Timm Lewerenz: Herr Precht, wer für Toleranz einsteht, der fordert meist die Gleichberechtigung von Minderheiten innerhalb der eigenen Gesellschaft. Sie aber verbinden den Begriff nicht mit der Innen- und Sozialpolitik, sondern mit der Außenpolitik. Wie geht das zusammen?
Richard David Precht: Der Toleranzbegriff meint hier: Wir müssen tolerieren, dass im 21. Jahrhundert auch andere Gesellschaftsformen existieren als die liberale Demokratie. Sie ist nicht, wie früher gedacht, in dem Sinne überlegen, dass sie sich flächendeckend ausbreitet. In den 1990er-Jahren hatten wir diese Illusion noch: Das 21. Jahrhundert werde das Jahrhundert der Demokratien. Das hat sich nicht bewahrheitet und wir müssen uns fragen: Wie gehen wir damit um?
Was ist Ihre Antwort?
Entweder wir beharren umso hartnäckiger darauf, dass die Welt aus liberalen Demokratien bestehen soll. Oder aber wir erkennen an, dass unser Modell, das wir – und auch ich – aus sehr guten Gründen bevorzugen, nicht der Exportschlager ist, den wir uns wünschen. Und wir tolerieren, dass jedes Land das Recht hat, seine eigene Regierungsform zu wählen.
Oftmals haben die Menschen doch aber gerade nicht die Wahl. Sie wünschen sich eine freiere und gerechtere Gesellschaft, doch die Herrschenden verhindern sie.
Dass sich eine Mehrheit der Menschen zum Beispiel in China eine Gesellschaftsform wie die unserer Bundesrepublik wünscht, das halte ich für ein Gerücht. Empirisch zeigte das 2023 die Oxford-Studie Living in an à la carte world der Politologen Timothy Garton Ash, Ivan Krastev und Mark Leonard: Viele Menschen weltweit finden, dass wir in unseren liberalen Demokratien das beste Leben führen, allerdings in einer Gesellschaft, für die sie äußerst skeptisch in die Zukunft blicken. Daraus folgt die politische Haltung, „à la carte“ zu bestellen: Militärisch sucht man die Nähe zu den USA, wirtschaftlich zu China. Man stellt sich sein Menü zusammen.
Sie plädieren für eine „wertegeleitete Außenpolitik“ wie auch die Außenministerin Annalena Baerbock. 2023 stellte sie Leitlinien einer „feministischen“ Außenpolitik vor. Dazu zählen die gezielte Bekämpfung sexualisierter Gewalt in bewaffneten Konflikten und die Beteiligung von Frauen an Friedensprozessen. Ist das nicht in Ihrem Sinne?
Das sind alles positive Wertvorstellungen, die ich teile. Die Formulierung dieser Leitlinien ist nicht das Problem, sondern der Weg, auf dem versucht wird, sie umzusetzen. Und hier bleibt von der hehren Gesinnung oft nicht mehr viel übrig. Es gibt Länder, auf die meinen wir im Hinblick auf Frauenrechte einwirken zu müssen, und solche, bei denen es uns ziemlich egal zu sein scheint. Eine wertegeleitete Außenpolitik gerät so in den Verdacht, unaufrichtig zu sein. Sie darf nicht mit zweierlei Maß messen. Wir dürfen Menschenrechtsverletzungen in Saudi-Arabien nicht anders bewerten als in China.
Worin genau unterscheidet sich die wertegeleitete Außenpolitik, für die Sie plädieren, von jener, der sich die Bundesregierung verschrieben hat?
Das Wichtigste ist – neben dem Verzicht auf Doppelmoral – eine Priorisierung der Werte. Das allergrößte Problem der Menschheit ist die drohende Vernichtung unserer Lebensgrundlage im Zeitalter der Klimakatastrophe und der Zerstörung der Umwelt. Den Kampf um ein lebenswertes Leben, denjenigen um Zugang zu Trinkwasser und Nahrung teilen wir alle. Genau auf diese Werte, die uns einen, und nicht jene, die uns trennen, sollte sich eine wertegeleitete Außenpolitik konzentrieren.
In Ihrem Buch „Das Jahrhundert der Toleranz: Plädoyer für eine wertegeleitete Außenpolitik“ kritisieren Sie den Anthropologen Max Scheler dafür, dass er Werte in einer Rangordnung gliedert. Aber ist das nicht genau das, was Sie auch tun: eine Hierarchisierung der Werte?
Scheler betrachtet Werte – wie das Heilige und das Schöne – isoliert und ordnet sie an und für sich. Ich schaue mir dagegen an, welches die dringendsten Probleme sind. Von dort ausgehend treffe ich eine pragmatische, keine metaphysische Priorisierung der Werte.
Pressefreiheit und Gewaltenteilung seien weniger wichtig als saubere Luft und trinkbares Wasser, schreiben Sie. Mit dieser Argumentation könnte doch jeder Diktator demokratische Institutionen im Namen humanitärer Sicherheit kleinhalten…
Wenn in Deutschland der Wohlstand einbrechen würde, wir massive Probleme in der Versorgung mit Trinkwasser hätten, dann würden doch nicht nur Autokraten, sondern auch wir uns einig sein: In einer solchen Situation sind Pressefreiheit und Gewaltenteilung nicht die allerwichtigsten Werte. Wir können an einer solchen Priorisierung nur deshalb zweifeln, weil wir von den Folgen des Klimawandels noch nicht so stark betroffen sind. Das ändert nichts daran, dass Pressefreiheit und Gewaltenteilung äußerst hoch anzusehende Werte sind, zu denen ich mich selbst ausdrücklich bekenne.
In kaum einem der aktuellen Konflikte berufen sich westliche Politiker derart häufig auf Werte wie im Ukrainekrieg. Kürzlich gewährte Bundeskanzler Olaf Scholz der Ukraine, deutsche Waffen auch gegen Ziele in Russland einzusetzen. Ist das ein Anzeichen wertegeleiteter Außenpolitik?
Nein, dahinter stehen keine Werte, sondern die militärpragmatische Überlegung, der Ukraine bessere Chancen in diesem fürchterlichen Krieg zu geben. Die Logik des Krieges motiviert diese Entscheidung. Aber zugleich wissen wir, dass diese Logik zu keinem positiven Ende führt, weil die Ukraine auch dadurch den Krieg nicht gewinnt. Entscheidend wäre es daher, jenseits dieser Logik auf einen Kompromiss hinzuarbeiten, der für alle Beteiligten erträglich ist.
Von der Formulierung, die Ukrainer würden auch für „unsere Werte“ und Freiheit kämpfen, halten Sie also nichts?
Davon halte ich wirklich nichts. Wir interpretieren diesen Krieg gerne als systemische Rivalität zwischen einem freiheitlichen und einem autokratischen System. Wenn es uns wirklich darum ginge, eine freiheitliche Entwicklung zu fördern, würden wir uns für eine neutrale Ukraine einsetzen, die gute Beziehungen zur Europäischen Union pflegt und gleichzeitig in einem dauerhaften Frieden mit Russland lebt. Doch wir sehen nur ein Entweder-oder. Der Krieg speist sich in erster Linie aus geostrategischen und militärischen Interessen, die mit der Rede von Werten übertüncht werden.
Sie unterscheiden hier zwischen Werten und Interessen. Aber ist diese Trennung zulässig? Haben wir nicht letztlich immer ein handfestes „Interesse“ daran, dass unsere „Werte“ beachtet werden?
Bei Interessen und Werten handelt es sich um einen Scheingegensatz. Eine rein interessegeleitete Außenpolitik kann es gar nicht geben. Denn in dem Moment, in dem ich etwas gutheiße oder ablehne, habe ich es mit Bewertungen zu tun. Max Scheler definierte den Menschen zu Recht über seine Fähigkeit, differenziert zu werten. Werte und Interessen spielen immer zusammen. Mein Plädoyer ist, unsere Interessen besser zu verstehen und unsere Werte zu priorisieren. Das heißt in der Praxis: langfristig für Frieden zu sorgen und gemeinsam der Klimakatastrophe zu trotzen.
Wenn es um Werte geht, erscheint die Situation in Gaza und Israel komplizierter als die Beurteilung des Ukrainekrieges. Wenigen Kommentatoren gelingt es, sich zum Schutz des israelischen Staates zu bekennen und zugleich dessen Regierung zu kritisieren, den Terror der Hamas zu verurteilen, ohne die humanitäre Not der Palästinenser zu relativieren. Wie sähe hier eine gelungene wertegeleitete Außenpolitik aus?
Als Deutsche sind wir aufgrund unserer historischen Schuld nicht diejenigen, die hier in die erste Reihe treten sollten. Wir können bei diesem Thema nicht laut moralisieren. Die Europäische Union dagegen könnte schon anders auftreten. Vor allem müsste sie viel deutlicher die Frage stellen: Was soll danach kommen? Soll mit internationalem Geld der Gazastreifen wiederaufgebaut werden, nur unter besseren Bedingungen? Wie steht es um die Siedlungspolitik im Westjordanland? Ich sehe kaum, dass diese Fragen öffentlich diskutiert werden.
In Ihrem Buch plädieren Sie für einen „Welt-Kommunitarismus“. Was meinen Sie damit?
Der Kommunitarismus, wie ihn zum Beispiel der Philosoph Alasdair MacIntyre vertritt, betont die moralische Verantwortung des Menschen für sein unmittelbares Umfeld. Doch der Kommunitarist muss sich immer fragen, wo die Grenzen seiner community sind. Biologisch bedingt ist unser Verantwortungssinn auf uns selbst, unsere Familie und Nächsten limitiert. Darüber hinaus muss der Verstand einsetzen, der so wunderbare Dinge wie die Vereinten Nationen hervorgebracht hat. „Welt-Kommunitarismus“ meint: In einer Zeit, in der rund acht Milliarden Menschen „in einem Boot sitzen“ und der Klimakatastrophe ausgesetzt sind, muss es uns gelingen, einen Verantwortungssinn gegenüber der Weltgemeinschaft aufzubringen – selbst wenn wir diese Verantwortung nicht intuitiv fühlen.
Von dem britischen Philosophen Robin George Collingwood übernehmen Sie den Begriff der civility. Übersetzt man ihn mit „Zivilität“, klingt das nach Anstand und Etikette. Was verstehen Sie darunter?
Collingwood sagt, je stärker Menschen sich ethisch sensibilisieren, je achtsamer sie mit ihrer Umwelt umgehen, umso liberaler wird eine Gesellschaft. Und durch „Selbstkultivierung“ – das meint er mit civility – kann selbst dort eine liberale Ordnung entstehen, wo keine liberale Tradition nach westlichem Muster vorherrscht. Diese Prozesse seien es, die gesellschaftlichen Fortschritt hervorbringen. Und sollte China eines Tages seine Haltung zu Andersdenkenden oder religiösen Minderheiten ändern, dann durch Selbstkultivierung. Liberalismus ist ein Saatgut, das überall neu und wiederholt gesetzt werden muss, in der Hoffnung, dass daraus Pflanzen erwachsen.
Das klingt, als ob es doch auf uns ankomme, das Saatgut dort zu streuen, wo wir gerne eine liberale Ordnung sehen würden…
Nein, es ist vielmehr das Saatgut der Natur, das sich von selbst fortträgt und dort aufkeimt, wo die Umweltbedingungen stimmen. Wir können nicht als ein gesellschaftspolitisches „Monsanto“ daherkommen und versuchen, in einem Land etwas zum Keimen zu bringen, was es zu diesem Zeitpunkt und in dieser Art nicht von selbst hervorgebracht hätte.