Fast 33 Prozent der Wählenden votierten bei den Landtagswahlen am 1. September 2024 in Thüringen für die rechtsextreme AfD, mehr als 30 Prozent im benachbarten Sachsen. Laut Umfragen können sich sogar zwei Drittel der Bürger in Ostdeutschland vorstellen, Extremisten mit autoritären Staatsvorstellungen zu wählen. Der Historiker Iko-Sascha Kowalczuk beschreibt eine der Ursachen für die ungebrochene Sehnsucht im Osten nach dem starken Staat: "Ostdeutschtümelei". Ein Kommentar zur Zeit.
Nicht nur Russland bedroht die Freiheit der Ukraine und Europas. Auch in den demokratischen Staaten gibt es überall immer stärkere politische Bewegungen, die die repräsentative Demokratie überwinden wollen und eine »Diktatur der Mehrheit« anstreben.
In Ostdeutschland scheint sich in vielerlei Hinsicht dieser Kampf um Freiheit und Demokratie wie unter einem Brennglas zu bündeln. Nicht zufällig hatte die BSW-Vorsitzende Sahra Wagenknecht die Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg im Sommer 2024 zu Wahlen ausgerufen, bei denen es um Krieg oder Frieden geht.
Die atmosphärischen Bilder von Ostdeutschland, die zuweilen gemalt werden, sind oftmals noch zu hell. Wer sich etwas auskennt, weiß, wovon die Rede ist. Extremismus von links und rechts gibt es überall in Europa, auch in Bayern, Baden-Württemberg oder Schleswig-Holstein. Der entscheidende Unterschied zu Ostdeutschland besteht noch nicht einmal in der Quantität – AfD und BSW erlangen auch im Westen immer größeren Zuspruch –, nein, der maßgebliche Unterschied ist ein anderer: Im Westen stehen die Extremisten und ihr Wählerpotenzial – noch! – an den Rändern, im Osten aber bestimmen sie aus der Mitte der Gesellschaft heraus immer mehr das Geschehen.
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Es geht nicht nur um AfD und BSW, nein, es geht um einen weitaus stärkeren gesellschaftspolitischen Mainstream: der Sehnsucht nach einem autoritären Staatsgebilde, einer homogenen Gesellschaft und einer »Diktatur der Mehrheit«, in der die Rechte und Ansprüche von Minderheiten keine Rolle spielen.
Den meisten Menschen, die aus der kommunistischen Diktatur kamen, war der Unterschied zwischen Staat und Gesellschaft nicht bewusst. Was bedeutet es eigentlich kulturell, wenn der Staat, der SED-Staat, die Gesellschaft verstaatlichte, Staat und Gesellschaft kongruent setzte. Genau das geschah in der DDR – jedes Kind lernte es von klein auf, es gibt keine Interessengegensätze, keine Widersprüche zwischen Partei, Staat und Gesellschaft. Das war nicht nur Theorie, sondern auch erlebte Praxis: Nur etwa fünf (5!) Prozent aller Berufstätigen arbeiteten in privaten Kleinbetrieben (und in den Kirchen), 450.000 Menschen von etwa neun Millionen. Alle anderen waren praktisch Staatsangestellte, auch jene, die formal in Genossenschaften tätig waren.
Staat und Gesellschaft waren eins
Der Staat übte sämtliche Funktionen auch der Gesellschaft aus, alles war von ihm gesteuert. Wenn heute im Osten zu beobachten ist, dass eine große Staatsskepsis grassiert, so ist das keinesfalls ein neuer Befund. Schon seit 1990 ist zu beobachten, dass im Osten der Ruf nach einem starken Staat immer mehrheitsfähig geblieben ist. Noch immer nehmen viele an, der Staat habe gesellschaftliche und zivilgesellschaftliche Aufgaben zu erfüllen.
Schaut man sich heute in Foren und den sozialen Medien dort um, wo sich einstige DDR-Insassen über ihre DDR-Zeit, ihre dortigen Erfahrungen und Erlebnisse austauschen, so fallen einem Sätze von Uwe Johnson ein. Der Schriftsteller war 1959 in den Westen gegangen, wurde weltberühmt und hatte die DDR nie aus den Augen verloren. 1970 publizierte er einen Essay, der als Nachwort zu dem Buch »Ich bin Bürger der DDR und lebe in der Bundesrepublik« herauskam. Johnsons Text begann mit den denkwürdigen Worten:
»So reden Kindern von ihren Eltern. So reden Erwachsene von jemand, der einst an ihnen Vaterstelle vertrat. Sie reden von der DDR mit einem Abstand, der auch Achtung zu verstehen gibt, mit einer Vertrautheit, die eher aus intimer Kenntnis denn aus ungemischter Zuneigung gewachsen ist. Sie fordern den ehemaligen Vormund in die Rolle des Partners, noch im Zorn verlangen sie das Gespräch mit ihm.«
Auf wenigen Seiten skizziert Johnson die konkrete Verführungskraft dieser DDR, der bis heute so viele nachhängen: Ihr Pathos, gerecht, antifaschistisch und sozial vielversprechend zu sein, einen Schlussstrich zu ziehen, etwas Neues zu beginnen im Namen aller. Wer sich gegen den Gruppenzwang stellte, wurde nicht nur vom SED-Staat, sondern auch von der Gruppe, zu der er angeblich gehörte, mindestens missbilligt, zuweilen ausgeschlossen. Es sollte Ruhe herrschen. Und Sauberkeit. Da kannten sich die Kommunisten aus, sie säuberten gern und unentwegt. Zur Säuberung gehörte auch die Mauer, denn sie hielt den eigenen Laden sauber und zeigte ganz genau an, dass es für alle Unzulänglichkeiten einen Verursacher, einen Feind gab, und der saß hinter der Mauer.
Wie Uwe Johnson beobachtete, war DDR »mehr als ein Land, mehr als Heimat und biographische Gegend. … In vielen Aussagen erscheint die DDR als fest umrissene personenähnliche Größe …«. Was für eine grandiose, was für eine für Millionen gültige Beschreibung! »DDR« ist ein Versprechen, ein Kumpel, ist omnipräsent, mit dem Ding wird geredet und geschimpft wie mit einem Elternteil, von dem man nicht ablassen kann, dem man doch so viel zu verdanken habe (Ostdeutschtümelei), daher auch die Nachsicht.
Es blieb immer ein starker Rest an Zuneigung, Vertrautheit, die Enttäuschung speiste sich daraus und ein radikaler Bruch war fast unmöglich, weil die Eigenschuld im Raum stand. Die Lügen der DDR erschienen vielen peinlich, wie es peinlich ist, eine geachtete oder gar geliebte Person beim Lügen zu ertappen.
Im Osten der Frieden, im Westen die Freiheit
Die folgenden Sätze erscheinen, als beschriebe der 1984 verstorbene Dichter, was sich ab 1990 zutragen sollte: »Übrigens waren sie nicht gekommen, um in der Bundesrepublik Deutschland zu sein, sondern um aus der DDR wegzugehen.« Und überhaupt der Westen – er war ganz anders als in der DDR geschildert, unübersichtlicher, toleranter, die Herrschaftsverhältnisse geschickt versteckt. Die Westler, »lebten ganz harmlos privat«. Sie erlaubten sich sogar auf das Wichtigste zu verzichten: Politik. Die DDR-Menschen hatten sich mit dem Virus der DDR infiziert, sie glaubten an ihre »eigene Minderwertigkeit«, was »die Westdeutschen gern ausnutzten«. Johnson beobachtete, wie Bürger aus der DDR sich »Leute II. Klasse« fühlten. Und tatsächlich sah er auch bereits: Die Bundesdeutschen sprächen von Freiheit wie die DDR und ihre Menschen vom Frieden.
Ja, das ist 1970 geschrieben worden. Auch, dass viele wie Kinder es sich nicht endgültig mit der DDR verderben wollen, sich aussöhnen möchten. Übrigens schreibt Johnson, auch er habe neun oder zehn oder zwölf Jahre gebraucht: »Nun ist es vorbei.« Anders als für Johnson ist es für Millionen Ostdeutschen nicht vorbei. Sie gingen weg, aber kamen nie an.
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Viele sehnen sich nach einer DDR, wie sie erinnert wird, wie sie aber nie existierte. Die Mehrheit strebt einen Staat an, der stark und autoritär die Angelegenheiten im Sinne des »gesunden Menschenverstands« regelt.
35 Jahre nach dem Mauerdurchbruch sind unsere Welt, unser Europa und unser Deutschland andere geworden. Kaum jemand hatte solche rasanten Veränderungen und Entwicklungen vorhergesagt. Die digitale Revolution stellt die gesamte Welt vor große Herausforderungen. Wir erleben nicht nur weltweit eine Transformationsmüdigkeit, sondern auch eine Transformationsüberforderung. In einer solchen Situation suchen viele Menschen nach Sicherheit.
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Was gibt mehr Sicherheit als die Vergangenheit? Im Rückblick weiß man nämlich genau, wie es »lief«, wie man sich zu bewegen hatte? Darauf bauen Populisten auf, die eine Zukunft versprechen, die an die »goldene« Vergangenheit erinnert. In Ostdeutschland wird so die DDR, die SED-Diktatur von vielen Menschen immer schöner, immer harmonischer gemalt und gezeichnet. Die Sehnsucht nach der DDR ist bei vielen unübersehbar, allerdings will fast niemand die DDR zurück, wie sie wirklich war, sondern wie sie rosarot weichgezeichnet wird als Erinnerungsausruhesaal. Ich nenne auch das Ostdeutschtümelei.
Auch die Annahme, die eigenen Erfahrungen wären einzigartig und würden zu besonderen Fähigkeiten führen, gehört dazu.
Seit Jahren erleben wir einen sich zuspitzenden Kampf zwischen Verteidigern der bundesdeutschen Grundordnung und scharfen Kritikern von links wie rechts, die eben diese Grundordnung überwinden wollen. Ostdeutschland spielt hierbei seit rund 25 Jahren eine Vorreiterrolle. Erst die SED-PDS-Linkspartei, dann die AfD und nun noch das BSW – antiwestliche, antifreiheitliche Parteien hatten hier immer einen besonders hohen Zulauf. Zwei Drittel der in Ostdeutschland Lebenden können sich vorstellen, Extremisten mit autoritären Staatsvorstellungen zu wählen.
Die repräsentative Demokratie ist gefährdet wie nie seit 1949. Es geht um Freiheit. Um nichts weniger. Und nur Freiheit garantiert Frieden – ohne Freiheit gibt es keinen Frieden!
Zitierweise: Ilko-Sascha Kowalczuk, „Wie die Mitte der Gesellschaft verloren ging", in: Deutschland Archiv, 29.08.2024, ergänzt am 01.09.24. Link: www.bpb.de/551672. Die Erstveröffentlichung erfolgte am 18. 08.2024 im Spiegel und auf Spiegel Online am 21.08.2024 unter dem Titel "Die gefährliche Sehnsucht nach einem autoritären Staat" (https://www.spiegel.de/kultur/wahlen-in-ostdeutschland-die-repraesentative-demokratie-ist-gefaehrdet-wie-nie-gastbeitrag-a-92aab600-bdb3-429d-91a0-33d872ccddfe). Alle Beiträge im Deutschland Archiv sind Recherchen und Sichtweisen der jeweiligen Autoren und Autorinnen, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar. (hk)
Dr. Ilko-Sascha Kowalczuk ist Historiker mit dem Schwerpunkt auf der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit. Seine 2023 und 2024 ershienene zweiteilige Biografie des ersten Staatschefs der DDR Walter Ulbricht beschreibt den SED-Funktionär als »deutschen Kommunist« und später als »kommunistischen Diktator«. Im September 2024 erscheint nun »Freiheitsschock. Eine andere Geschichte Ostdeutschlands von 1989 bis heute« (alle bei C.H. Beck in München).
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