Lehren für die Bundestagswahl 2025
Eine Nachbetrachtung der Landtagswahl in Brandenburg 2024
Daniel Kubiak
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Was ist aus den drei Landtagswahlen 2024 in Thüringen, Sachsen, und zuletzt Brandenburg für den Bundestagswahlkampf 2025 zu lernen? Überlegungen des Berliner Soziologen Daniel Kubiak, der am Beispiel Brandenburgs beschreibt, wie komplex das Wahlverhalten betrachtet werden müsste. Er spricht von einer "Komplexitätsübermacht in einem kleinen Bundesland".
Als ich sieben Jahre alt war, gingen meine Eltern mit mir in Ostberlin zur Wahl – und erklärten mir, dass sie eigentlich keine echte Wahl hätten. Das war 1989. Ein Jahr später, ich war 8 Jahre alt, gingen wir wieder wählen, zu einer auf einmal wirklich freien Wahl. Ich spüre noch heute die feierliche Atmosphäre, die viele Erwachsene um mich herum damals verbreiteten. Man nahm hin, dass Wahlen eine Farce ohne Auswahlmöglichkeit waren, Ergebniskosmetik inbegriffen.
Das ist nun gut 35 Jahre her, und mittlerweile habe ich selbst an diversen demokratischen, freien und fairen Wahlen teilnehmen und von meinem aktiven Wahlrecht Gebrauch machen dürfen. Den Großteil meines Erwachsenenlebens war ich in Brandenburg gemeldet, und so durfte ich auch am 22. September 2024 wieder ein Wahllokal betreten, diesmal gemeinsam mit meiner 16-jährigen Tochter als Erstwählerin. Das Feierliche ist noch immer geblieben.
Fast 73 Prozent der Wahlberechtigten haben sich diesmal an der Wahl beteiligt. Das ist ein Rekordwert. 2019 waren es nur 61 Prozent. Von größeren Komplikationen oder Störungen wurde nicht berichtet, gegen 23 Uhr lag das vorläufige amtliche Endergebnis vor. Brandenburg ist ein demokratisches Bundesland – und das ist auch gut so, so schwierig es nun auch wird, eine tragfähige Regierungskoalition zu bilden. Im zukünftigen Landtag in Potsdam wird die SPD mit 32 Sitzen, die AfD mit 30 Sitzen, das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) mit 14 Sitzen und die CDU mit 10 Sitzen vertreten sein. Linke, Bündnis 90/Grüne und BVB/Freie Wähler haben es nicht geschafft wieder in den Landtag einzuziehen.
Komplexitätsübermacht in einem kleinen Bundesland
Schon die abendlichen Analysen nach Auszählung der Stimmen am 22. September 2024 haben gezeigt, dass es keine einfachen Erklärungen für dieses Wahlergebnis gibt, sondern sehr viele Faktoren hierfür verantwortlich sind. Das ist letztlich nicht überraschend, denn entgegen der Ettikettierung als „Ostwahl“, ist auch Brandenburg eine plurale Demokratie, und die Bewohner:innen des Landes bilden eine vielfältige Gesellschaft ab. Aus diesem Grund werden Wahlanalysen immer komplexer, auch wenn es im medialen Diskurs manchmal so wirkt, als wenn jeweils nur ein Aspekt (Ostdeutschland, Jungwähler, Ampelregierung) schon alles erklären könnte. Dafür aber ist das Parteiensystem in Brandenburg nie gefestigt genug gewesen. Kleines Bundesland – komplexe Erklärung.
Politisierung der Gesellschaft
Die hohe Wahlbeteiligung zeigt, dass die Politisierung der Gesellschaft wieder stärker geworden ist. Die Corona-Krise, aber auch Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine, Inflation, Energiekrise, der schleichende Klimawandel oder die dramatische Lage in Israel, Gaza und dem gesamten Nahen Osten haben ihre Wirkungen hinterlassen. Gesellschaftspolitische Konflikte werden auch in Brandenburg ausgehandelt und treffen dort auf eine Bevölkerung, die zwar in einem Land lebt, in dem das Wirtschaftswachstum mit 2,1 Prozent vergleichsweise hoch ist, was sehr stark dem Industriestandort Grünheide und dort namentlich der US-Autofirma Tesla zu verdanken ist, in dem aber viele Menschen gleichzeitig einen Rückbau und eine Dysfunktionalität von staatlicher Infrastruktur wahrnehmen. Ärzt:innen- und Lehrer:innenmangel , die Taktzeiten des öffentlichen Nahverkehrs, der schleppende Ausbau der digitalen Infrastruktur: All das sind Themen, für die eine Landesregierung zuständig ist und in Wahlen verantwortlich gemacht werden kann.
"Postdemokratie"
Der Mangel hier wie dort wird vermischt mit einer krisenhaften Untergangserzählung und lässt den allgemein wachsenden Wohlstand und die grundrechtlich garantierten Freiheitsrechte für ein Teil der Wählerschaft offensichtlich in den Hintergrund treten. Die Verstärkung und Emotionalisierung von Ängsten in Wahlkämpfen sind immer mehr zu einem politischen Geschäft geworden, das vor allem von der als rechtsextremer Verdachtsfall eingestuften AfD kapitalisiert wurde. Der Politiktheoretiker Colin Crouch bezeichnete dies mit Blick auf Italien und die USA der 1990er-Jahre schon 2008 als „Interner Link: Postdemokratie“. In der Wahlentscheidung der Wähler:innen vermischen sich reale soziale Ängste (die AfD wurde vermehrt von Arbeiter:innen und Menschen in schwierigen Finanzlagen mit geringer Bildungsqualifikation gewählt) mit einer „Ethnisierung“ dieser Probleme.
Im gesamten bundespolitischen Diskurs erleben wir derzeit, dass die starke internationale Zuwanderung für die Probleme der regionalen Infrastruktur verantwortlich gemacht wird. Nicht nur die Parteien im extrem rechten Spektrum sind mit solchen Antimigrations-Narrativen in den Wahlkämpfen der vergangenen Monate aufgefallen. Doch vor allem die AfD wird offensichtlich bewusst aufgrund dieser Narrative von rund einem Drittel der Wähler:innen gewählt, und auch wegen ihres völkischen, nationalistischen und autoritären Politikangebots. Mittlerweile sagt eine Mehrheit der AfD-Wählenden, dass sie aus Überzeugung für die Rechtsaußen votieren.
Aus Studien des Moses Mendelssohn Zentrum in Potsdam wissen wir, dass nur wenige AfD-Wählende bereit sind, überhaupt noch einmal eine andere Partei zu wählen. Der zu erwartende wachsende Erfolg dieser relativ neuen Partei (in Brandenburg trat sie erst zum dritten Mal an) hat dazu geführt, dass sich viele Nichtwähler:innen entschieden haben (51.000), ihre Stimme der regierenden SPD zu geben, um den vergleichsweise beliebten Ministerpräsidenten Dietmar Woidke und seine Partei zur stärksten politischen Kraft im Landtag zu machen. Das ist am Ende gelungen, wenngleich um den Preis des Verlustes des bisherigen Regierungspartners Bündnis90/Die Grünen. Viele der neu gewählten Abgeordneten vor allem des BSW sind selbst Kennern der brandenburgischen Landespolitik nur sporadisch bekannt.
Durch die Aktivierung eines Großteils von Nichtwähler:innen wirkt die brandenburgische Gesellschaft wieder politisierter, wenn auch zugleich polarisierter. Bisherige Nichtwähler:innen wanderten vor allem zu den neueren Politikangeboten von AfD und BSW, 79.000 von ihnen wählten AfD, 41.000 das BSW.
Bundespolitische Themen dominieren
Diese große Politisierung ist offensichtlich beeinflusst oder sogar überlagert von bundespolitischen Themen und einer wachsenden Unzufriedenheit mit der „Ampel“. Laut Umfragen bewegten die Menschen in Brandenburg vor allem Fragen der sozialen und inneren Sicherheit, Bildung, Krieg und Migration, obwohl Fragen der Grenzsicherung, Steuern, Renten und Außenpolitik nur marginal durch den Brandenburger Landtag beeinflusst oder gar entschieden werden. Auch die Unzufriedenheit mit der aktuellen Bundesregierung hat für einige der Wähler:innen wohl eine Rolle bei der Wahlentscheidung gespielt, wobei die FDP auch zuvor schon nicht im Landtag vertreten war und die Grünen vor allem Wähler:innen an die SPD verloren haben, also an einen anderen Teil der Bundesregierung.
In einer TV-Diskussionsrunde mit allen Spitzenkandidaten kamen vor allem Themen wie Hochwasserschutz, Migration und Wirtschaft zur Sprache. Bildung, Regionalentwicklung oder die Situation von Jugendlichen wurden nur am Rande zum Thema. Wenig durchdacht wirkten auch Großplakate der Brandenburger CDU, die versuchte, die Landtagswahl zu einer Abstimmung über die „Ampel“ in Berlin zu machen. Doch auch Wählende wissen, dass sie mit ihrer Stimme in Brandenburg die Kräfteverhältnisse im Bundestag nicht verändern können. Gleichzeitig war die CDU selbst Teil der brandenburgischen Landesregierung und stellte bislang den Innenminister, den Infrastrukturminister und die Justizministerin. In dieser Gemengelage eine geeignete Strategie zu finden, gelang der CDU offenkundig nicht. Zwar wissen wir aus politikwissenschaftlicher Forschung, dass Landtagswahlkämpfe nicht immer nur die Themen des jeweiligen Landes selbst behandeln, sondern mitunter zu sogenannten Second-Order-Elections mutieren. Gleichzeitig sehen wir, dass es zu vollkommen neuartigen Partei- und Regierungskonstellationen kommen kann.
Brandenburg als Demokratielabor?
Letztlich ist es das gute Recht der Wählenden, selbst darüber zu entscheiden, welches Thema sie zur Grundlage ihrer Wahlentscheidung machen wollen. Es wäre aber zu wünschen gewesen, dass sowohl Medien als auch Parteistrateg:innen stärker deutlich gemacht hätten, was in einem Landesparlament überhaupt entschieden werden kann und was nicht. Nun kann erwarten werden, dass dieser Wahlausgang bei einigen Wähler:innen zu weiteren Frustrationen führen wird.
Die Strategie der Parteien war jedoch eine andere: Die Oppositionsparteien sahen sich in gewisser Weise gezwungen, Wahlkampf über bundespolitische Themen zu führen, weil die Menschen angesichts guter Strukturdaten mit der brandenburgischen Regierung offensichtlich relativ zufrieden waren. Brandenburg ist das Bundesland mit dem zweitstärksten Wachstum nach Mecklenburg-Vorpommern. Mit einem Kaufkraftindex von 88 Prozent bewegt sich das Bruttoinlandsprodukt (BIP) von Brandenburg nah am europäischen Durchschnitt. Brandenburg ist kein reiches Bundesland, aber unter den ostdeutschen Bundesländern ein wirtschaftlich durchaus aufstrebendes.
Den Grünen, immerhin Teil dieser vergleichsweise beliebten Landesregierung, half dies jedoch alles nicht. Neben der Abwanderung zur SPD als Reaktion auf die Stärke der AfD, war offensichtlich ein bundespolitisches Thema wichtig: Viele Menschen in Brandenburg haben in den 1990er-Jahren ihre Heizungssysteme ausgewechselt, eine Sanierung steht also gerade an. Offensichtlich hat viele die Kommunikation über das „Heizungsgesetz“ (und die gezielte Politisierung des Themas durch Wettbewerber und Medien) stark verunsichert und zu einem größtmöglichen Abstand zu den Grünen gebracht, die teilweise regelrecht verteufelt wurden, Wahlplakate wurden zerfetzt.
Unterbelichtung des Themas Bildung und Vernachlässigung junger Menschen
Dass im Wahlkampf vor allem bundespolitischen Themen laut wurden, hatte zur Folge, dass typische Landesthemen eine nur marginale Rolle im Wahlkampf spielten, die aber besonders für junge Menschen von entscheidender Bedeutung sind. Das betrifft vor allem die Ausstattung von Schulen mit Lehrer:innen, die Mobilität von jungen Menschen im (ländlichen) öffentlichen Raum und Begegnungsräume für junge Menschen außerhalb der Innenstädte von Potsdam, Cottbus und Frankfurt (Oder). Diese Themen sind vor allem für Menschen unter 30, die noch nicht finanziell gefestigt sind und in Ausbildungen stecken, nicht unwichtig. Sie wurden aber von den Kandidat:innen kaum angesprochen. Hinzu kommt, dass Jugendstudien aufzeigen, dass sich junge Menschen gerade besonders viele Sorgen um ihre zukünftige wirtschaftliche Existenz machen.
Nachdem eine Zeitlang die Sorge ums Klima als besonders große Zukunftsangst galt, wurde diese Sorge mittlerweile von anderen Themen abgelöst. Obwohl der Klimawandel überall in Brandenburg, vor allem in Form von Dürren, Waldbränden, schrumpfenden Seen und ausgetrockneten Bächen, spürbar ist, hat dieses Thema junge Menschen offenbar wenig umgetrieben.
Ein weiterer Punkt ist wichtig: Es waren vor allem Jüngere, die zwischen 2020 und 2022 von den Einschränkungen der Corona-Maßnahmen besonders stark betroffen waren. Einerseits wurden ihre Bedürfnisse kaum öffentlich diskutiert, andererseits wurden sie immer weiter in digitale Räume gestoßen, um dort „zur Schule“ zu gehen oder sich mit anderen „zu treffen“. Nicht selten ersetzten „illegale“ Räume die geschlossenen Jugendclubs und Schulen, in denen man sich „privat“ traf. Aus dem Podcast „Springerstiefel“ des Rundfunks Berlin-Brandenburg (rbb) ist zu erfahren, dass es sich hierbei zum Teil auch um privat geführte rechtsextreme Jugendclubs handelte, etwa im sächsischen Zittau. Wir haben es also mit Menschen zu tun, die den Eindruck gewonnen haben, dass ihre speziellen Interessen und Bedürfnisse bislang kaum gehört worden sind. Auch das hat den Boden bereitet für eine Partei, die zumindest so tut, als würde sie sich dafür interessieren.
Ein viel größeres Problem bei der Ansprache junger Menschen ist aber vermutlich die politische Kommunikation. Die meisten Parteien haben im Wahlkampf fast ausschließlich auf Wahlplakate gesetzt oder auf Marktplatzstände und Flyer. Sie haben Interviews in linearen Medien und in Printmedien gegeben, waren aber kaum auf Social Media Kanälen vertreten. Instagram und vor allem Tiktok wurden sträflich vernachlässigt. Auf Instagram haben die Brandenburgischen Landesverbände von SPD und Grünen je circa 3.300 Follower:innen, die LINKE 2.700, die CDU nur 1.300, aber die AfD fast 10.000. Damit gelten fast alle Parteien als Nano-Influencer. Wie wollen diese Parteien an junge Menschen (Erstwählende ab 16 Jahren) herankommen und diesen ihr Politikangebot unterbreiten?
Influencer:innen gelten ab 100.000 Follower:innen als reichweitenstark. Auf Tiktok, wo es kaum noch um Follower:innen geht, sondern um die Viralität einzelner Videos, finden die demokratischen Parteien bis auf die Clips einzelner Abgeordneter so gut wie nicht statt. Vor allem aber landen sie keine viralen Hits, weil ihnen professioneller Anspruch und Anstrich fehlt, allenfalls der AfD gelangen dort nennenswerte Werbeerfolge. Zwar stimmt nur eine Minderheit der Jugendlichen den Parolen der Partei zu, (der Zuspruch zur AfD lag in Höhe des AfD-Gesamtwahlergebnisses), aber viele von ihnen haben von den Inhalten der AfD erfahren. Dieses Ungleichgewichtigkeit aufzulösen, ist eine Zukunftsaufgabe für die etablierten Parteien, aber auch für politische Bildner:innen, deren Einrichtungen sich oft schwer tun, über Facebook oder X (vormals Twitter) hinauszudenken, wo Jugendliche seltener nach Inhalten suchen.
Umland – Peripherie
Nicht nur, aber auch für junge Menschen spielte in Brandenburg der Unterschied zwischen dem Berliner Umland und der Peripherie eine entscheidende Rolle. Für Menschen, die im Umkreis von S-Bahnhöfen oder berlinnahen Regionalbahnhöfen leben, gestalten sich das Alltagsleben und die damit schon oben angesprochenen verbundenen Sorgen anders als in jenen Landkreisen, in denen der ÖPNV und die allgemeine Infrastruktur ausgedünnt und Berlin oder andere Großstädte weit entfernt sind. Im politischen Wahlverhalten bilden sich deutlich Berliner Speckgürtel und Peripherie ab. Bündnis 90/Grüne und vor allem die SPD haben vor allem in jenen Wahlkreisen starke Ergebnisse, die nah an Berlin liegen. Die Menschen in Potsdam, Teltow, Falkensee und Oranienburg wählen deutlich anders als die in Perleberg, Angermünde oder Lübben.
Der Osten
Bemerkenswert war zu beobachten, dass im Brandenburger Wahlkampf das Thema „Ostdeutschland“ eine eher untergeordnete Rolle spielte. Während in Sachsen Petra Köpping vor allem mit ihrer Ostbiografie versuchte, Wähler:innen zur SPD zu bringen und CDU-Ministerpräsident Michael Kretschmer sich als Rebell aus dem Osten inszenierte, war vor allem in Thüringen auffällig, dass die AfD ihr „Wendetheater“, wie es die Politikwissenschaftlerin Sophie Schmalenberger einmal nannte, perfektioniert hat. Da bretterte ein westdeutscher Mitfünfziger kultbewusst auf einer alten DDR-Simson durch die Landschaft und fühlte sich in seinen Reden noch „ganz persönlich“ an die DDR erinnert. Dieser gezielte Einsatz vermeintlicher Ostidentitäten holte einen Teil der Bevölkerung ab.
Dass das BSW in Ostdeutschland besonders erfolgreich war, überrascht ebenso wenig. Vergleichbar mit der SED und der frühen PDS hat die Partei ein politisches Angebot unterbreitet, das Themen der inneren Sicherheit und internationalen Abschottung mit Fragen der sozialen Sicherheit und einem behaupteten Pazifismus verbindet. Das BSW-Politikangebot erinnert DDR-Nostalgiker eher an den ehemaligen SED-Chef Erich Honecker vor über 35 Jahren als an Thüringen, Sachsen oder Brandenburg im Jahr 2024. Doch in Brandenburg ließ sich das ostidentitätspolitische Angebot nicht so stark wahrnehmen, was womöglich daran liegt, dass im Berliner Umland viele urbane und nicht selten westdeutsch sozialisierte Zugezogene wohnen. Wird von ihnen Brandenburg nicht so sehr als „ostdeutscher Sonderfall“ im bundesrepublikanischen Diskurs wahrgenommen? Das ist eine offene Frage.
Die Alten
Abschließend noch ein Wort zum Wahlverhalten der unterschiedlichen Altersgruppen. In einem vergleichsweise überalterten Bundesland wie Brandenburg spielen weniger die Jungen, sondern vor allem die Altersgruppen ab 40 Jahren eine sehr viel größere Rolle bei den Wahlen. Zwar haben in Brandenburg am 22. September auch die 40- bis 60-jährigen Wähler:innen die AfD noch vor der SPD präferiert. Ganz anders stellt sich aber das Wahlverhalten der Senior:innen dar. Diese unterstützten mit fast absoluter Mehrheit die Regierungspartei SPD. Offensichtlich sind Rentner:innen in Brandenburg mit der politischen Situation eher zufrieden, auch wenn das im öffentlichen Diskurs wie im persönlichen Gespräch gerne mal anders behauptet wird. Immer wieder hört man das Narrativ, „die eigene Omi“ bekomme zu wenig Rente, und zwar „wegen der Migranten“. Doch die eigenen Omis verweigerten sich populistischen Parolen der AfD mit großer Mehrheit. 83 Prozent von ihnen stimmten für andere Parteien.
Demokratie auch zwischen den Wahlen
Es liegen nun drei Wahlen in ostdeutschen Bundesländern hinter uns, mit hohen Wahlbeteiligungen und starken Ergebnissen für eher extreme populistische Parteien wie die AfD und das BSW. Gleichzeitig hat zumindest in Sachsen und Brandenburg die Partei des jeweils amtierenden Ministerpräsidenten Platz eins belegt. Die Gründe für diese Wahlausgänge sind, wie gesehen, überaus komplex. Regierungsbildung und künftiges Regieren werden nicht einfacher werden.
Doch Demokratie ist sehr viel mehr. Zwischen den Wahlen wird es auch darum gehen, eine demokratische, plurale Zivilgesellschaft aufrechtzuerhalten. Demokratie heißt auch Minderheitenschutz. Das gilt für die vielen Wähler:innen der AfD, die keine Chance auf eine Regierungsbeteiligung ihrer gewählten Partei haben, ebenso wie für die Wähler:innen jener Parteien, die es nicht in den Landtag geschafft haben. Sie alle haben ein Recht auf staatliche Infrastruktur, ein Recht auf Demonstrationen und finanzielle Unterstützung ihrer Projekte, Jugendclubs, Kultureinrichten, Festivals – solange sie sich auf dem Boden des Grundgesetzes bewegen. Ob die AfD sich auf diesem Boden bewegt, wird weiterhin vom Verfassungsschutz und gegebenenfalls auch durch ein Verbotsverfahren überprüft werden.
Studien zeigen, dass dort, wo rechtsextreme Parteien in Parlamente gewählt werden, auch rechte Gewalt auf der Straße zunimmt. Wo Wahlkämpfe vor allem durch Antimigrations-Rhetoriken bestimmt sind, wie das in diesen drei ostdeutschen Landtagswahlen der Fall war, steigt auch rassistisch motivierte Ablehnung im Alltag. Es geht nach den Wahlen daher zwingend auch um den Schutz aller Menschen in Deutschland vor Gewalt und Diskriminierung. Und um klug durchdachte Strategiewechsel bis zur Bundestagswahl 2025 durch die Parteien der politischen Mitte, um diese Mitte wieder von der Demokratie zu überzeugen und zurückzugewinnen. Mit einem „Weiter so“ in Stil, Mitteln und Positionen funktioniert das aber nicht.
Konsequenzen
Als Lehre aus den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und zuletzt Brandenburg für die voraussichtlich im März 2025 anstehenden Bundestagswahlen müssten die demokratischen Parteien folgende Punkte beachten:
Es sollte darum gehen, eigene Themen zu setzen, anstatt zu versuchen die Themen der rechtsextremen und populistischen Wettbewerber:innen platt zu übernehmen und damit zu überhöhen. Soziale Sicherheit, Wirtschaft, Infrastruktur, Bildung, Digitalisierung. Wenn die Parteien auf diesen Gebieten Lösungen oder progressive Konzepte anbieten können, kann es auch gelingen einen wieder stärker versachlichten Wahlkampf zu führen, der die politischen Angstunternehmer auf "Mute" stellt, also verstummen lässt.
Politische Stabilität glaubhaft vermitteln: Nichts verunsichert Wähler:innen mehr in unsicheren Zeiten, wenn eine Bundesregierung ihre politischen Differenzen vor allem im öffentlichen Raum austragen. Die letzten Projekte der Bundesregierung müssen zielgerichtet zum Erfolg geführt werden und Kompromissfindung nicht verteufelt, sondern als das vermittelt werden, was sie eigentlich ist: ein hoher demokratischer Wert.
Veränderung der politischen Kommunikation ernst nehmen: Die Bedeutung von linearen Medien und Printangeboten nimmt für einen großen Teil der Bevölkerung schon seit Jahren stetig ab. Tageszeitungen können sich immer weniger Haushalte leisten. Die demokratischen Parteien müssen endlich verstehen, dass auch das Social Media-Feld professionell bearbeitet werden muss. Auch dort sind inhaltliche Debatten möglich, aber die Aufmerksamkeitsökonomie dieser Plattformen muss verstanden werden. Es braucht die Entwicklung einer wirksamen Strategie aus persönlicher Ansprache und gezielt gesetzter Viralität.
Nicht zuletzt muss die Bedrohung der pluralen Demokratie ernst genommen werden. Da wo politische Bewerber:innen ganz bewusst auf Demokratieverachtung setzen und den Raum der demokratischen Grundordnung verlassen (wollen), wird es auf die Wehrhaftigkeit und Überzeugungskraft aller Demokraten und Demokratinnen ankommen. Wir sehen bei den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg eben auch, dass eine klare Mehrheit nicht bereit ist die Demokratie in Frage zu stellen und deswegen auch Nichtwähler:innen wieder zur Wahl gehen. Aber sie müssen auch dauerhaft wieder für demokratisches Engagement gewonnen werden. Denn der Schutz der Demokratie ist kein Einmal-Sprint, sondern eine Daueraufgabe.
Zitierweise: Daniel Kubiak, "Lehren für die Bundestagswahl 2025 - Komplexitätsübermacht in einem kleinen Bundesland ", www.bpb.de/552930, Deutschlandarchiv vom 12.10.2024. Alle Beiträge im Deutschland Archiv sind Recherchen und Sichtweisen der jeweiligen Autoren und Autorinnen, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar (hk).
Die Cover der beiden Bände von "(Ost)Deutschlands Weg" I (1989 bis 2020) und II (Gegenwart und Zukunft), mittlerweile wieder erhältlich im Externer Link: www.bpb.de/shop unter den Bestellnummern 10676 I+II und seit September 2024 kostenlos als e-book.
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Dr. Daniel Kubiak ist Soziologe am Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung an der Humboldt-Universität. Er forscht zu ostdeutschen Identitäten, Rechtsextremismus und Migration in Ostdeutschland. Er ist Mitautor des Bandes (Interner Link: Ost)Deutschlands Weg, erschienen 2021 in der Schriftenreihe der bpb.
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