„Eine konterrevolutionäre Sauerei“
Kabarett-Zensur im Sommer 1961 in Leipzig
Jürgen Klammer
/ 18 Minuten zu lesen
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Jürgen Klammer schreibt in seinem Buch „Konterrevolution im Kabarett-Keller – Leipzig Sommer 1961“ über die Ereignisse rund um das Verbot des Programms „Wo der Hund begraben liegt“ und die damit verbundenen Repressalien gegen sechs Studierende, die zu der erfolgreichen studentischen Leipziger Kabarett-Gruppe „Rat der Spötter“ gehörten. Einer von ihnen war der später bekannte Schauspieler Peter Sodann. Der Autor beschreibt das Zusammenwirken von Universitätsleitung, SED, der Staatssicherheit und der Justiz. Für das Deutschland Archiv hat Jürgen Klammer einen Text zum Inhalt seines Buches verfasst.
Wir verbliebenen „Studentenspötter“ der Geburtsjahrgänge 1934 bis 1943 – und damit beziehe ich mich selbst ein, – waren vor zweiundsechzig Jahren, im bewegten Jahr des Mauerbaus 1961, im Alter zwischen achtzehn und siebenundzwanzig, so wie die um die Jahrtausendwende Geborenen jetzt. Diese Nachgeborenen werden vieles von dem, was insbesondere in den Jahren 1958 bis 1961, aber auch darüber hinaus unser „fröhliches Jugendleben“ ausgemacht hat, nur schwer nachvollziehen können: unsere Hoffnungen und Irrtümer, unsere mal wilden, mal langweiligen Feten, unsere ersten Liebesgedichte und simplen Kampfverse, unser Bekenntnis zur sozialistischen Idee bei gleichzeitigem Veralbern der Parteitagsbeschlüsse, unser überbordendes Engagement für das Kabarett und die damit einhergehende Vernachlässigung des Studiums, insbesondere des Studiums der Partei-Dokumente. „Weil wir jung sind, ist die Welt so schön…“ sangen wir aus vollem Herzen, ebenso wie die Lieder der Mamsell. Ernst Busch und seine auf Aurora festgehaltenen Gesänge hatten es uns angetan, aber auch Harry Belafonte – Letzterer mehr als der von unseren Mädchen verehrte Paul Anka. Paul und George von den Beatles gingen noch zur Schule. Im Westen sang Freddy Quinn „Heimatlos sind viele auf der Welt“, und bei uns schmachtete Bärbel Wachholz „Damals war alles so schön“. Dennoch: Wieder und wieder gilt es zu erinnern, die unterschiedlichsten Diktatur-Erfahrungen weiterzugeben – oder zumindest vor dem Vergessen zu bewahren.
Ein Brief aus der Gefängniszelle
Meist sind es eher zufällige Funde, die das Erinnern und Nachgraben mobilisieren. So verhält es sich auch mit den Ereignissen im Leipziger Spätsommer des Jahres 1961, mit all ihren Vor- und Nachgeschichten. Der Wohnungswechsel eines mittlerweile betagten Elternpaares nahm ihre Kinder in die Pflicht, das Inventar der von früher her vertrauten Zimmer auszuräumen und dabei vor allem das über Jahrzehnte angesammelte Papier – Bücher, Fotos, Zeugnisse, Kontoauszüge, Steuerbescheide und Briefe, vor allem Briefe – in Kartons zu packen und irgendwo zu verstauen, wenn nicht gar zu entsorgen.
So fand sich mehr durch Zufall ein vergilbter Brief, geschrieben am 7. Oktober 1961 in einer Zelle des Stasi-Untersuchungsgefängnisses in der Leipziger Beethovenstraße 2.
Der auf die Briefmarke mit dem Porträt von Walter Ulbricht gedrückte Poststempel verrät, dass dieser Brief erst am 16. Oktober das Gefängnis verlassen hat. In einem umrandeten Stempelaufdruck neben der Briefmarke steht die Parole: „Die internationale Arbeiterklasse – für Abschluss eines Friedensvertrages mit beiden deutschen Staaten.“ Auf der Rückseite des faltbaren Bogens ist unter „Anordnungen für den Empfänger“ zu lesen: „Straf- und Untersuchungsgefangene dürfen alle 4 Wochen einmal Post empfangen, die in gut lesbarer Schrift gehalten sein muss. Fotos, sonstige Bilder, Postwertzeichen und dgl. sind nicht beizulegen. Rückantwort ist auf 20 Zeilen DIN A4 zu beschränken, sonst wird Annahme verweigert.“
Das handschriftlich verfasste Schreiben – es ist das erste seit der vier Wochen zuvor erfolgten Inhaftierung – beginnt mit den Worten: „Lieber Eckhard! Liebe Gisela! Macht Euch bitte um mich keine Sorgen, mir geht’s gut.“ Er endet mit dem Hinweis an die Freundin: „Du bist in jeder Stunde mein guter Stern. – Peter“.
Peter ist Peter Seidel, von seinen Freunden Schnafte genannt, seit 1958 Student der Journalistik. Am frühen Morgen des 9. September 1961 wurde er, verkatert nach einer mit Helga Hahnemann durchzechten Nacht in der Regina-Bar und unter brennendem Durst leidend, in seiner Wohnung verhaftet, wegen Kabarett, oder wegen „ideologischer Diversion“, wie im Haftbeschluss vom gleichen Tag dokumentiert: „Der S. betrieb gemeinschaftlich mit einer Gruppe Studenten im ‚Rat der Spötter‘ ideologische Diversion.“ Unterzeichnet hat diesen Haftbeschluss nicht etwa ein Vertreter der Staatsanwaltschaft, sondern ein Herr Peterhänsel, seines Zeichens Major der Staatssicherheit, Leiter der Abteilung V in der Leipziger Bezirksverwaltung und allein an diesem Tage zuständig für die Verhaftung zwölf weiterer Personen. Der Brief vom 7. Oktober 1961 aus der Beethovenstraße 2 mit der Postfachadresse 293 war Anlass für mein Buch über die damaligen Vorkommnisse. Das Studentenkabarett „Rat der Spötter“ an der altehrwürdigen Leipziger Universität, die man 1953 in Karl-Marx-Universität Leipzig umbenannt hatte, existierte ganze sieben Jahre. Es wurde am 5. September 1961, auf seinem satirischen Höhepunkt, verboten. Die Ereignisse um dieses Verbot sind so vielfältig wie widersprüchlich, so subjektiv wie widersinnig, so tragisch wie lachhaft. Zu ihrer Aufarbeitung waren umfangreiche Recherchen erforderlich. Sie wurden ergänzt um die Erinnerungen damals Beteiligter.
„Spötter“-Gründung und Personalwechsel 1958
Das Kabarett an Schulen und Universitäten lebt vom natürlichen Wechsel seiner Mitwirkenden. Schüler gehen nach ihrem Abschluss ins Berufsleben oder beginnen ein Studium. Nicht alle engagieren sich erneut in den in Betrieben und Hochschulen existierenden Kultureinrichtungen. Nicht überall finden die weiterhin an Satire und Humor interessierten Lehrlinge oder Studenten ein gut aufgestelltes Umfeld in ihrem neuen Wirkungskreis.
Beim „Rat der Spötter“ an der Leipziger Karl-Marx-Universität war das anders. Die Mitglieder des 1954 gegründeten Studentenkabaretts um Horst Pehnert, Jochen Petersdorf, Wilfried Geißler, Hans Walde, Hubert Laitko, Dieter Müller sowie die sie unterstützenden Studentinnen Thea Matthias, Sigrid Fleddau und Ruth Hinsching hatten 1958 ihr Studium beendet, den Studienort gewechselt oder beschäftigten sich mit ihrem Abschluss. Ein Jahr zuvor waren die Kabarettisten mit ihrem ersten geschlossenen Programm „Der Mensch versuche die Spötter nicht“ von der Universität – einschließlich Partei und Jugendverband – gefeiert worden. Eine Tournee des Ensembles durch den Harz im Studentensommer 1957 hatte sie auch außerhalb von Leipzig bekannt gemacht. Die „Spötter“ waren eine Institution, und das nicht nur unter den Studierenden.
Mittlerweile war es Tradition, dass das Kabarett die Immatrikulationsfeiern der Universität mit ausgewählten Szenen und Liedern humoristisch aufwertete. So auch im September des Jahres 1957: Unter den von den „Spöttern“ begeisterten Erstsemestern befanden sich Interner Link: Peter Sodann und Ernst Röhl. Der eine hatte sich bei den Juristen eingeschrieben. Der andere wollte Journalist werden. Beide meldeten sich sofort im Kabarett und wurden aufgenommen. Mit weiteren Neuen, unter ihnen Susanne Gebhardt, Wolfgang Schrader, Hans-Gert Schubert und Gerhard Hein, wurde die erforderliche Kontinuität zumindest personell gesichert. Im Herbst 1958 gab es im Ensemble einen großen „Personalwechsel“. Ernst Röhl war jetzt Leiter der mittlerweile zum „Zentralen politisch-satirischen Kabarett der Karl-Marx-Universität“ ernannten Gruppe geworden. Neu hinzu kamen Helene Quinten, Hans Ronneburger, Peter Seidel und Heiko Rämisch. Einige Monate zuvor war dem Kabarett der „Staatspreis für künstlerisches Volksschaffen“ verliehen worden, vielleicht als Trostpflaster, nachdem ein Jahr zuvor für die Moskauer Weltfestspiele ein anderes studentisches Kabarett ausgewählt worden war.
Unter Röhls Leitung und mit tatkräftiger Unterstützung von Sodann begann eine inhaltliche und künstlerische Neuausrichtung. Die Parteileitung der Universität erfreute sich an den nun zahlreicher werdenden Auftritten „ihres“ Kabaretts und beschloss, die Kulturarbeit noch mehr zu fördern. Zur Frühjahrsmesse 1959 erfolgte die Premiere des zweiten Spötter-Programms „Freitag den 13.“. Mit den darin enthaltenen Texten, der gewachsenen künstlerischen Qualität und vor allem der gestiegenen Spielfreude wurde die „Fahrkarte“ zu den „VII. Weltfestspielen der Jugend und Studenten“ nach Wien gewonnen. Von den erlebnisreichen Augusttagen in Österreich schwärmen die „Spötter“ noch heute. Wenige Wochen zuvor, am 24. April 1959, durften die Kabarettisten im Rahmen des Festprogramms anlässlich der „Bitterfelder Konferenz“ sogar vor Walter Ulbricht auftreten.
Die Sommer-Tournee der Spötter – Auftritte und Textarbeit
Im Sommer 1961 stieg bereits die dritte Sommertournee des Studentenkabaretts. Diesmal ging es für zwei Wochen nach Vorpommern, aber nicht an die schönen Strände von Usedom, Rügen oder dem Darß. Mit Ausnahme von dem am Bodden gelegenen Lubmin führte sie ausschließlich durch Orte im öden Hinterland der Ostsee. Dörfer wie Wusterhusen, Ransin und Gransebieth finden sich auf dem von Organisationsleiter Hartmut Hommel akribisch ausgearbeiteten „Organisationsplan Sommertournee 1961“. Zunächst aber galt es, Mitte Juli nach Vorpommern zu gelangen. Die Anreise liest sich im Organisationsplan folgendermaßen:
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„18.7.61 Abfahrt Leipzig, D 175, 22.08 Uhr 19.7.61 00.44 (Potsdam) Ankunft Züssow 06.11 Abfahrt Züssow 08.09 Ankunft Greifswald 08.29 Abfahrt mit dem Bus der MTS Wusterhusen am Bahnhof 08.30 Übernachtung: Mädchen im „Hs. am Meer“ in Lubmin (wahrscheinlich) Jungen im Zelt – im Zeltlager der Flugzeugwerke Dresden. (wahrscheinl.) Trainingsanzug und eine Decke mitbringen.“
Nach der langwierigen nächtlichen Anreise gab es einen verdienten Ruhetag im Zeltlager. Am 21. Juli, einem Freitag, folgte um 20.00 Uhr im 300 Zuschauer fassenden Saal des Kulturhauses in Bandelin der erste Auftritt des Kabaretts, anschließend „Tanz mit unserer Kapelle“. Als Verantwortlicher im Dorf für Saal, vorhandene Scheinwerfer und Klavier zeichnet der Bandeliner MTS-Direktor Dörfling persönlich. So hatte an diesem Abend alles seine Ordnung. Besucher wie Studierende waren zufrieden.
Während der Tournee waren die jungen Leute mit ihren Gedanken schon beim neuen Programm. Bereits kurz nach der Premiere von „Odyssee mit Humor“ im März wurden die ersten Ideen für den Herbst entwickelt. Angestachelt durch den erneuten Erfolg, ebenso wie durch das überschwängliche Lob der „Leipziger Pfeffermüller“ um Helga Hahnemann, Edgar Külow und Siegfried Mahler, hatten sich die „Spötter“ vorgenommen, im nächsten Programm „schärfer zu schießen“. Erste Texte, wie beispielsweise das „DEFA-Lustspiel“, waren in Gesprächen mit den Berufskabarettisten entstanden. Kam auch eine geplante gemeinsame Vorstellung im Rahmen einer „Spötter-Mühle“ nicht zustande, so waren doch bereits zu Beginn der Sommertournee genug Anregungen, Ideen, Textentwürfe und sogar einige fertige Texte für das neue Programm vorhanden.
Während der Tournee beraumte Sodann Programmbesprechungen an; bei nasskaltem Wetter war an Strandvergnügen ohnehin nicht zu denken. Nach diesen Besprechungen setzten sich die Autoren der „Spötter“ – Röhl, Seidel, Ronneburger, Albani und Benecke – in ihrer zugigen Behausung im „Zeltlager der Flugzeugwerke Dresden“ zusammen und erwärmten sich an ihren Einfällen. Der „Spötter“-Chef überließ das Texten den Freunden von der Journalistik. Schreiben war nicht so sein Ding: Er studiere ja „nur“ an der Schauspielschule und konzentriere sich somit mehr auf Regie, Dramaturgie und Ausstattung, so seine Argumentation. Nur gelegentlich steuerte er Ideen bei, spielbare Witze und bissige Pointen, wie etwa zur Szene „Mei Otto“.
Motiviert durch die abendlichen Auftritte und animiert durch die permanenten Frotzeleien innerhalb der Gruppe, bastelten Seidel und Röhl, mit Bier und Schnaps in die nötige Stimmung versetzt, erste Zeilen des Entrees: „Es brechen polternd Gräber auf, der Toten Geist steigt fahl herauf.“
Diese Zeilen, auch Seidels erste Wirtinnenverse, Beneckes Ideen zur „DKGD“ (Deutsche Konzert und Gastspieldirektion) oder Ronneburgers Textentwurf von „Klavierbauer unter sich“ wurden vom „Rat der Spötter“, der sich am Lagerfeuer oder im nasskalten Zelt versammelte, diskutiert, beurteilt, mit Änderungsvorschlägen versehen und schließlich akzeptiert. Vor dem Auftritt in Reinkenhagen am 25. Juli galt es, die persönlichen Sachen zu packen. Endlich konnte die Zelt-Unterkunft in Lubmin getauscht werden mit wohnlichen Räumen im Lehrlingswohnheim in Franzburg, der letzten Station der Tournee. Dort genehmigte sich die Truppe am 27. Juli einen weiteren Ruhetag, der natürlich von Sodann sofort für Text- und Dramaturgie-Besprechungen genutzt wurde.
In der Gemeinde Velgast fand am 1. August die letzte Vorstellung im Rahmen der Sommertournee statt. Gespielt wurde in Velgast von 20.00 bis 22.30 Uhr in einem Saal mit 400 Plätzen und mit Klavier, aber ohne Scheinwerfer, so die Ansage von Org-Leiter Hommel. Um 22.30 sollte der Abtransport der Requisiten zum Bahnhof Velgast erfolgen. Bis 23.30 fand – wie gehabt – der obligatorische „Tanz mit unserer Kapelle“ statt und gleich danach der Rücktransport ins Quartier nach Franzburg. So zumindest ist es im Organisationsplan vermerkt, und ungefähr so wird es wohl auch gewesen sein. Die Studenten waren nun schon zwei Wochen unterwegs, hatten in den vorpommerschen Dörfern, im Hinterland von Greifswald und Stralsund, zehn Auftritte absolviert, sich in der Freizeit mit ihrem neuen Programm beschäftigt und bei nasskaltem Wetter keine Möglichkeit zur Entspannung am Strand gehabt. Jetzt wollten sie eigentlich nur noch nach Hause oder Urlaubmachen. Die Mehrheit zog es zurück nach Leipzig und von dort in die Heimatorte. Der Organisations-Plan vermerkt für den 2. August: Abfahrt um 4.40 in Franzburg und über Velgast, Schwerin und Magdeburg die Ankunft um 17.41 in Leipzig.
Die Generalprobe verkommt zur „konterrevolutionären Sauerei“
Pünktlich um neun Uhr am 5. September erschienen die Genossen der Parteigruppe des Kabaretts, der (Kabarett-)Parteiorganisator Heinz-Martin Benecke, seine Stellvertreterin Elfriede Ewald und Interner Link: Peter Sodann als einfaches (Kabarett-)Parteimitglied, bei Klaus Höpcke in der SED-Kreisleitung der Universität. Das Büro der Partei befand sich in der Ritterstraße, in unmittelbarer Nachbarschaft zum Rektorat. Ebenfalls anwesend waren an diesem Vormittag zwei namentlich nicht bekannte Genossen, einer von ihnen – so ist aus den Dokumenten ersichtlich – gehörte der veterinär-medizinischen Fakultät an. Höpcke, als Sekretär für Agitation und Propaganda auch für das Studentenkabarett verantwortlich, hatte zwar knapp zwei Wochen zuvor das vorläufige Textbuch erhalten, war jedoch aufgrund der Hektik, die nach dem 13. August in allen Parteileitungen herrschte, nicht zum Lesen gekommen.
Der Mauerbau zwang die Funktionäre zu einer noch intensiveren Agitation und Propaganda. So wird sich Genosse Höpcke erst kurz vor der Generalprobe, die für den 5. September anberaumt war, mit den Texten der „Spötter“ befasst und dabei ein ungutes Gefühl bekommen haben. Dem Buch von Ernst Röhl, der wohl bei seinen späteren Recherchen mit Höpcke darüber gesprochen hat, sind interessante Details zu den internen Vorgängen in der Parteileitung der Universität zu entnehmen. Röhl schildert auch den Disput über die Volkskammer-Szene: Er, Höpcke, könne die Sache mit dem Zwischenruf in der Volkskammer nicht verstehen. Mit der Realität habe das doch nicht das Geringste zu tun, und er verkündete:
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„Entscheidung: Szene ja, Schlußpointe nein!“ Das wiederum konnte Sodann nicht verstehen und meinte: „Versteh ich nicht.“ „Wieso verstehst du das nicht?“ „Weil ich es nicht verstehen kann! Ohne Pointe ist die Szene doch kompletter Blödsinn.“ „Seh ich nicht so, Peter. Euch fällt es doch nicht schwer, einen neuen Schluß zu erfinden.“ „Welchen hättest du denn gern?“ „Zum Beispiel: Eine Leiche wundert sich zu Tode… (…) Ihr könnt doch Holmes und Watson sich zu Tode wundern lassen über … meinetwegen über die Politik der SPD, das wär’s doch…“
Inwieweit auch über andere Szenen auf so absurde Weise von Höpcke und Genossen in diesem Kreis diskutiert wurde, ist nicht überliefert. In einem der „Gespräche“, die Benecke in der Stasi-Untersuchungshaft mit seinem Vernehmer Claus Wällnitz führte, berichtete er Tage später, dass es in der 45 Minuten dauernden Aussprache zu heftigen Auseinandersetzungen gekommen sei. Dabei seien sich die „Spötter“-Genossen bei ihrer Verteidigung ebenso einig gewesen wie die Genossen Höpcke und Co. in ihrer Kritik. Um ihre Premiere zu retten, schlugen die Studenten vor, das Programm bis zum Abend zu überarbeiten. Von den Genossen der Uni-Parteileitung, so Benecke in seiner Vernehmung am 28. November 1961 , hätten sie noch Hinweise auf einige wichtige Themen erhalten, wie Verteidigungsbereitschaft, Hamsterkäufe, Abhören von Westsendern.
Nach der Aussprache in der Universitäts-Parteileitung eilte das Genossen-Trio Ewald, Benecke und Sodann in den Keller. Dort warteten bereits die übrigen Kabarettisten. Noch aufgewühlt von dem Gespräch bei Höpcke berichteten Sodann und Benecke, dass das Programm so nicht aufgeführt werden könne. Ihm liege, so die Sicht der Parteileitung, eine „falsche Konzeption“ zugrunde, es hätte „schwerwiegende politische Schwächen“ und müsse „überarbeitet werden“.
Diese Kritik wirkte zunächst deprimierend auf das Ensemble. Doch die Mehrheit konnte diese Einschätzung nicht teilen, zu sehr waren sie durch die intensiven Proben der vergangenen Tage mit den Texten und ihren Rollen verbunden. Auch Sodann gab erneut zu erkennen, dass die Genossen der Parteileitung und die für den Abend zu erwartende „Abnahmekommission“ keine Ahnung von Satire hätten. Er schlug dennoch vor, einige „harte Formulierungen“ aus einzelnen Szenen zu streichen, das „DEFA-Lustspiel“ ganz herauszunehmen, ebenso die Szene „Müdologie“. Er halte diese Nummern zwar für politisch richtig, wolle aber die für den nächsten Tag geplante Premiere nicht gefährden. In der teils kontrovers geführten Diskussion kam die Gruppe überein, die empfohlenen Themen Verteidigungsbereitschaft, Hamsterkäufe und Abhören von Westsendern zusätzlich in das Programm aufzunehmen. So entstanden in den verbleibenden Stunden bis zur Abnahme am Abend die Szenen „Armee“, „Ochsenköpfe“ und „Schmalzfleisch“, die auch noch einstudiert werden mussten. Im „Spötterkeller“ war große Hektik angesagt.
Der „Hauptstoß“ gegen den Westen fehlt
Nachmittags, so gegen 14 Uhr, erschien überraschend der Sekretär für Agitation und Propaganda der FDJ-Kreisleitung, Otto Seifert, im Keller. In seinem Gefolge befanden sich der Vorsitzende der Kulturkommission der Universität, Rudolf Gehrke, die Leiterin des Studentenklubs Kalinin, Lucie Hahn, sowie Georg Perlbach, Student am Franz-Mehring-Institut. Letzterer war in den vergangenen Tagen bereits öfter im Keller aufgetaucht.
Auch der an der Universität offiziell für das Kabarett zuständige Jugendfunktionär Seifert – der „Rat der Spötter“ unterstand als Studentenkabarett der FDJ-Kreisleitung – erklärte an diesem Nachmittag dem Ensemble, dass das Programm auf keinen Fall so belassen werden könne. Seifert wörtlich: „In der gegenwärtigen Zeit und vor allem auch während der Messe müsste der Hauptstoß gegen den Militarismus in Westdeutschland gerichtet sein.“ Heftig widersprach der im Keller ebenfalls anwesende Grafiker Rolf Herschel, der, wie schon Jahre zuvor, die Ausgestaltung des Programms übernommen hatte. Ein Programm, das den westdeutschen Militarismus in harter Form kritisieren würde, sei „für die Abschlüsse während der Herbstmesse mit westdeutschen Handelspartnern nicht günstig“.
Es wurde nicht lange diskutiert an diesem Nachmittag. Die Meinung der Delegation war eindeutig. Auch „Spötter“-Freund Perlbach erklärte, „dass er, falls es nach ihm ginge, das gesamte Programm verbieten würde“. Mit dieser Aussage verließ die Abordnung um FDJ-Sekretär Seifert den Keller, wütend über die Uneinsichtigkeit der Studenten. Die Kabarettisten unterdessen schrieben und probierten die neuen Texte. Viel Zeit blieb nicht mehr bis zur Abnahme.
Kurz vor 19 Uhr erschien die Abnahmekommission im Keller. An der Spitze der Abordnung stand Gottfried Handel, Stellvertreter des Ersten Sekretärs der SED-Parteileitung der Universität. In seinem Schlepptau befanden sich als Mitglieder der Kulturkommission Rudolf Gehrke und Lucie Hahn, mehrere unbekannte Vertreter von Partei und Jugendverband, unter ihnen der den „Spöttern“ vertraute Student Perlbach. Ebenfalls gekommen waren Helene Quinten, die Freundin von Ernst Röhl, sowie Elke Herschel, die Ehefrau des Grafikers. Herschel hatte sie über das Hin und Her informiert. Verunsichert, aber doch gespannt auf das neue Programm, hatten sie in der letzten Reihe Platz genommen. Die Truppe um Sodann und Benecke war ziemlich aufgeregt. Und dann ging es auch schon los.
„Das Licht im Saal verlischt. Der Vorhang öffnet sich. Auf der schummrigen Bühne ein Grabstein. Der kahle Ast einer Trauerweide. Rabengekrächz. Hundegebell. Zwölfmal schlägt blechern ein Glöckchen. Am Flügel phantasiert Ruckhäberle hemmungslos in Moll. Alles ist so maßlos traurig. Auftritt Totengräber. In wehenden weißen Laken schweben die Geister ein … In diesem Augenblick schwebt auch die leicht verspätete Renate Richter ein. Still setzt sie sich in die letzte Reihe und bricht beim Anblick des in ihr Bettlaken gehüllten Geistes HaEm in albernes Gelächter aus. Unbekannte aus vorderen Reihen drehen sich ärgerlich um. Renate blickt in versteinerte Gesichter, und ihr fällt auf, daß nur sie allein zu lachen wagt. Daraufhin verstummt auch sie.“
So nach Aussage von Ernst Röhl die Stimmung der ersten Minuten der Vorführung. Helene Quinten wird ihm die gespenstische Situation geschildert haben, die auf der Bühne und im Zuschauerraum gleichermaßen geherrscht hat. Im weiteren Verlauf des Programms hat niemand mehr zu lachen gewagt. Im Gegenteil. Die einzelnen Szenen wurden vom „Pflicht-Publikum“ mit unverständlichem Gemurmel kommentiert, wie sich Helene Quinten noch heute erinnert:
„Es gab keinen Beifall, auch nicht nach den West-Nummern. Und bei der Szene mit Walter Ulbricht kam es zu ersten Zwischenrufen. ‚Unerhört!‘, ‚Frechheit!‘ Ich höre es heute noch. Bei der letzten Szene vor der Pause, es ging da um Klavierbauer, wurden die Proteste lauter. Die Stimmung war auf einmal so gereizt, dass mir richtiggehend schlecht wurde. In der Pause bin ich raus an die frische Luft. Ich konnte das nicht mehr ertragen.“
Nach der Pause hatte sich die Empörung beim „Publikum“ zunächst gelegt. Offensichtlich waren die Genossen diszipliniert worden. Aber bald schon ging es wieder los. Bei der Szene „Dr. Aal“ machte sich erneuter Unmut breit. Darsteller Sodann traute sich dennoch, das Neue Deutschland demonstrativ aus dem Hinterteil des Plüschhundes zu ziehen. Da wurde im Zuschauerraum erstmals das Wort „Konterrevolution“ gemurmelt. Bei den folgenden Szenen mit DDR-Thematik war es immer häufiger und lauter zu vernehmen, vor allem bei „Mei Otto“. Erstaunlich, dass die Vorstellung nicht abgebrochen wurde. Ein Wunder, dass die Kabarettisten durchgehalten haben.
„Die letzten Takte des Finales verklingen. Gespannte Stille breitet sich aus. Im Saal geht das Licht an. Finster blickt die Abnahmekommission.“
So beschreibt Röhl die Stimmung nach Ende der Aufführung. Seine Freunde haben es ihm später ausführlich geschildert, denn der frischgebackene Redakteur der Magdeburger Volksstimme musste an jenem Dienstag einen Bericht über ein Kulturforum auf dem Land zur Vorbereitung der Wahlen am 17. September fertigstellen und konnte erst am Samstag nach Leipzig zurückkehren. Röhl zitiert außerdem Gottfried Handel, den Vorsitzenden der Abnahmekommission, mit dessen Fazit des Abends: „Das Programm, das wir soeben mit ansehen mußten, Genossen, wird in der vorliegenden Form nicht aufgeführt werden. Es ist politisch falsch, schlimmer, es ist eine konterrevolutionäre Sauerei!“
Daraufhin begann im Keller eine überaus emotionale Diskussion. Elke Herschel verließ fluchtartig den Keller. Ihr kleiner Sohn war allein zu Hause; sie hatte ja nur mal eben das neue Programm sehen wollen. Ihr Mann empörte sich als erster über die Anschuldigungen. Er wies auf den an der Kellerwand von ihm angebrachten kunstvollen Götter-Fries und forderte von dem dort abgebildeten Zeus ein „Donnerwetter“. Sodann musste ihn beruhigen, ebenso seinen cholerisch veranlagten Mitstreiter Albani, der seine Fäuste erregt in Richtung Handel schwang. So ist in späteren Darstellungen auch von Angriffen auf Mitglieder der Abnahmekommission die Rede. Mitten in die angespannte Stimmung im Keller platzten zwei frohgelaunte Besucher, Edgar Külow und Hanskarl Hoerning. Die befreundeten „Pfeffermüller“ wollten den „Spöttern“ zur gelungenen Generalprobe gratulieren. Sie wurden jedoch von Gottfried Handel betont ungastlich empfangen und mit wegweisend ausgestrecktem Arm Richtung Ausgang bugsiert. Mit einem „Na, dann…“ und „Wir dachten ja nur…“ verließen die beiden Kabarettprofis kleinlaut den Keller.
Handel fasste zusammen: „Das Programm richtet sich gegen die Partei und auch gegen den Staatsrat, vor allem gegen seinen Vorsitzenden Walter Ulbricht. Das Programm wird in dieser Form nicht aufgeführt werden. Ein neues Programm wird erarbeitet, und zwar nach intensiver Klärung der Grundfragen, guten Abend!“
Mit dieser klaren Ansage verließ die Abnahmekommission den Keller. Zurück blieb ein ratloser „Rat der Spötter“ nebst Anhang. Besonders die neuen Ensemblemitglieder wie Herbert Fischer, Gero Hammer und Udo Taubert waren zutiefst verunsichert. Zunächst stolz darauf, in dem an der Universität gefeierten Kabarett mitwirken zu können, hielten sie sich in den geführten Diskussionen um die allgemeine politische Situation und die Texte zurück. Sie vertrauten auf die Erfahrungen der Alten. Schließlich hatten diese seit Jahren große Erfolge vorzuweisen. Sie galten ihnen auch politisch als Vorbilder. Die Erklärung Sodanns, sich gleich zu Beginn der Kubakrise freiwillig für einen Einsatz in Kuba zu melden, war für Udo Taubert „Ausdruck größter Ergebenheit für den Marxismus-Leninismus“, wie er im Disziplinarverfahren später erklärte. Auch Gero Hammer verband mit der Kabarettarbeit die Hoffnung, sein „ideologisches Bewusstsein“ zu verbessern. Und nun das plötzliche Verbot. Den damit einhergehenden Vorwurf der Konterrevolution hatten sie, wie auch alle anderen, an diesem Abend noch gar nicht begriffen, er klang einfach so absurd.
Ratlos löste sich die Gruppe im Keller auf. Das Geschehene musste erst einmal verdaut werden. Sodann, Benecke, Albani und Herschel waren jedoch noch so erregt, dass sie zur Abkühlung ihrer Gemüter unbedingt ein paar Gläser „Sternburg-Pils“ brauchten. Sie begaben sich ins nahegelegene Cafè am Hochhaus. Mit dabei die Freundinnen Renate Richter und Elfriede Ewald sowie Georg Perlbach, der verständnisvolle Student. Zwar kühlte das Bier den Gaumen, die Gemüter blieben weiter erhitzt. Die „Spötter“ konnten nicht fassen, dass ihr Programm verboten worden war, noch dazu von Funktionären, die, so Sodann immer wieder, keine Ahnung von Kabarett und Satire hätten. „Zum Wohl“, soll Perlbach – so zumindest berichtet es Röhl in seinem Buch – zum Abschluss der Diskussion gesagt haben, „das Leben geht weiter, das Beste ist, man schläft eine Nacht drüber und trinkt morgens einen großen Topp Kaffee, denn ohne Kaffee kann der Sachse nicht kämpfen“. Sodann und Herschel konnten sich nicht beruhigen. Sie begleiteten Perlbach, den kritisch-mitfühlenden Freund nach Hause, der zu allem Überdruss auch noch in der Leninstraße wohnte. In dessen Wohnung diskutierten sie weiter und waren am Ende im Morgengrauen keinen Deut klüger.
Die weiteren Lebenswege der „Spötter“ verliefen natürlicherweise sehr unterschiedlich. Eines jedoch eint sie alle: Jeder für sich war in den Jahren nach Inhaftierung und der Bewährung in der Produktion erfolgreich. Alle, der wegen „konterrevolutionärer“ Umtriebe 1961 im engeren, wie weiteren Sinne in Ungnade gefallenen Studierenden, konnten in den Jahren danach wieder studieren und alle haben eine erfolgreiche berufliche Entwicklung erreicht. Das verbotene Programm blieb jedoch verboten und kam nie zur Aufführung. Das Buch enthält das gesamte im Jahr 1961 verfasste Textbuch, das damit erstmals publiziert wird. Zudem enthält das Buch Informationen zu den Lebensläufen der Kabarettmitglieder sowie Kurzbiografien zu einigen Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit, die für das Verbot und die Repressalien gegen die „Spötter“ verantwortlich waren.
Zitierweise: Jürgen Klammer, „‘Eine konterrevolutionäre Sauerei‘ Kabarett-Zensur im Sommer 1961 in Leipzig", in: Deutschland Archiv, 22.10.2024, Link: www.bpb.de/555695. Das Buch von Jürgen Klammer "Konterrevolution im Kabarett-Keller – Leipzig Sommer 1961" ist 2023 im Externer Link: Selbstironieverlag erschienen.
geboren in Herzberg/Elster (Brandenburg), Studium der Finanzwirtschaft und Informatik und Promotion in Ost-Berlin, Schüler- und Studenten-Kabarettist, Informatiker, Dozent, Berufsverbot, ‚Ausbürgerung’ (1979), im Westen als Consultant tätig, später Publizist und Verleger, Kabarett-Autor (u.a. für DISTEL, HERKULESKEULE, Brechbohnen), Kabarett-Kritiker und Kabarett-Historiker (Kabarett-Geschichte der DDR, tätig für Stiftung Deutsches Kabarettarchiv).
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