Was ist in den 35 Jahren der deutsch-deutschen Transformation aus dem Glücksgefühl vieler Deutscher nach dem Mauersturz geworden? Warum gerät so viel davon in Vergessenheit? Und woraus wächst inzwischen so viel Zorn, der allein den Westen zum Buhmann macht? Eine Betrachtung von Ines Geipel aus ihrem neuen Buch "Fabelland".
"Sofort, unverzüglich. Am Anfang war das Glück. Ruhig, selbstverständlich, auf seltsame Art bei sich. Etwas, von dem ich den Eindruck hatte, es war selbst ganz froh, endlich da zu sein. Das kleine Wort endlich. Still, andächtig, das nicht recht zu den späteren Euphorie-Bildern des Tages passen wollte. Es war wirklich der Anfang, denke ich.... Die Rede ist vom 9. November 1989. Das ist nun fast 35 Jahre her. 35 Jahre. [...] Ich war erst Ende August nach meiner Flucht aus dem Osten in Darmstadt gelandet."
So beginnt die Berliner Professorin für Verskunst an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch, Ines Geipel, ihr Buch "Fabelland: Der Osten, der Westen, der Zorn und das Glück", das 2024 neben einer Reihe weiterer Publikationen erschienen ist, die den Verlauf des deutsch-deutschen Zusammenwachsens recht unterschiedlich beschreiben, bewerten und darüber streiten, jüngst hat Interner Link: Wolfgang Templin im Deutschlandarchiv über diesen Boom reflektiert. Geipels Ausgangspunkt ist zunächst die Anfangseuphorie 1989/90, wie sie das Deutschlandarchiv auch in Toncollagen dokumentiert hat, gesammelt 1990 an der FU Berlin ("Interner Link: Wendekorpus. Eine Audio-Zeitreise"):
"Dieser eine Novemberdonnerstag und die Wochen danach. Die ersten Schritte im Neuen, die Hochstimmung, die Erwartung, das unsagbar Leichte. Ich kam gar nicht mehr runter. Das erste Kneipengeld und die Flüge nach Berlin, um die Freunde in der Stadt nun ohne Mauer wiederzutreffen. Die Berliner Unruhe und die Angst vor der Umkehr. Die Sorge, dass der Hammer noch einmal fallen, sich die Zeit zurückdrehen könnte. Dieses Novemberflattern, das vielleicht erst am 3. Oktober 1990 endete. Die Nachrichten, die sich überschlugen: Welcher Politiker wurde abgesetzt, wer war aufgeflogen, wer in Nacht und Nebel Richtung Interner Link: Starnberger See verschwunden? Die Szenen, von denen die Freunde berichteten: die Hektik an den Grenzübergängen, der Andrang an den Wechselstuben, die vielen Kinderwagen, an denen Bügeleisen und Bohrmaschinen baumelten. Als ob ganze Haushalte pausenlos von Ost nach West türmten. Unter dem wüsten Gerenne die Hoffnung, aus der mit jedem Schritt eine größere Unsicherheit wurde. Berlin als etwas Getriebenes. Das Rissige, Wunde, Aufgebrochene war seine Haut. [....]
Aber was wurde daraus? Was entwickelte sich, was scheiterte oder wurde zerredet? Nachstehend die Sicht von Ines Geipel aus "Fabelland", ein Textauszug veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des S.Fischer Verlags aus dem Schlusskapitel "Glücksscham":
"(…) Die letzten 35 Jahre sind auch eine Erzählung davon, wie das Traumgeschäft, Traumageschäft des Alten strategisch auf den Weg gebracht wurde. Über die Abschaffung der Erfahrung, die Konjunktur der Scheindiskurse, das Eskalieren im Extrem. Eine sich beschleunigende Kugel, eine Art Geschoss. (…) Wie umkämpft das Jahrhundertglück ist, denke ich. Wie es jeden Tag einen dreckigen Scheuerlappen ins Gesicht bekommt. Wie es kaum noch wagt, rauszuschauen und sich ein bisschen über sich zu freuen. Die frühen Knechtschafts- und Unterwerfungs-Vorlagen, die durchaus Bestand hatten. Die Müller-Epistel, die Maaz-Volte, das Engler-Manifest. Es unterlag Wellen, wurde mit neuen Theorien und Vokabularen aufgeladen, für die sogenannte Transformation aufgepeppt. Das Jahr 2015 und der Flüchtlingssommer. Die neue politische Wirklichkeit, wie es hieß, vor allem im Osten. Als ob das, was sich in die inneren Schauplätze eingraviert hatte, nun in nächster Runde beatmet werden konnte. Als ob es nach draußen musste. 2017 die Bundestagswahl. Am 1. September 2018 der Chemnitzer Marsch der neonazistischen Szene. Der offene Schulterschluss, das demonstrative Bekenntnis, die erweiterten Formierungen, die Symbolbilder. Es ging immer so weiter. Die immer krawalliger werdende Mainstream-Blase: da der Osten als Superopfer, dort der – egal wie – notorische Schuldwesten. Die Ostdeutschen als Abgehängte, Verlierer, als Bürger zweiter Klasse, Kolonisierte oder Dekolonisierte, je nachdem, als Übernommene.
2020 erschien das Buch »Empowerment Ost« von Thomas Oberender, 1966 in Jena geboren und zu dem Zeitpunkt Intendant der »Berliner Festspiele«. Jetzt gelte es, sich zu »dekolonisieren«, forderte er, um das Land zu entlasten, »vom Gewicht seiner normativen Westsicht, seines selbst verständlichen Weißseins und eingebildeten Liberalismus, seines »normalen« Anthropozentrismus und seiner unseligen Bemühung, eine lineare Geschichte zu konstruieren.«
Ein neuer Solist in einem alten Chor gedächtnispolitischer Ost-Umbauer. Die Bücher häuften sich, die Medien zogen an, ein anderer Ton war da. »Bis heute wird im offziellen, westdeutsch geprägten Sprachgebrauch von der DDR vornehmlich als Unrechtsstaat gesprochen, was bei allen, diedort lebten, Scham induziert und ein Gefühl der Illegitimität ihrer damaligen Lebenswirklichkeit«, wusste Thomas Oberender. Das Hüben und Drüben, das Drunter und Drüber, im Raum dazwischen das zarte Wort Scham. Als wäre es von den restlichen Wörtern eiskalt überrumpelt worden. Als könnten sich in ihnen die Verbrechen auflösen wie Brausetabletten.
Das Jahr 2023 und die rollende Gedächtniskugel, die Vexierbilder und Gegenoffensiven, das härter werdende deutsch-deutsche Streitfeld, seine verstörende Verdichtung. Die Legende vom Ostdeutschen als vermeintlich utopische Ideenkapsel, die nach 35 Jahren endlich angekommen schien, auf ihrem Peak, ihrem bisherigen Kulminationspunkt. Dazu der Chor und erneut andere Solisten: Im Februar 2023 das Debattenbuch »Der Osten: eine westdeutsche Erfindung« des 1967 im thüringischen Gotha und in Jena sowie den USA ausgebildeten Germanisten Dirk Oschmann, heute Professor in Leipzig. Die Veröffentlichung eines Zornbeseelten. Eine Art Sampler, aber auch ein Exzess: kriegerisch, grob verfälschend, ressentimentgeladen. Wut als Strategie, behauptete der Autor. Im »westdeutschen Wohlfühl- und Diskurskonsens«, hieß es, erscheine der Osten als »Geschwür am Körper des Westens, das ihm dauerhaft Schmerzen bereitet und das er nicht wieder los wird.« Der Autor entdeckt im Osten eine lange »Geschichte individueller und kollektiver Diffamierung, Diskreditierung, Verhöhnung und eiskalter Ausbootung«.
Oschmanns Getöse, das auch bei Kernidentitäten des Ostens wie etwa der Kunst andockt. Dass der Leipziger Germanistikprofessor bei seiner Zustandsbeschreibung den Blick auch auf die Literatur legen würde, war naheliegend. Seine Feststellung: Nach 1989 sei es im Osten mit »explizit strategischem Kalkül« zu einer »Löschung des Textgedächtnisses« gekommen. Ich stutze. Und die nach 1989 herausgebrachten aufwendigen Gesamtausgaben von Heiner Müller und Wolfgang Hilbig, das nicht abreißende Interesse an Inge Müller, Maxie Wander, Brigitte Reimann, die Neuentdeckung von Franz Fühmann? Die verbotene Literatur des Ostens und damit der intellektuelle Widerstand qua Sprache, Geist, Haltung? Was ist der Grund, dass all das beim Leipziger Literaturwissenschaftler unter den Tisch fällt? Sachfehler, die im Text zu etwas Systemischem werden, egal, ob es um offene Vermögensfragen, die Arbeit der Treuhand, den Sport, die Bildende Kunst oder den Begriff Aufbau Ost geht, den der Autor als »menschenverachtende Wortbildung aus der Sprache der Nazis« veranschlagt. Dierk Hoffmann, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin, antwortet: »Eine Parallele zu dem verbrecherischen ›Generalplan Ost‹ des NS-Regimes, die Dirk Oschmann und Christoph Hein ziehen, ist gänzlich unangemessen, ja infam.«
Wer wie Dirk Oschmann seine Thesen derart auf Krawall bürstet, muss die Quellen schleifen. Ein schablonenhaft monolithischer Westblock, von allen Debatten, Widersprüchen, Kontrasten bereinigt, steht bei ihm einem ebenso selektiven Bild des Ostens gegenüber und lässt einen Text entstehen, der eine realistische Zustandsbeschreibung zwarbehauptet, sich aber die Realität über weite Strecken recht hübsch- oder wegmoderiert. Der den Westen anzählen will, dabei aber vor allem zu einer rüden Absage an die kritische DDR-Aufarbeitung wird und die politischen Opfer abschafft. Woher die Härte? An der enormen Resonanz des Buches änderte das nichts, eher im Gegenteil.
Erinnerungsmatrix. Ebenfalls 2023 kam das Buch der 1984 im brandenburgischen Guben geborenen Historikerin Katja Hoyer »Diesseits der Mauer. Eine neue Geschichte der DDR«. Sie hatte in Jena studiert, forscht heute am King’s College in London, arbeitet für die BBC sowie für die »Washington Post« und ist mittlerweile Kolumnistin der »Berliner Zeitung«. Der Grundtenor ihres Buches: »Geschichte wird von Siegern geschrieben, auch die der DDR.«.
Der Text kommt ohne jede Archivrecherche aus, näht aus den Veröffentlichungen anderer ein locker zusammengesetztes Patchwork zusammen, wird hauptsächlich vom Syndrom: böser Westen versus utopischer Osten beatmet und wartet mit der Empfehlung auf: »Jetzt ist es endlich an der Zeit, einen neuen Blick auf die DDR zu wagen« sowie »die deutsche Obsession der Vergangenheitsbewältigung abzuschütteln.«
Drei Ostdeutsche, drei erstaunliche Freiheitskarrieren, drei Furore machende Debattenbücher. Auffällig der unverhohlene Revisionskurs der Texte, durch den die DDR gleichsam als utopischer Raum revitalisiert aufscheint. Eine Art Schwiemelbild. Ein Gerhard Richter, bei dem man sieht und irgendwie nicht sieht. Eine Erinnerungsmatrix, die auf einen Raum rekurriert, der zwar als Halterung, Gerüst, Rahmen dient, um zugleich die historischen Realitäten abzustreifen. Sie würden nur stören. Warum steht das hier? Es geht um versuchte Paradigmenwechsel, neue Referenzsysteme, Entkopplungsmodelle, Umbauprogramme, die deshalb so reibungslos funktionieren, weil sie unmittelbar auf ein Identitätskonstrukt setzen, das sich in ein Erinnerungskollektiv einzuschließen weiß.
Man könnte diesen Typ Text mit einigem guten Willen auch als Gedächtnisstrategien des Ausgleichs lesen. »Fakes brauchen Echoräume«, schreibt der Schweizer Literaturwissenschaftler Thomas Strässle. Ostdeutsche Kriegsenkel und Kriegsurenkel, heute mit globalem Bildungsprogramm und weitläufigem Vokabular unterwegs, setzen auf Legenden, Umschreibung und Selbstauratisierung, um der im Osten verbliebenen Großeltern- und Elterngeneration ein Abwehr-Drehbuch zu offerieren. Der Druck auf die Folgegenerationen ist immens, da zwischen ihnen und den Eltern nicht nur der unhintergehbare 89er Glücksmoment steht, sondern den Jüngeren auch klar sein dürfte, dass noch so viele gut gemeinte Angebote das Dilemma der Diktaturgenerationen nicht würden auflösen können. Ist es Glücksscham? Vielleicht.
Doch diese Kontinuitätsbildung leistet darüber hinaus auch die Begründung der eigenen Identität. Unter dieser Perspektive ist die aktuelle erinnerungspolitische DDR-Revision – eine nach außen verlagerte Entlastungserzählung, die versucht, den Westen zum Buhmann zu machen – auch eine implizite Erzählung darüber, wie stark die diktaturbelasteten Generationen im Osten das Binnen-kollektiv noch immer zusammenhalten. Sie schieben von hinten. Als Wächter der Familiengedächtnisse, der eigenen Zeitlöcher, einer Welt, in der die Täter von damals zunehmend zu Opfern der Geschichte umgedeutet und die realen Opfer wegparalysiert werden. Auf diese Weise empfehlen sich die Alten auch als Türöffner für das ausgerufene neue ostdeutsche Selbstbewusstsein.
Überidentifikation mit den Altgenerationen, Glücksscham, verpasster politischer Vatermord, eine auffällige Unterlassungsmaxime, Rollentrance? Die Kriegsenkel und Kriegsurenkel des Ostens verstehen sich vor allem auf affektive Re-Imagination. Aber was wird reimaginiert? Wo? Am ehesten an den Familientischen, bei TikTok, bei X. Wie könnte es gehen? Was darf verschwinden, kann vergessen werden, was ist sicher? Was bedeutet der Versuch, wenn sich der Osten über Erlösungsformeln derart verfehlt und sich zunehmend in einem abwegigen Selbstbild mit Destruktionswünschen gegenüber dem Westen und prekärer Russlandliebe einrichtet? Und das, was dabei draußen bleibt, bleiben muss, das kritische Ost-Erbe? Legenden, Fabeln, Mythen sind Orientierungen. Sie konstruieren Sinn, fundieren Identität, motivieren Erwartungen. In einer immer hastigeren, ruppigeren, komplizierteren Welt sind sie nötiger denn je. Und der Fake? »Ein Fake kann einem nicht unterlaufen. Er ist immer Absicht. Er bedingt einen Vorsatz, der sich über seine Ziele im Klaren ist oder zumindest eine Stoßrichtung hat. Der Fake will etwas erreichen, er will eine Wirkung erzielen.« Wie das Kontinuum an Endlosinformationen, Intentionen aller Couleur, wie das Übertrumpfungstheater anhalten, aktiv unterlaufen?
Längst geklärtes wird wieder fluide und gerät unter Druck
Die Schleusen sind geöffnet, die Stimmung ist gemacht. Das, was im Osten vor zwanzig Jahren an Diktaturgeschichte geklärt schien, wird heute zusehends fluide und gerät immer mehr unter Druck. Das innerostdeutsche Klima wird zum politischen Sprengstoff. Die alte Täterklientel hat sich reorganisiert, die Opfer lassen ihre letzte Lebenskraft im demütigenden Kampf um Rehabilitierung, Teile der Aufarbeitungsszene sind zerstritten, erzählen das Gegenteil von dem, was sie vor dreißig Jahren wussten, und überbieten sich in Sachen Erinnerungskontrolle. Das Narrativ von der doppelten Diktaturgeschichte im Osten ist hart umkämpft und wird im selben Atemzug verharmlost, verwischt. Der öffentliche Raum wiederum weiß das übersteuerte Erinnerungsfeld samt hysterischem West-Bashing effektvoll zu nutzen. Unter der Überschrift »Lasst die Ostdeutschenihre Heimat deuten« beschwor der Chef der Schweriner Volkszeitung im Mai 2023 seine Leserschaft, sich immun gegen jede Kritik aus dem Westen zu erweisen. Im Spiegel verteidigt eine ostdeutsche Journalistin vehement das Buch von Katja Hoyer und spricht von »DDR-Hass« und vom »ausgelöschten Staat DDR«.
Im Mai 2023 gab der brandenburgische Ministerpräsident Dietmar Woidke dem Berliner Tagesspiegel ein Interview unter dem Titel: »Es ist Zeit für ein neues ostdeutsches Ostbewusstsein«. Das Gespräch fand statt, kurz nachdem rechtsextreme Vorfälle an einer Schule im Spreewald öffentlich geworden waren. Brandenburgs oberster Verfassungsschützer erklärte: »Die Räume dessen, was gesagt werden kann, weiten sich.« […]
Die alte Eiszeit, die bipolare Welt, der historische Beton und das, was sich heute Weltunordnung nennt, ein »Balancieren am Abgrund«. Als wäre Benjamins Geschichtsengel in 35 Jahren einmal von der äußersten Amplitude zur anderen geflogen, von maximaler Statik zu maximaler Unruhe und befände sich im Sturm, in dieser nötigenden Qualität, jener fatalen Logik, in dem, was man lange Fortschritt genannt hatte. Vielleicht hat er von oben mehr gesehen. Sich verschiebende, sich auflösende Blöcke, das neue Europa.
Aber wie sieht man verleugnete Instanzen, politische Entwurzelungen, im Inneren ausharrende Wiedergänger, wie aus der Engel-Perspektive die Schmerzkarte des alten Jahrhunderts in den Blick bekommen, seine Anästhesien? Der Vorschlag des französischen Philosophen Paul Virilio nach der Revolution von 1989 lautete: »Die einzige Hoffnung und Chance für Europa ist eine Allianz der Schuldigen.« Eine Verfassung der Schuldigen? Es war eine Idee und vielleicht schon die Vorlage für das Skript, wonach in implodierten Geschichtsräumen »die Zukunft gewinnt, wer die Erinnerung füllt, die Begriffe prägt und die Vergangenheit deutet«. […]
Der 9. November 1989. Der Engel des Schreckens, der Engel des Unverhoffen, die Einsprengsel der Geschichte – die Hoffnung, über die Benjamin ein Leben lang nachgedacht hat. »Die Epoche der nationalen Entsagung sowie der Geschichts- und Identitätsaskese ist mit dem Mauerstur und der Wiedervereinigung abrupt zu Ende gegangen«, hält Aleida Assmann fest. Die Identitätsaskese von Habermas, der Kampf ums Geschichtsbild, der Dauerstreit ums Vergangene, die Kollision der politischen Selbstverständnisse, das deutsche Leiden am Weihnachtsmannsyndrom. Die beiden Hegemonialbilder in Ost und West bis 1989 und die recht willkürlich zusammengesetzte Gedächtnis-Unwucht nach 1989, die eher entzündete, denn verband.
»Blend and blur. Vermischen und verwischen.« Was ist heute eine Quelle, was ein Datum, was ein Fakt? Die Strategie der schleifenden Schnitte. Stabilitäten werden unterminiert, Fake-Erzählungen in die mediale Verwertungslogik eingespeist. Als würde man in ein Bergwerk einfahren, in dem die Stollen jederzeit wegbrechen können. Was da nicht alles über Jahrzehnte hart debattiert, geschrieben, aufgearbeitet, erinnert wurde. Und nun? Sieht es im Feld der Erinnerung zunehmend nach ständiger Bedrohungslage aus.
Warum leisten wir uns das?
Dekore. Der Streit um die Deckfabeln. Der Westen und die Bonner Republik: Sitzt man in Bonn oder Köln in einer der Kneipen am Rhein, hängen an der Wand die Konterfeis von Konrad Adenauer, Walter Scheel, Willy Brandt oder Helmut Kohl. Wie das Dekor einer Zeit, die um etwas Beruhigtes, Stabiles kreist und in der sich die Westdeutschen vor allem ab den siebziger Jahren vorsichtig, aber beständig in jenen Typus des freundlichen Deutschen um erzählten, vor dem die Welt nicht mehr Angst zu haben brauchte. Willy Brandt als Triggerfigur für die Sehnsucht der Westdeutschen nach Gefühlssicherheit, für die Annahme, endlich wieder auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen.
Eine »fortgesetzte Befreiung von der Vergangenheit«?
Es ist die Konserve eines Selbstbildes, in die man einzieht, wenn das Jetzt zu bedrohlich wirkt. Kann man Glück hamstern? Die Besitzstandswahrung alter Gedanken- und Gefühlsordnungen, eine Art neuer Konservatismus, irritierend aus der Zeit gefallen, der aber mit dem zu tun haben könnte, was der Politikwissenschaftler Samuel Salzborn die »fortgesetzte Befreiung von der Vergangenheit« nennt.
Eine Tatsache, die nicht völlig aus der Luft gegriffen scheint, wie die Debatten seit dem 7. Oktober 2023 um Israel, Gaza und den deutschen Antisemitismus zeigen. Und die fortgesetzte Befreiung von der Vergangenheit in Sachen DDR-Diktatur? »So bleibt bis heute die Geschichte der Opfer des Kommunismus ein Stachel im Fleisch des erprobten westdeutschen Erinnerungskonsenses«, schreibt der Historiker Andreas Wirsching, Direktor des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin. Eine Herausforderung, die durch die »Entschließung des Europäischen Parlaments zum Gewissen Europas und zum Totalitarismus« von 2009 untermauert wurde, die eine »umfassende Neubewertung der deutschen Geschichte« und das gleichberechtigte Gedenken an »die Opfer aller totalitären Regime« einfordert.
Ein europäisches Grundsatzdokument, das sich durch die Invasion Russlands in der Ukraine unweigerlich aktualisiert hat. Zugleich betont Andreas Wirsching, wie »schmal der Weg sein kann zwischen aufrichtigem Opfergedenken und ideologischer Indienstnahme«. – »In Ländern wie Polen und Ungarn war und ist zu beobachten, wohin ein verordneter Antitotalitarismus mit antiliberaler Spitze führt.« Die einen verharren, warten und schlüpfen in ihre gut ausgetretenen Schuldschuhe, die anderen kultivieren ihreOpferlegende und ziehen den Identitätspoker. Ein deutsch-deutsches Überbande, ein erinnerungspolitischer Gordischer Knoten, mit dem beide Seiten trotz aller Bösartigkeiten und trotz des Wegdriftens nach rechts offenbar leben können. Ein festgefahrenes Spaltungssyndrom, das allerdings eine Funktion hat. Es deckt ab, vor allem nach außen.
Denn die Fragen an die Deutschen sind längst drängender, nervöser geworden. Klima, Kriege, Massenmigration, Erosion von Demokratien, Energie, KI, Rechtsstaat. Die Welt wartet – auf Format, Haltung, Kapazitäten der Deutschen. Wir aber zögern. Sind wir zu schamerschöpft, erinnerungserschöpft, glückserschöpft? Zu ratlos, zu ängstlich, weil die eigene Geschichte weiterhin belastet und unentrinnbar scheint? Und Deutschland als Migrationsland? Sein koloniales Erbe?
2. März 2024, 11. Mai 2024. Es könnte auch jeden Tag sein. Die öffentliche Schlagwort-Welt: »die technische Bearbeitung des Krieges«, der »Geruch von Weimar«, »die Fragmentierung der deutschen Gesellschaft«, »das Land im Verfall«, »die Eröffnung einer neuen Front«. Es gilt nicht als ausgemacht, dass eine gemeinsame deutsche Erinnerungserzählung auf den Weg gebracht werden kann. Und Europa? Juni 2024: Der Gewinner der Europawahlen heißt Wladimir Putin. Er führt einen Vernichtungskrieg gegen dieUkraine, und es feiern diejenigen Zugewinne, die auf seiner Günstlingsagenda stehen: die AfD und das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) in Deutschland, der Rassemblement National (RN) in Frankreich, die Partei für die Freiheit in Holland (PVV), die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) in Österreich. In Sachsen stimmten 31,8 Prozent der Wähler für die AfD. Das waren 6,5 Prozent mehr als bei den letzten Europawahlen.
Gezielte Desinformation, Destabilisierung, Revanchepolitik, Zerstörung der Demokratie. Die historische Bombe tickt, das Traumagesetz der Diktatur scheint in Kraft, Europa taumelt als wunder Kontinent durch seine alte Landschaft. Sind die Dinge entschieden? Das sind sie nie, aber Zeit ist keine mehr. Wie Europa nach vorn denken? Jedes Land lebt von Fabeln. Es gibt aber ein paar, die nicht taugen. Sie sind nicht hilfreich. Wir haben nichts in einem müßigen Spaltungssyndrom zu suchen. Es ist keine Zeit dafür. Das alte Jahrhundert ist zurück, das Bipolare, das Autoritäre, der Hass, die Kriege. Und die Einsprengsel, und das, was kommt? (…)
Zitierweise: Ines Geipel: „Glücksscham", in: Deutschland Archiv, 25.09.2024 Link: www.bpb.de/552497. Der Beitrag ist dem Buch entnommen: Ines Geipel, "Fabelland: Der Osten, der Westen, der Zorn und das Glück", Frankfurt (Main) 2024. Alle Beiträge im Deutschland Archiv sind Recherchen und Sichtweisen der jeweiligen Autoren und Autorinnen, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar. (hk)
Prof. Ines Geipel ist Schriftstellerin und Professorin für deutsche Verskunst im Studiengang Zeitgenössische Puppenspielkunst der Berliner Hoschschule für Schaupspielkunst Ernst Busch. 1960 in Dresden geboren, studierte sie in Jena Germanistik, flüchtete 1989 in die Bundesrepublik und studierte in Darmstadt Philosophie. Sie ist Mitbegründerin des "Archivs der unterdrückten Literatur in der DDR". Von 2013 bis 2018 war die ehemalige Leichtathletin Vorsitzende des Doping-Opfer-Hilfe-Vereins und maßgeblich daran beteiligt, dass die Bundesregierung zwei Entschädigungsgesetze für die Opfer des DDR-Staatsdopings einrichtete (Vgl. auch den Text Interner Link: "Staatsplan Sieg", bpb 2019). 2014 erschien ihr Buch "Generation Mauer", 2019 "Umkämpfte Zone" und 2024 "Fabelland: Der Osten, der Westen, der Zorn und das Glück" bei S.Fischer, dem dieser Text entnommen ist.
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