Seit eineinhalb Jahren haben wir keinen Kontakt mehr zu Maria – keine Briefe, keine Telefonate, keine Besuche. Sie ist isoliert, von der Welt abgeschnitten. Im Gefängnis erlitt sie einen Magendurchbruch und musste operiert werden. Ihre Gesundheit verschlechtert sich, aber ihr Geist bleibt ungebrochen. In den Briefen, die wir früher erhalten haben, wiederholte sie oft diesen einen kraftvollen Satz: „Liebe ist stärker als Angst.“
Ich spreche von meiner Schwester, Maria Kalesnikava. Maria ist Flötistin und Dirigentin, die 13 Jahre in Stuttgart lebte. Im Jahr 2020 gehörte sie zu den mutigen Menschen, die sich für Demokratie und Menschenrechte in Belarus eingesetzt haben. Am 7. September 2020 wurde sie in Minsk von Sicherheitskräften entführt. Man versuchte, sie außer Landes zu bringen – aber sie wollte bleiben und zerriss ihren Pass an der ukrainischen Grenze. Für diese mutige Tat wurde sie verhaftet und zu 11 Jahren Gefängnis wegen konstruierter Anschuldigungen des „Extremismus“ und der „versuchten Machtanmaßung“ verurteilt. Doch die Wahrheit ist: Sie kämpfte für die Freiheit. Für das Recht jedes Menschen in Belarus, eine Stimme zu haben. Für das Recht, würdevoll und ohne Angst zu leben.
Jeden Tag spüre ich den Schmerz, zu wissen, dass der Mensch, der mir am nächsten steht, leidet. Es ist für uns alle – die Familien der politischen Gefangenen – unerträglich, denn auch wenn wir nicht physisch im Gefängnis sind, sind unsere Seelen mit ihnen eingesperrt. Wir teilen ihren Schmerz, ihre Angst und ihre Hoffnung.
Vier Jahre sind seit den Wahlen 2020 vergangen, und dennoch werden täglich Menschen verhaftet. Belarus gehört jetzt weltweit zu den führenden Ländern in Bezug auf politische Gefangene pro Kopf und ist das Land mit den meisten politischen Gefangenen in Europa. 1.400 Menschen sitzen als politische Gefangene hinter Gittern. Über 2.000 haben bereits Jahre im Gefängnis verbracht und wurden nach Ende ihrer Haftzeit entlassen.
Wir Belarusen haben in den letzten vier Jahren unermüdlich gekämpft, aber trotz all unserer Bemühungen klammert sich Lukaschenko weiter an die Macht und bereitet sich auf eine weitere Amtszeit vor. Nun ist Belarus mit einer neuen Bedrohung konfrontiert: Die wachsende Abhängigkeit von Russland gefährdet die Unabhängigkeit unseres Landes. Russland will, dass Belarus vollständig in den Krieg eintritt. Das bedeutet, dass eine noch größere Gefahr über der gesamten Region schwebt. Wir, das belarusische Volk, wollen weder den Verlust unserer Unabhängigkeit noch den Eintritt in diesen Krieg.
Die Geschichte von 1989 erinnert uns daran, dass diejenigen, die Menschen ihrer Freiheit berauben, nicht ewig leben. Aber solange sie an der Macht sind, können sie immenses Leid verursachen. Deshalb müssen wir unsere Freiheit schätzen. Hier in Deutschland leben Sie an einem Ort, an dem Freiheit kein leeres Wort ist. Sie wurde zu einem hohen Preis errungen und sollte niemals als selbstverständlich angesehen werden.
Wir bitten nicht um Mitleid oder darum, dass jemand unser Leid teilt. Was mir am wichtigsten ist, ist, dass wir nicht vergessen werden:
1. Bitte wendet euch nicht von uns ab. Wir sind nicht Russland. Aber wenn Belarus weiterhin in dieser Grauzone zwischen Russland und dem Westen bleibt, wird Russland uns früher oder später ebenfalls verschlingen.
2. Selbst in Zeiten von Krieg und Isolation haben wir gesehen, dass es Raum für Dialog gibt. Anfang August wurden russische politische Gefangene im Rahmen eines Austauschs zwischen dem Westen und Russland freigelassen.
Seit Juli hat Lukaschenko unerwartet 78 politische Gefangene begnadigt, wahrscheinlich in Vorbereitung auf die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen. Vier Jahre sind seit der letzten Wahl vergangen, was bedeutet, dass Maria jetzt seit vier langen Jahren im Gefängnis ist – genau wie so viele andere: Viktar Babaryka, Siarhei Tsikhanouski, Maksim Znak, Ihar Losik und 1.400 weitere. Aber es bedeutet auch, dass andere bald freigelassen werden könnten.
Jede Person, die aus einem belarusischen Gefängnis entlassen wird, gibt mir Hoffnung, dass auch meine Schwester Maria bald frei sein wird.
Die belarusische Bürgerrechtlerin Maria Kalesnikava am 6. September 2021 in Minsk vor Gericht, sie wurde wegen ihrer friedlichen Proteste gegen das Regime Lukaschenko zu 11 Jahren Haft verurteilt, ihr Mitstreiter Maksim Znak aus der Opposition von Belarus zu zehn Jahren. (© picture-alliance/dpa, Sputnik | Viktor Tolochko)
Die belarusische Bürgerrechtlerin Maria Kalesnikava am 6. September 2021 in Minsk vor Gericht, sie wurde wegen ihrer friedlichen Proteste gegen das Regime Lukaschenko zu 11 Jahren Haft verurteilt, ihr Mitstreiter Maksim Znak aus der Opposition von Belarus zu zehn Jahren. (© picture-alliance/dpa, Sputnik | Viktor Tolochko)
Damit dies geschieht, ist politischer Wille entscheidend. Das nächste Mal, wenn über Gefangenenaustausche oder irgendeine Form der Kommunikation mit Lukaschenko diskutiert wird, ist es unerlässlich, dass belarusische politische Gefangene Teil dieser Gespräche sind.
In den letzten vier Jahren habe ich immer wieder meine Stimme erhoben – um zu überzeugen, zu bitten, zu erinnern. Denn jedes Mal, wenn jemand aufhört, darüber zu reden, verlieren politische Gefangene Unterstützung und Hoffnung. Sie bleiben allein in der Stille zurück. Aber es ist in dieser Stille, dass ihre Stimmen noch lauter gehört werden müssen.
Ich glaube, dass wir gemeinsam, mit Ihrer Unterstützung, die Freilassung derjenigen erreichen können, die für die Freiheit in Belarus kämpfen. Ich glaube, dass eines Tages meine Schwester Maria und Tausende andere politische Gefangene endlich die Freiheit erleben werden, nach der sie sich so sehr sehnen.
Zitierweise: Tatsiana Khomich, "Bitte wendet euch nicht von uns ab. Ein Hilferuf aus Belarus", in: Deutschland Archiv, 16.09.2024, www.bpb.de/552227. Alle Beiträge im Deutschland Archiv sind Recherchen und Sichtweisen der jeweiligen Autoren und Autorinnen, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar (hk).
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