„Und die Mauern werden fallen und die alte Welt begraben“
Basil Kerski
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Über die Bedeutung von politischen Träumen und einer (in Deutschland fast) vergessenen europäischen Revolution, angestiftet durch die polnische Bürgerrechts- und Gewerkschaftsbewegung Solidarność. Ohne sie als Wegbereiter hätte es auch die Friedliche Revolution in der DDR 1989/90, den Mauersturz am 9. November 1989 und in dessen Folge die Deutsche Einheit nicht gegeben. Aber in Deutschland ist diese Erfahrung weitgehend vergessen. Ein Denkanstoß aus Danzig 35 Jahre nach 1989.
Das Lied „Die Mauern“ („Mury“) des polnischen Dichters und Sängers Jacek Kaczmarski war vor vier Jahrzehnten die Hymne der antikommunistischen Opposition in Polen. „Und die Mauern werden fallen, fallen, fallen / Und sie werden die alte Welt begraben!“, heißt es im Refrain des 1978 von Kaczmarski komponierten Liedes. Jede Polin und jeder Pole wusste, welche Mauern und Gitter und welcher Stacheldraht gemeint waren.
Kaczmarski sang nicht nur von Gefängnissen und Lagern. Mit den Mauern seines Liedes assoziierten Polinnen und Polen auch den Eisernen Vorhang, der den Kontinent teilte und jene Grenzen, hinter denen die Gesellschaften der Sowjetblock-Staaten eingesperrt waren. Wer in den 1980er-Jahren Kaczmarskis „Mury” in Polen sang, dachte auch an die Berliner Mauer. Für die Polen war sie nicht nur ein Symbol der sowjetischen Besatzung Ostdeutschlands, sondern der kommunistischen Gewaltherrschaft im gesamten Mitteleuropa.
Ein ambivalentes Verhältnis zu Russen und Deutschen
Die Polen hatten seit dem Zweiten Weltkrieg ein ambivalentes Verhältnis zur Sowjetunion und ihren Truppen. Vor 85 Jahren, am 1. September 1939, überfiel Deutschland die Republik Polen und löste damit den Zweiten Weltkrieg aus.
17 Tage später marschierte die Rote Armee im Osten Polens ein. Der polnische Staat konnte diesen Zweifrontenkrieg nicht gewinnen. Hitler und Stalin teilten sich Polen auf. Dank des Bündnisses mit der Sowjetunion konnten die Deutschen nicht nur eine Gewaltherrschaft über Polen errichten, sondern auch ihre weiteren Blitzkriege im Westen Europas führen. Der Nazi-Staat wurde zu einem europäischen Imperium dank des Bündnisses mit der Sowjetunion. Das Dritte Reich ging aber ab 1941 unter, als Hitler diese blutige Allianz mit Stalin aufkündigte und Moskau ein Bündnis mit den Westalliierten gegen die Deutschen einging.
Als die sowjetischen Truppen 1944 polnischen Boden erreichten, beendeten sie den Naziterror. Viele Opfer der deutschen Herrschaft konnten so überleben. Doch kamen mit Stalins Truppen die Feinde der polnischen Unabhängigkeit, ehemalige Verbündete Hitlers, zurück. Zwar ging das totalitäre Trauma der NS-Herrschaft in Polen zu Ende, doch kam damit keine Freiheit für alle Bürgerinnen und Bürger, keine Demokratie. Stalin zog auf der Potsdamer Konferenz Polens Grenzen neu; es wurde brutal nach Westen verschoben, verlor seine Ostgebiete und übernahm die westlich von Oder und Neiße gelegenen deutschen Gebiete sowie einen Teil des ehemaligen Ostpreußens.
Die Sowjetunion etablierte gewaltsam einen polnischen Satellitenstaat, polnische Demokraten wurden brutal verfolgt. In der Zeit des Stalinismus fanden sich ehemalige polnische Auschwitz-Häftlinge in kommunistischen Gefängnissen wieder, wie zum Beispiel der legendäre Protagonist der deutsch-polnischen Verständigung Władysław Bartoszewski. Die Grenzveränderungen in Mitteleuropa wurden durch brutale Zwangsmigrationen der Deutschen, Polen und Ukrainer vollzogen. Die sowjetische Herrschaft über Polen wurde durch die Präsenz der Roten Armee an der Weichsel abgesichert. Und die hunderttausenden Rotarmisten und KGB-Vertreter östlich der Elbe konsolidierten die Kontrolle Moskaus über ganz Mitteleuropa.
Als Kaczmarski 1978 sein Lied „Mauern“ schrieb, glaubten immer weniger Menschen in Polen, dass der marxistische Realsozialismus zu einer echten Demokratisierung fähig sei. Im Juni 1953 gingen in der DDR Arbeiterinnen und Arbeiter auf die Straßen, um gegen den diktatorischen Arbeiter- und Bauerstaat zu demonstrieren. Der Protest wurde von derei SED mit Unterstützung der sowjetischen Truppen niedergeschlagen. In Polen erhoben sich 1956, 1968 und 1970 Menschen gegen das Regime, um für ihre Rechte einzutreten. Auch diese Proteste wurden gewaltsam niedergerungen, doch nach 1956 und 1970 versprachen die polnischen Parteisekretäre, mehr auf die Menschen zu hören. Hoffnung auf politische und ökonomische Reformen machten sich breit, Hoffnungen auch auf einen dritten, polnischen Weg im Rahmen des Sowjetimperiums.
Doch die Träume von der Demokratisierung des Realsozialismus erwiesen sich in den 1970er-Jahren endgültig als Illusion. Immer mehr junge Menschen wollten die Spielregeln des kommunistischen Staates nicht hinnehmen und begannen, alternative Lebensformen zu praktizieren. Im illegalen Untergrund wurden Bücher und Zeitschriften veröffentlicht, unabhängige Menschenrechtsorganisationen und Bildungsinitiativen gründeten sich. Eine vom Machtmonopol der Kommunisten unabhängige politische und kulturelle Sphäre entstand. Junge Menschen gaben die Hoffnung auf eine Reform des Sozialismus auf und begannen, von einem Weg hin zu einer Welt der Freiheit und Menschenrechte zu träumen. Ihr Ideal war ein Europa ohne Stacheldraht, ohne äußere und innere Mauern.
Die politischen Visionäre unter ihnen begannen, über ein Mitteleuropa ohne Sowjettruppen nachzudenken, über eine europäische Ordnung, mit einem souveränen Polen und einem vereinigten Deutschland im Rahmen eines sich integrierenden Europas. Ein vereinigtes, demokratisches Deutschland ohne Sowjettruppen verstanden polnische Oppositionelle zunehmend als eine Bedingung für das Ende der Sowjetherrschaft in Mitteleuropa und somit für die Unabhängigkeit Polens. Die Teilung Deutschlands wurde zunehmend nicht mehr als etwas Positives angesehen – als Kontrolle über einen europäischen Riesen –, sondern als Garantie für die Sowjetherrschaft in Mitteleuropa. Das Verhältnis zu Deutschland entwickelte sich positiver.
Europas größte verändernde Macht: Die Solidarność
Die demokratischen Träumer wuchsen ab 1980 zu einer einzigartigen politischen Macht heran. Im August 1980 entfachte ein Streik der Arbeiter in der Danziger Lenin-Werft einen politischen Flächenbrand. In ganz Polen protestierten Menschen aus allen Schichten der Gesellschaft für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte. Der Protest war so groß, dass die Machthaber nicht umhinkamen, auf die Forderungen der Protestierenden einzugehen. Die Kommunisten mussten einen Teil ihrer Macht abgeben. Die Protestbewegung vom Sommer 1980 gründete die Freie Gewerkschaft Solidarność, Solidarität. Zehn Millionen (!) Polinnen und Polen traten dieser Organisation bei. Es entstand somit in kurzer Zeit die einzige unabhängige, demokratische Menschenrechtsorganisation im gesamten Sowjetblock – und dann noch in dieser beeindruckenden Dimension. Die Solidarność schuf eigene Organisationsstrukturen und Medien, und sie wählte demokratisch einen Vorsitzenden, den Danziger Elektriker Lech Wałęsa.
Der Arbeiter Wałęsa stellte nicht nur den Alleinvertretungsanspruch der Kommunisten für die Arbeiterschaft infrage, er ging einen Schritt weiter. Er wusste, dass eine gerechte Gesellschaft nur auf der Basis der universellen Menschenrechte entstehen konnte. Wałęsa wollte keine neue, reformierte Arbeiterdiktatur, sondern eine pluralistische Demokratie. Er wurde zur Ikone der Menschenrechtsbewegung und erhielt dafür 1983 den Friedensnobelpreis.
Kaczmarskis „Mauern“ wurde zur inoffiziellen Hymne der Solidarność. Die Melodie der „Mauern“ übernahm Kaczmarski von dem 1968 entstandenen Lied „L’estaca“ des katalanischen Sängers und Franco-Gegners Luis Llach. Mit Llach verband Kaczmarski der Kampf des Künstlers für die Menschenrechte gegen Diktaturen. Beide verband auch das Exil: Llach musste vor dem faschistischen Regime nach Frankreich fliehen, Kaczmarski verließ Polen während der Jaruzelski-Diktatur Richtung Bundesrepublik. Nach dem Untergang der Regime kehrten Llach und Kaczmarski in ihre Heimat zurück.
Menschen im gesamten Sowjetblock, auch in der DDR, waren fasziniert von der polnischen Freiheitsbewegung Solidarność. In Moskau, Ostberlin und anderen kommunistischen Hauptstädten machten sich die Diktatoren Gedanken, wie sie die Ausbreitung der friedlichen Revolution aus Polen aufhalten konnten. Honecker und Mielke beendeten im Herbst 1980 den passfreien Reiseverkehr mit Polen. Mit Hetzkampagnen in ihren Medien gegen die Solidarność wollte die SED ihre Herrschaft verteidigen. Die Stasi setzte zudem antipolnische Witze und aufgewärmte alte Vorurteile in Umlauf, um den Graben zwischen Deutschen und Polen zu vertiefen. Die Polen würden mit ihren Forderungen nach Freiheit den Frieden in Europa gefährden, so das Argument der SED-Propaganda. Das fand auch im Westen Anklang, wo sich die Gesellschaft in Sympathisanten und in diejenigen aufteilte, denen stabile Beziehungen zu Moskau und die Zuverlässigkeit der Gaslieferungen aus der Sowjetunion wichtiger waren als der Freiheitskampf der Polen. Ich erlebte die Solidarność-Zeit in den 1980er-Jahren als Kind eines irakischen Flüchtlings und einer Polin im Westen Berlins. Gebannt beobachteten wir die Entwicklung in der polnischen Heimat. 1980 und 1981 konnten wir nach Danzig reisen und aus der Nähe erleben, wie die Solidarność Polen veränderte.
Um nach Polen zu gelangen, mussten wir zwei Mauern überqueren, die Berliner Mauer zwischen den beiden Stadthälften und dann die streng bewachte Grenze zwischen der DDR und Polen. An der ostdeutsch-polnischen Grenzen wurden Polen von den Grenztruppen der DDR oft schikaniert, wir spürten den Hass gegenüber den aufmüpfigen Nachbarn. Die an die Wehrmacht erinnernden DDR-Uniformen machten mir Angst. Bedrückend grau war der Osten Berlins, in der Luft war Misstrauen zu spüren, die Gesellschaft war durch Stasi-Verfolgung eingeschüchtert. Zwar mochte ich das Klima Ost-Berlins nicht, doch faszinierte mich zugleich das historische Zentrum der Stadt, ihr preußisches Erbe, ihre legendären Museen, ein historischer Stadtkern, der mir im Westteil Berlins fehlte. Ost-Berlin Anfang der 1980er war auch eine Stadt, in der die Wunden des Krieges noch stärker zu spüren waren als im Westen. Die gefühlte Nähe zum Zweiten Weltkrieg weckte in mir widersprüchliche Gefühle, Angst und Neugier, Distanz und Offenheit.
Ost-Berlin blieb für uns aber nur eine Durchgangsstation auf dem Weg nach Polen. An der östlichen Peripherie, am Bahnhof Lichtenberg, startete der Nachtzug Richtung Polen. Östlich der Oder war die Luft in der Solidarność-Zeit freier, die Menschen gingen mit geradem Rücken, stolz war man auf das Erkämpfte, doch auch Angst vor sowjetischer Rache schwebte in der Luft. Es war schließlich die Zeit der Herrschaft Leonid Breschnews in Moskau. Jede Form der Infragestellung des kommunistischen Machtmonopols wurde brutal bekämpft. Es war eine Zeit der Betonköpfe und nicht der Reformer. 1979 war die Sowjetunion in Afghanistan einmarschiert, um ihre kommunistische Einflusssphäre zu verteidigen. 1956 in Ungarn und 1968 in der Tschechoslowakei griffen sowjetische Herrscher zu ähnlich gewaltsamen Methoden. Politische Veränderungen ohne die Zustimmung Moskaus waren unvorstellbar.
Nach der Solidarność-Gründung forderten vor allem ostdeutsche Kommunisten, darunter Erich Honecker und Erich Mielke, den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in Polen. Deutsche Truppen gemeinsam mit der Roten Armee in Polen einmarschierend, das hatte Europa bereits 1939 erlebt. Honecker und Mielke scherten sich nicht um die negativen Traditionen deutsch-russischer Allianzen gegen Polen. Der Moskauer Führung war allerdings bewusst, wie brandgefährlich ein Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in Polen gewesen wäre. Zerschlagen wurde die Freiheitsbewegung Solidarność schließlich durch die Armee der Volksrepublik Polen. Kommunistische Generäle verhängten am 13. Dezember 1981 das Kriegsrecht über das ganze Land. Die Solidarność wurde verboten, tausende ihrer Vertreter wurden inhaftiert oder aus ihrer Arbeit entlassen.
Der Militärputsch rettete die Herrschaft der Kommunisten in Polen jedoch nur für wenige Jahre. Die Solidarność wurde als offizielle Organisation zwar zerschlagen, doch sie ging in den Untergrund, sie wurde zum Mythos des gewaltfreien Kampfes. Der Kommunismus in Polen verlor endgültig die Reste seiner Glaubwürdigkeit. Noch lauter als zuvor sangen Polen Kaczmarskis „Mauern“. Den Traum von einem freien Polen in einem geeinten Europa konnten die Machthaber nicht wirksam auslöschen. Für die meisten Westeuropäer war das Kriegsrecht in Polen hingegen der Beweis dafür, dass sich in Europa nichts ändern würde. Die Stabilisierung der Sicherheitsarchitektur des Kalten Kriegs hatte Priorität. Veränderungen seien für den Frieden gefährlich, war damals oft zu hören. Um den Frieden in Europa zu sichern, müssten die Einflusssphären des Sowjetreiches akzeptiert werden. Dieses Argument hören wir auch heute in Zeiten des Ukraine-Krieges von vielen Russlandverstehern.
Schon vor dem Mauersturz: Im Westen ein ausgeprägtes Desinteresse am Osten
Die Westeuropäer hatten sich im geteilten Europa gut eingerichtet, im Schatten des Eisernen Vorhangs blühte im Westen die Konsumgesellschaft und das Desinteresse am Osten. Ich spürte das deutlich als polnisch-irakischer Jugendlicher in West-Berlin. Wir lebten dort auf einer Insel in der DDR, doch der Realsozialismus interessierte nur die wenigsten. Mental waren die West-Berliner weit im Westen, das revolutionäre Polen war weit weg. Da halfen auch nicht die Bemühungen westdeutscher Medien, die in den 1980er-Jahren sehr engagiert den Freiheitskampf der polnischen Nachbarn dokumentierten. Die Nachrichten aus dem Sowjetblock störten nur die Planungen für den Spanien- oder Italien-Urlaub. In dieser Ignoranz fühlte ich mich sehr fremd. In der langen Zeit zwischen 1982 und 1989, als die Solidarność verboten war, sangen viele Polen Kaczmarskis „Mauern“ noch leidenschaftlicher als zuvor. Und sie träumten weiter vom Fall des Eisernen Vorhangs und der Berliner Mauer. Für nicht wenige Europäer waren sie damals naive und politisch gefährliche Romantiker, denn mit ihrem friedlichen Widerstandskampf, so hieß es, würden sie den russischen Bären provozieren.
Der zunehmende ökonomische und ökologische Verfall der Sowjetunion zwang die Moskauer Führung Mitte der 1980er-Jahre zu Reformen. Die KPdSU unter Michail Gorbatschow wollte ihre materiellen Ressourcen auf die Konsolidierung der Sowjetunion konzentrieren und überließ ihren Satellitenparteien mehr Freiraum für die Lösung der Probleme in den einzelnen Staaten des Ostblocks.
In Rumänien, der Tschechoslowakei und der DDR reagierten die Diktatoren auf den neuen Kurs in Moskau nicht mit einer Liberalisierung, sondern mit einer Verschärfung ihrer Gewaltherrschaft. In Ungarn und Polen versuchten hingegen die kommunistischen Machthaber, politische und soziale Spannungen durch Reformen und den Dialog mit der Opposition zu entschärfen. Ähnlich wie in der Sowjetunion verschärfte jedoch die Reformpolitik die Erosion der kommunistischen Herrschaft und beschleunigte schließlich den Machtverfall.
Im Frühjahr 1989 blickte die Weltöffentlichkeit auf Polen und Ungarn. Dort passierte Unglaubliches: In Ungarn verzichtete die KP-Führung im Stillen auf ihr Machtmonopol und ließ unabhängige Vereine und politische Vereinigungen zu. Zudem wurden Reisepässe ausgestellt, Menschen durften ins kapitalistische Ausland reisen. Ungarn begann zudem mit der Entschärfung seiner Grenzanlagen zum Westen.
Fasziniert waren die politischen Beobachter der freien Welt aber ganz besonders von der Entwicklung in Polen. In Warschau setzten sich Anfang Februar 1989 kommunistische Machthaber und Bürgerrechtler, also Täter und Opfer, ehemalige Gefängniswächter und Gefangene, an einen Runden Tisch, um nach Wegen aus der politischen Krise zu suchen. Die Weltpresse verfolgte aus unmittelbarer Nähe diese Verhandlungen. Die DDR-Gesellschaft wurde über die westdeutschen Medien kompetent über diese Verhandlungen informiert. Von Februar bis Ende März 1989 tagte der Runde Tisch in Warschau und wurde zu einem oft kopierten Instrument für andere friedliche Revolutionen in Europa. Als Folge der Vereinbarungen wurde im April die Solidarność wieder zugelassen, freie Wahlen wurden für den 4. Juni 1989 angesetzt. Auch die Polen erhielten nun Reisepässe und durften frei reisen.
4. Juni 1989: Chinas brutaler Ausbau der Diktatur und die Folgen
Der 4. Juni 1989 wurde zu einem Wendepunkt in der Weltgeschichte. An diesem Tag rollten Panzer durch Peking und stoppten blutig die friedliche Revolution junger chinesischer Arbeiter und Studenten. Der chinesische Traum von einer Demokratisierung durch Verhandlungen wurde brutal gestoppt. Tausende Menschen wurden ermordet oder inhaftiert. Chinas KP begann, ein neues Modell der Diktatur zu errichten: einen von Kommunisten kontrollierten Kapitalismus. Ein neues Weltimperium entstand, das heute in der gesamten Welt versucht, offene Gesellschaften und Demokratie zu bekämpfen und damit seine Macht im Land und außerhalb seiner Grenzen zu sichern.
Für Europa hatte der 4. Juni 1989 eine andere Wirkung. In der DDR weckte er noch mehr Misstrauen gegenüber der SED-Führung, die sich demonstrativ Seite an Seite mit Chinas Kommunisten stellte und so die Sorge wachsen ließ, dass auch die DDR Demonstrationen brutal niederschlagen könnte. Umso mehr wurde aus der DDR-Bürgerrechtsbewegung heraus Wert darauf gelegt, dass jeglicher Protest friedlich stattzufinden habe, um der Staatsmacht keinen Anlass für hartes Durchgreifen zu bieten.
In Polen gewann die Solidarność die Wahlen. Im Senat errang sie 99 von 100 Sitzen, die Machthabenden hingegen keinen. Damit entzogen die polnischen Bürgerinnen und Bürger den Kommunisten ihre Legitimation. Im August 1989 wurde der liberale Katholik Tadeusz Mazowiecki zum ersten nichtkommunistischen Regierungschef im Ostblock ernannt. In Ungarn nahm im Juni 1989 der Runde Tisch seine Arbeit auf.
Im Frühjahr und Sommer reisten viele Polen mit neuen Dokumenten nach West-Berlin. Für die von den westlichen Alliierten kontrollierte demokratische Insel brauchten sie kein Visum. Sie kamen und waren neugierig auf den Westen, besuchten Freunde und Verwandte, kamen auch, um westliche D-Mark zu erwerben. Am leeren, von Krieg und Mauerbau zerstörten Potsdamer Platz wuchs 1989 im Schatten der Berliner Mauer ein großer, illegaler (Floh-)Markt, auf dem Menschen aus Polen Waren verkauften, manchmal nur Lebensmittel. Damit kamen sie an die erträumte Westwährung und kauften in West-Berlin in der Heimat begehrte Waren, vor allem Elektrogeräte, die sie in Polen weiterverkaufen konnten. Seine ersten Schritte übte das polnische kapitalistische Kleinkind somit auch auf Berliner Boden.
Der Ansturm polnischer Händler irritierte das bürgerliche West-Berlin. Die polnischen Nachbarn wurden als Ruhestörer und nicht als Boten einer neuen Welt einstürzender Mauern wahrgenommen. Es war eine eigenartige Situation, zum Teil eine absurde Welt. Aus Polen fuhren im Frühjahr, Sommer und frühem Herbst 1989 Tausende von Menschen nach West-Berlin und bestaunten von dort aus die Berliner Mauer. Für die DDR-Bürger war diese Reisefreiheit noch unerreicht. In Polen begann dank der Solidarność schon im Frühjahr 1989 eine neue Epoche, die SED-Herrschaft wackelte damals zwar schon, doch in Ost und West schien eine Demontage der Mauer und die Einigung Deutschlands Mitte 1989 noch weit entfernt, gar utopisch. Die Polen hingegen, durch die Solidarność-Revolution befreit, warteten auf ihren Fall. Denn die Veränderungen in Ungarn und Polen führten im Frühjahr 1989 zu einem so starken politischen Erdbeben, dass es die Fundamente der Berliner Mauer grundlegend beschädigte.
Ermutigt vom Freiheitskampf der Nachbarn gingen im Herbst 1989 schließlich auch die Ostdeutschen auf die Straßen. Am 9. November 1989 wurde endlich die absolute Reisefreiheit für die DDR-Bürger erkämpft, die Grenzübergänge nach West-Berlin und in die Bundesrepublik wurden geöffnet. Die SED musste ihr Machtmonopol aufgeben. Ab Dezember 1989 tagte nach polnischem Muster auch ein Runder Tisch in Ost-Berlin, der die Demokratisierung Ostdeutschlands organisierte.
Erst 2007 verschwanden die Grenzkontrollen zwischen Deutschland und Polen
Die Mauern im Ostblock fielen. Moskau ließ die Demokratisierung Mitteleuropas zu, um zumindest die Sowjetunion zu retten. Dies misslang, weil auch die Nationen innerhalb der Sowjetunion nach Unabhängigkeit strebten. Das Ende der Sowjetunion eröffnete den Menschen in Mittel- und Osteuropa die Chance, auf demokratischem Wege selbst zu entscheiden, in welchem Staatsmodell und innerhalb welchen Bündnisses sie leben wollten. So konnten die Deutschen frei entscheiden, in einem vereinigten Deutschland zu leben, das Mitglied der NATO und EWG, beziehungsweise ab 1993 der EU, war. Polen und Ungarn, die die europäische Revolution 1989 ausgelöst haben, mussten hingegen lange Jahre warten, um Mitglied in NATO und EU zu werden. 1999 wurde die NATO und 2004 die EU um Polen und Ungarn erweitert.
Erst im Dezember 2007 (!) verschwanden alle Grenzkontrollen an der Oder-Neiße-Grenze. Diejenigen Menschen, die mit ihrem Mut als erste die kommunistischen Mauern zum Einsturz brachten, mussten Jahre warten, bis sie in die Europäische Union aufgenommen wurden.
Zitat
Andere Europäer, die heute unsere Werte – in der Ukraine oder in Moldawien – gegen den neuen Moskauer Imperialismus verteidigen, werden noch lange auf dieses Privileg warten müssen. Die neue politische Ordnung in Europa nach 1989 entstand nicht auf dem Schachbrett der Großmächte. Moskau ist nicht von den Westmächten verraten worden, wie es viele Putin-Propagandisten heute behaupten. Die neue Ordnung ist entstanden, weil Menschen sich das Recht erkämpft hatten, selbst über ihre politische Zukunft zu entscheiden, vor allem unabhängig von Moskau. Für die meisten war der Westen das attraktivere politische Modell. Und der Westen kam ihnen nicht gerade mit offenen Armen entgegen, wie vor allem der langwierige EU-Erweiterungsprozess zeigt. Die östlichen Revolutionäre waren für viele Westeuropäer die fremden, ärmeren, ungewollten Nachbarn. Nicht zuletzt die antipolnischen Stimmungen während des britischen Brexit-Referendums haben die Stärke der negativen Stereotype gegenüber den osteuropäischen Nachbarn aufgezeigt.
Der 4. Juni 1989, der Tag der Wahlen in Polen, sowie der 9. November 1989, der Tag des Berliner Mauerfalls, sind zwei Schicksalsdaten der europäischen Geschichte. Ohne die erfolgreiche Revolution in Polen wäre der Berliner Mauerfall nicht möglich gewesen. Ohne Solidarność hätte es auch die Deutsche Einheit nicht gegeben.
In Deutschland ist diese Erfahrung weitgehend vergessen. Zweihundert Jahre lang versuchten die Deutschen ihre nationale Einheit gegen Polen durchzusetzen. Gemeinsam mit Russland teilten sie Polen, negierten seine Unabhängigkeit. 1989 waren polnische und deutsche Demokraten endlich Verbündete. Gemeinsam schafften sie das Unmögliche. Deutschland wurde endlich zu einer vereinten, demokratischen Nation, der 9. November 1989 zu einem positiven Datum der deutschen Geschichte, der helle Kontrast zum antisemitischen NS-Pogrom des 9. November 1938.
Polen wurde nach 1989 zu einer souveränen Demokratie. Dieses einzigartige Bündnis zweier Nachbarn, das 1989 Europa so grundlegend veränderte, sollten Polen und Deutsche mehr schätzen und pflegen als sie es tun, vor allem angesichts der neuen Gefahren im Inneren und Äußeren für die Demokratie in Europa. Den Zusammenbruch der Sowjetherrschaft infolge der 1989-er Revolution hat Wladimir Putin als „Katastrophe“ bezeichnet. Mit dem Krieg in der Ukraine versucht Putin, die imperiale Herrschaft Moskaus im östlichen Europa wiederherzustellen. Das Verhältnis vieler Europäer, vor allem vieler Deutscher, zur Ukraine weckt Déjà-vus aus der Solidarność-Zeit der 1980er-Jahre. Denn was ist wichtiger: die Solidarität mit den Opfern des russischen Imperialismus oder die politische Stabilität in Europa durch eine Akzeptanz von Moskaus Einflusssphären?
Neue Mauern der Abgrenzung
Kaczmarskis „Mauern” ist in Polen heute eine Legende, das Lied wird aber kaum noch gesungen. Ganz anders im Nachbarland Belarus. Dort wurde das von Andrej Chadanowitsch ins Belarussische übertragene Lied zur Hymne der demokratischen Revolution gegen das Lukaschenko-Regime. Kaczmarskis Lied wird zwar als eine Freiheitshymne gesungen, doch oft wird übersehen, dass es kein optimistischer Lobgesang auf Revolutionen ist. Im Kern ist es eine Erzählung über die Einsamkeit des Dichters, der Zeuge einer Revolution wird. Der Freiheitspoet inspiriert die Massen zum Kampf, doch er erfährt nicht nur seinen Einfluss, die Macht seiner Worte, sondern auch seine Machtlosigkeit. Am Ende des Liedes schlägt die Revolution um in eine unkontrollierte Macht der Massen. Die Polarisierung tritt ein, in ein „wir“ und „unsere Gegner“. Und am Ende entstehen neue Mauern, neue Teilungen.
„Sie brachten die Denkmäler zu Fall und rissen das Pflaster auf /Der ist mit uns! Der gegen uns! / Wer allein ist, der ist unser größter Feind!/ Doch war auch der Sänger allein./ (…) Und die Mauern wuchsen, wuchsen, wuchsen…“, heißt es am Ende des Liedes von Jacek Kaczmarski.
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35 Jahre nach den erfolgreichen Revolutionen in Mitteleuropa, nach dem Sieg der Solidarność und dem Fall, ja Sturz der Berliner Mauer entstehen neuen Mauern in Europa, die uns vor „Fremden“ schützen sollen. Ungarn grenzt sich vor Migranten ab. An Polens Ostgrenze, der EU-Außengrenze, wachsen neue Mauern und Eiserne Vorhänge. Mit Zustimmung der EU werden an der polnischen Ostgrenze und anderen Außengrenzen der Union europäische Grundrechte außer Kraft gesetzt. Die Bundesrepublik kontrolliert wieder die Grenzübergänge zu Polen. Polarisierungen prägen unser gesellschaftliches Klima, der „Andere“, „der Fremde“ wird zum Problem. Mit fremdenfeindlicher Politik, mit dem Versprechen zur Errichtung neuer Mauern mehren Extremisten ihre politische Macht und gefährden damit die Demokratie. Die Träume von europäischer Einheit sind schwach, nationaler Egoismus steht hoch im Kurs. Solidarität auf der Grundlage der Menschenrechte ist eine gefährdete Idee.
Kaczmarskis Lied „Mauern“ gab Hoffnung, weil dessen pessimistische Pointe in den dunklen Zeiten der kommunistischen Herrschaft gerne übersehen wurde. Jacek Kaczmarski wollte uns zwar nicht mit dem einfachen Pessimismus eines Dichtereinzelgängers konfrontieren, er wollte uns aber warnen, unsere Werte nicht zu verraten, sie den unkontrollierten Menschenmassen nicht zu opfern. Sonst werden wieder neue Mauern wachsen.
Ich wünsche mir, dass wir unsere alten Träume von fallenden Mauern und europäischer Solidarität, auf polnisch Solidarność, nicht aufgeben. Nehmen wir uns den Mut, wieder von Freiheit und einer besseren Zukunft zu träumen. Versuchen wir das auch am 9. November 2024, 35 Jahre nach dem Mauerfall. Und tun wir das möglichst nicht allein, sondern gemeinsam mit unseren Nachbarn.
Zitierweise: Basil Kerski, „Und die Mauern werden fallen und die alte Welt begraben“, in: Erstveröffentlichung im Deutschlandarchiv 18.10.2024, ergänzt am 09.11.24 Link: Externer Link: www.bpb.de/553496. Alle Beiträge im Deutschlandarchiv sind Recherchen und Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar und dienen als Mosaikstein zur Erschließung von Zeitgeschichte.
ist Direktor des Europäischen Solidarność-Zentrums in Danzig und Chefredakteur des deutsch-polnischen Magazins "Dialog" in Berlin. Er lebt in beiden Städten. E-Mail Link: ecs@ecs.gda.pl
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