer Hintermann und Teilnehmer einer konterrevolutionären Gruppe“ wegen Boykotthetze zu fünf Jahren Zuchthaus mit verschärfter Einzelhaftwegen verurteilt und in Bautzen inhaftiert.
Nun sollte durch seine Einladung quasi eine öffentlich sichtbare Wiedergutmachun erfolgen und nach außen sichtbar werden, dass in der DDR nun eine neuer Reformwind wehe. Aber Jankas Bedingung am 4. November aufzutreten, war nun, er rede nur, wenn Markus Wolf und somit das auch für seine Verfolgung verantwortliche MfS kein Rederecht erhalte. Zunächst gab es für Janka eine Mehrheit und gegen Wolf, über Nacht wurde die Entscheidung aber noch einmal gedreht. Denn Wolf weigerte sich, zu verzichten. Daraufhin sagte Janka kurzfristig ab und reiste am Morgen des 4.11. empört wieder aus Ostberlin nach Hause ohne an der Demonstration teilzunehmen. (H.Kulick)
Zitiert nach: "Die Staatssicherheit organisierte mit", MDR vom 4.11.2009, https://www.mdr.de/geschichte/ddr/deutsche-einheit/mauerfall/demo-berlin-alexanderplatz-stasi-100.html, letzter Abruf am 1.11.2024.
Siehe Jutta Wachowiak im Interview mit dem Tagesspiegel vom 4.11.2024, "4. November 1989: Aufstand auf dem Berliner Alexanderplatz", https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/aufstand-auf-dem-berliner-alexanderplatz-3597349.html, letzter Abruf 1.11.2024.
Nachklänge
Am nächsten Morgen, am Sonntag, dem 5. November 1989, stand ich wieder am Bahnhof Alexanderplatz, um mit dem Bus zur Friedenskirche in Friedrichshain zu fahren, wo die Gründungsversammlung der Berliner Organisation der Sozialdemokratischen Partei der DDR stattfinden sollte. Wenig erinnerte am Ort der gestrigen Demonstration noch an die Massen, die hier am Vortag vorbei defilierten. Doch an der Betonsäule der S-Bahn-Brücke über der Karl-Liebknecht-Straße hatte jemand mit Pinsel und weißer Farbe geschrieben „Mielke vor ein Volksgericht“.
Kein Volkspolizist und kein MfS-Angehöriger scherte sich um diese Inschrift. Noch vier Wochen zuvor hätte sie ein Besonderes Vorkommnis der gefährlichsten Art dargestellt. Man hätte die staatsfeindliche Losung fotografisch dokumentiert, Fingerabdrücke und andere Spuren aufgenommen und unverzüglich wäre eine Putzkolonne angerückt, die Schrift zu übermalen. Und Fahnder der Stasi wären ausgerückt, der Urheber habhaft zu werden, damit ihnen nie wieder solche „Öffentlichkeitswirksamkeit“ gelingt.
Nichts davon fand statt. Wie ein waidwundes Tier, das sein Ende spürt und sich nicht mehr reinigt, verkroch sich der bisher allgegenwärtige und allmächtige Machtapparat. Das war der Wendepunkt. Vier Wochen zuvor, am 9. Oktober 1989 in Leipzig, war erstmals in großer Zahl die Angst überwunden worden, ein Schlüsselmoment der Friedlichen Revolution. Jetzt musste niemand mehr Ängste haben. Jede und jeder konnte das sehen, zeitgleich übrigens in über 40 weiteren Orten der DDR, in denen am 4. November 1989 "frei Schnauze" demonstriert wurde, nicht selten übrigens mit Parolen wie "Visafrei nach Hawai".
Tatsächlich fiel vier Tage später die Mauer. Besagte Inschrift an der S-Bahnbrücke stand noch lange auf dem Pfeiler und verschwand erst bei einer späteren Renovierung, als die Großdemonstrationen vom 4. November 1989 längst Geschichte geworden waren.
Zitierweise: Stefan Wolle, „Der Wendepunkt. Die Macht des 4. November 1989“, in: Deutschlandarchiv 04.11.20214, www.bpb.de/555821. Alle Beiträge im Deutschlandarchiv sind Recherchen und Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar und dienen als Mosaikstein zur Erschließung von Zeitgeschichte. (hk)
Stefan Wolle, Dr. phil., geb. 1950; Studium der Geschichte an der Humboldt-Uni Berlin, dort aber 1972 aus politischen Gründen relegiert; zunächst wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Akademie der Wissenschaften in Berlin. Veröffentlichungen zur mittelalterlichen Geschichte Rußlands und zu den deutsch-russischen Wissenschaftsbeziehungen im 18. /19. Jahrhundert. Stefan Wolle und Armin Mitter waren von Januar bis März 1990 Sachverständige am Zentralen Runden Tisch für das Schrifttum des MfS; danach bis 3. Oktober 1990 Mitarbeiter des Staatlichen Komitees für die Auflösung des ehemaligen MfS/AfNS; sie gaben gemeinsam heraus: „Ich liebe euch doch alle . . .“. Befehle und Lageberichte des MfS (Januar—November 1989), Berlin 1990. Mehrere Bücher und zahlreiche Fachaufsätze des Historikers folgten, darunter für die bpb "Der Traum von der Revolte. Die DDR 1968", Bonn 2008, sowie die Geschichtsbände: "Der große Plan Alltag und Herrschaft in der DDR 1949-1961" und "Die heile Welt der Diktatur: Alltag und Herrschaft in der DDR 1971-1989", Berlin 2013. Mitte 2024 erstellte er das Online-Special Interner Link: DDR-kompakt für die Bundeszentrale für politische Bildung. Wolle ist seit 18 Jahren Wissenschaftlicher Leiter des DDR-Museums in Berlin. Dort wird er im Dezember 2024 verabschiedet.
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