Im Frühjahr 2024 erschien das Buch "Ich bin ostdeutsch und gegen die AfD. Eine Intervention" der Anglistin und Literaturwissenschaftlerin Susan Arndt. Seitdem gehen, wie sie schreibt, täglich bis zu 30 Hassmails bei ihr ein. Dabei ist es ihr Anliegen, nüchtern zu beschreiben, dass mehr als die Hälfte der Ostdeutschen eben nicht Parteien wie die AfD wählt und dass die Rechtsaußenpartei "ein gesamtdeutsches Problem" ist. In den nachstehen Buchauszügen beschreibt sie, wie schon vor dem Mauerfall Klischeebilder voneinander wuchsen, stellt ihre Sicht auf die Folgen des Transformationsprozesses nach 1990 dar und erläutert Ursachen für gewachsene Frustrationen im Osten Deutschlands, "die durch westliche Überheblichkeit begünstigt wurden".
Bruno Apitz’ Roman Nackt unter Wölfen (1958) erzählt von einer Gruppe Kommunisten verschiedener Herkunftsländer, welche im Konzentraionslager Buchenwald gegen die nationalsozialistische Gewalt und für Menschlichkeit kämpfen. Metaphorisch wird diese an wahren Ereignissen orientierte Geschichte an dem Kampf um das Überleben eines dreijährigen Kindes festgemacht. Den Roman habe ich mehrfach gelesen, die DEFA-Verfilmung aus dem Jahr 1963 einige Male gesehen. Jedes Mal fiel ich in eine Art Schockstarre angesichts des Schmerzes und der Gewalt. Gleichzeitig trug mich die im Widerstand gezeigte Stärke da auch wieder raus. Mich erfüllte Bewunderung darüber, dass ein Mensch nichts mehr hat als den eigenen Körper, um den Körper eines anderen Menschen zu schützen, und diesen einen und einzigen Körper dann einsetzt, um ein anderes Leben zu retten.
Der Schutz des Kindes war dabei eine Metapher dafür, für die Humanität der Zukunft sein eigenes Leben zu geben, obwohl man selbst diese nicht mehr erleben könnte. Ich fühlte das als Vermächtnis für mein eigenes Leben. Sich von der nationalsozialistischen Vergangenheit zu lösen, dieser Vergangenheit keine Zukunft zu geben, war etwas, was Menschen in beiden deutschen Staaten mehrheitlich wollten. Doch dieser Grundsatz wurde sehr unterschiedlich gelebt.
Auch darüber hinaus beschritt das geteilte Deutschland nach der Zerschlagung des Nationalsozialismus durch die Alliierten zwei Pfade, die gegensätzlicher kaum sein könnten. Es wurden sich widersprechende politische und wirtschaftliche Systeme aufgebaut, und beide deutsche Staaten fungierten als Grenzländer des «Interner Link: Kalten Krieges» – die DDR an der Westgrenze des kommunistischen Osteuropas und die Bundesrepublik als Bollwerk des freien Westens. Das ging mit entsprechenden Vorstellungen von Normalität und diese tragenden Erzählungen einher. Sich selbst zu definieren, ging nicht, ohne sich vom jeweils anderen abzugrenzen. Und so erfanden sich West und Ost, durch Geschichten, in denen die Überlegenheit des eigenen Systems über das der anderen Seite im Mittelpunkt stand. Beide deutsche Staaten nahmen für sich in Anspruch, auf der Siegerseite der Geschichte zu stehen und Gegenwart und Zukunft besser zu gestalten als die jeweils andere Seite.
Solche Überlegenheitssetzungen sind eine Konstante der Menschheitsgeschichte. Königreiche oder Nationen oder Kulturen und Religionen konturierten sich in Abgrenzung zu allen, die nicht dazugehören. Natürlich ging es dabei immer primär darum, Herrschaft auszubauen und ökonomische oder territoriale Interessen zu rechtfertigen, einschließlich Raub, Ausbeutung oder Krieg.
Aber es geht auch um Zugehörigkeit und daran angelehnte Wertschätzung. Hier knüpfen Ideologien an, die zwischen der Norm und dem Anderen unterscheiden, um das Eigene über die Anderen zu stellen: «Diese Menschen sind Ungläubige, und da unser Christentum die einzig richtige Religion ist, lasst sie uns christianisieren, auch wenn wir dafür Gewalt anwenden müssen»; oder: «Afrikaner sind keine vollwertigen Menschen, lasst sie uns versklaven und ihre Diamanten heben, denn wir als einzig überlegene ‹Rasse› haben das Recht dazu.»
Inmitten dieser Geschichte baute die Bundesrepublik die zweite parlamentarische Demokratie Deutschlands auf. An der Seite der USA und Westeuropas und unterstützt durch den Marshall-Plan, steuerte sie in die soziale Marktwirtschaft und ökonomischen Wohlstand, jedenfalls gesamtgesellschaftlich gesehen. Obwohl Wohlstand nur inmitten von ökonomischen Ungleichheitskonstellationen samt Arbeitslosigkeit oder Armut zu haben war, wurde Wirtschaftskraft zur aussagekräftigen Stempelfarbe für das Gütesiegel der Überlegenheit der Bundesrepublik und des politischen Westens, also Nord- und Westeuropas sowie Nordamerikas. Das funktionierte nur mit Zauberformeln wie «Wirtschaftswunder» und der «Vom-Tellerwäscher-zum-Millionär»-Geschichte. Sie machte große Lotto-Versprechen, taugte aber auch dazu, das Ausbleiben des kleinen oder großen Erfolgs als individuelle Erfahrung und Verantwortung zu verkleiden. Das hatte den Effekt, dass sich viele in die eigene Tasche logen. So zu tun, als gehöre man dazu, aber stärkte das eigentlich illusionäre Gütesiegel «Wohlstandsgesellschaft» und letztlich das kapitalistische Prinzip, dass viele vor allem in die Taschen weniger wirtschaften.
Das zweite Gütesiegel wurde aus Prinzipien der offenen Gesellschaft, wie Demokratie und Freiheit, abgeleitet, welche gesellschaftlich garantiert waren, auch wenn dies im Einzelnen unvollständig war und insgesamt ungerecht blieb. Das Letztentscheidungsrecht des Mannes etwa wurde erst 1957 in der Bundesrepublik aufgehoben, wobei es genaugenommen sogar erst 1977 endgültig fiel. Und § 175 des StGB, der Homosexualität verbot, wurde erst 1994 abgeschafft, überdauerte also die alte Bundesrepublik und hebelte damit sogar de facto die Abschaffung des Paragrafen in der DDR im Jahr 1968 aus. Zentral für das Gütesiegel des demokratischen und freiheitlichen Neubeginns aber war es, mit dem Nationalsozialismus zu brechen. Doch die Abkehr war längst nicht konsequent genug.
So wurden zwar öffentlichkeitswirksame Prozesse gegen Protagonist* innen des Nationalsozialismus geführt, klare Worte der Verurteilung des «Dritten Reiches» gefunden und ein Grundgesetz verabschiedet, das Diskriminierung verbot. Doch Antisemitismus wurde nie komplett überwunden. Der Porajmos, der nationalsozialistische Genozid an Roma und Sinti, wurde weitgehend ignoriert, sogar an antiziganistischen Gesetzen wurde festgehalten. Auch bei der institutionellen Ersetzung nationalsozialistischer Eliten blieb die Politik, vor allem zur Zeit Adenauers, moderat. Und obwohl der antislawische Rassismus struktureller Rahmen für die genozidal gesteuerten Massenerschießungen durch die Wehrmacht gewesen waren, speiste er sich in den Antikommunismus des «Kalten Krieges» ein.
Dieser war der eigentliche Hintergrund für die westliche Überlegenheits- Erzählmanufaktur, so wie auch umgekehrt für die des Ostblocks im Allgemeinen und der DDR im Besonderen.
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Das Überlegenheitsnarrativ der DDR setzte an der Behauptung an, der einzige antifaschistische deutsche Staat zu sein. Das war zwar insofern schon von der Idee her problematisch, als Faschismus an eine diktatorische, antifreiheitliche und militarisierte Staatsform gebunden ist und die DDR selbst eine Diktatur war, die Militarisierung großschrieb. Doch durch die Rede von der «Diktatur des Proletariats», die für eine neue künftige Weltordnung kämpfe, sollte dieses Paradoxon aufgehoben und als eine weitere Überlegenheitszutat verwendet werden. Diese Diktatur wurde als vermeintliche Befreiung gesetzt, nicht nur der Arbeiter und Bauern. Nein, der ganzen Welt.
Der wissenschaftliche Kommunismus behauptete, analog zu Darwins Evolutionstheorie, dass sich die Geschichte vom primitivsten Urmenschenclan zum Kommunismus entwickle, in dem alle Menschen gleich seien. Kapitalismus sei nur dessen vorletzte endliche Vorstufe, Sozialismus die direkte Schwelle zum Kommunismus als höchster und finaler Existenzform. Da nicht alle Menschen dafür bereits das richtige Bewusstsein hätten, müsse dieses noch erzeugt werden, was ein Freibrief für ideologisches und autokratisches Disziplinieren war.
In diesem Rahmen wuchs sich die DDR ihrerseits unter sowjetischer Dominanz und geleitet von dem Credo «Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen» zu einer sozialistischen Diktatur aus, in der Freiheit, Mitbestimmung und Privateigentum auf ein Minimum reduziert wurden. Die sozialistische Planwirtschaft verwaltete eine Mangelökonomie. Die Investitionsquoten, zum Beispiel, hatten ein bedenklich niedriges Niveau – ein Dauerthema in den DDR-Wirtschaftsetagen. Zwar gab es keine Arbeitslosigkeit, aber auch keine Effzienz. Die Wirtschaftsleistung reichte nicht einmal für die politisch notwendige Subventionspolitik (als Bindungsmittel ans System), geschweige denn für Wohlstand. Dennoch verkaufte die SED-Führung die DDR einerseits als führende Industrienation (und im Westen glaubten das nicht wenige, ostdeutsche Arbeiter*innen hingegen nur in Ausnahmefällen) und ihren ökonomischen Minimalismus andererseits als Tugend gegen den protzenden Wohlstand der Bundesrepublik. Dabei konnte sie ausnutzen, dass im mageren Wohlstand die Schere zwischen Arm und Reich in der DDR weniger breit und sichtbar ausfiel.
Die Betonung der Armut in der Bundesrepublik war eine willkommene Erzählung, um die Schönheit der bundesdeutschen Marktwirtschaft als leere Kulisse zu inszenieren, welche kapitalistische Ausbeutung verschleiere. Und weil, umgekehrt, die Klassenfrage als eigentlicher Hauptwiderspruch in der DDR gelöst worden sei, sei diese der einzig antifaschistische Staat und einer, in dem auch alle Nebenwidersprüche wie die «Frauenfrage» oder der Rassismus gelöst worden seien. Doch diese «Errungenschaft» wurde von der DDR instrumentalisiert, um Diskriminierung nicht einfach nur zu verbieten, sondern sie als nicht-existent zu erklären. Das bedeutete, Diskriminierung zu beschweigen.
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Jedes Sprechen über und jedes Handeln gegen Sexismus oder Rassismus wurde nicht nur eingestellt. Es wurde untersagt. In diesem Sumpf des Schweigens wurden Nationalsozialismus und Diskriminierung nicht aufgearbeitet, sondern mit verdorbener Erde weiter genährt. Das schwächte den Bruch mit dem Nationalsozialismus und seiner ideologischen Erblast und wirkte sich insgesamt auf die fehlende kritische Auseinandersetzung mit Diskriminierung in der DDR-Gesellschaft aus.
Das Schwächeln im Umgang mit der faschistischen Vergangenheit wurde allein dem bundesdeutschen Nachbarland angehängt und dieses zum Alleinerben des Nationalsozialismus erklärt. Die eigenen Unzulänglichkeiten wurden entsprechend beschwiegen. Zwar war der Elitenwechsel sichtbar, wurden Verurteilungen von Nazis rigider durchgezogen als in der Bundesrepublik und wurde der Nationalsozialismus unmissverständlich verurteilt. Ein Hauptschwerpunkt lag dabei darauf, aktive Widerstandskämpfer*innen, allen voran Kommunist*innen, zu würdigen und zu erinnern. Das bedeutete auch, dass die Verfolgung von Juden*Jüdinnen und die Shoah als ein Verbrechen unter vielen eingeordnet wurden. Der Porajmos wurde nahezu gänzlich beschwiegen. Nationalsozialistische Symbole wie das Hakenkreuz oder der Hitlergruß waren verboten.
Doch das antisemitische Symbol der «Judensau» blieb unversehrt an der Wittenberger Stadtkirche hängen. Im Allgemeinen wurde Antisemitismus mit dem Argument verleugnet, dass es diesen als Ausgeburt des Kapitalismus im real existierenden Sozialismus gar nicht geben könne. Umgekehrt wurde allen DDR-Bürger*innen ein diktatorisch besiegelter Freibrief ausgestellt, nicht antisemitisch sein zu können. Dies aber bot der Gesellschaft einen bequemen Rahmen dafür, den Nationalsozialismus als abgeschlossene Geschichte zu behandeln und auch eigene Verantwortlichkeiten für die Shoah systematisch zu beschweigen. In diesem Klima gedieh Rassismus besonders gut.
Dem Wortlaut der Verfassung gemäß hielt die DDR an der Idee der Existenz von «Menschenrassen» fest, und so wurde das etwa auch in der Schule vermittelt. Nicht nur im Biologieunterricht. Schon in der Grundschule lernten wir etwa durch das Lied «Über allen strahlt die Sonne» singend die vermeintlichen «Rassen» aufzuzählen: «Froh und glücklich will doch spielen, auf der Erde jedes Kind, ob nun seine Eltern Schwarze, Gelbe oder Weiße sind.» So wie die Vorstellung, dass es «Rassen» gäbe, schon immer nicht ohne Rassismus zu haben war, blieb die DDR-Gesellschaft durch und durch rassistisch.
Dass Schwarze Menschen oder People of Color systematisch Rassismus ausgesetzt waren, konnte aber in dem staatlich verordneten Schweigen über Rassismus nicht zur Anzeige gebracht werden. Mehr noch, diskriminierende Gesetzgebungen etwa gegen Roma blieben sogar bestehen. Und in der DDR drohte allen außer Müttern eine Haftstrafe dafür, wenn sie nicht arbeiten gingen, wofür das Label «Asoziale» benutzt wurde – als wäre dies nicht das NS-geprägte Label, das dem Porajmos als Legitimation gedient hatte.
Auch Diskriminierung gegenüber Menschen mit Behinderung war omnipräsent. Unverblümte Beleidigungen im Nazi-Sprech gehörten zum Alltagsbild. Wer keine Familie hatte, die sich schützend vor sie stellen konnte oder wollte, wurde in Einrichtungen unmenschlich behandelt, etwa an Betten gefesselt oder mit Medikamenten und Elektroschocks gefoltert. Homosexualität wurde zwar offziell nicht strafrechtlich verfolgt, allerdings rüttelte das nur wenig daran, dass homophobe Hetze und Feindseligkeit nicht strafrechtlich relevant war, sondern zum Alltag gehörte.
Was die «Frauenfrage» angeht, so war die DDR-Verfassung deutlich konsequenter als das Grundgesetz. Die Gleichberechtigungsklausel von Mann und Frau wurde ergänzt um die folgende konsequente Formulierung: «Alle Gesetze und Bestimmungen, die der Gleichberechtigung der Frau entgegenstehen, sind aufgehoben.» Das griff die Verfassung von 1968 in Artikel 20 wie folgt auf: «(2) Mann und Frau sind gleichberechtigt und haben gleiche Rechtsstellung in allen Bereichen des gesellschaftlichen, staatlichen und persönlichen Lebens. Die Förderung der Frau, besonders in der beruflichen Qualifizierung, ist eine gesellschaftliche und staatliche Aufgabe.» Zwar dauerte es auch in der DDR noch etwas, bis alle Paragrafen und Gesetze der Verfassung folgten und alle de-facto- Praktiken den de-jure-Bestimmungen angepasst wurden. Das Letztentscheidungsrecht des Mannes aber, das in der Bundesrepublik weiter bestand, wurde in der DDR ohne Einschränkung abgeschafft. Dieser deutliche Schritt in Richtung Unabhängigkeit von Frauen, die sich eben auch als Möglichkeit zu wirtschaftlicher Autonomie auswirkte, war eine gern gespielte Trumpfkarte der DDR.
Die Emanzipation der DDR-Frau im Vergleich zur Frau in der Bundesrepublik wurde maßgeblich daran festgemacht, dass sie «arbeiten durfte». Zum einen änderte das nichts daran, dass der Gender-Pay-Gap deutlich und Frauen in Leitungs- und Machtfunktionen systematisch unterrepräsentiert waren. Zum anderen durften Frauen nicht nur arbeiten. Es wurde von ihnen erwartet. Es stimmt zwar, dass aus dieser Berufstätigkeit die Möglichkeit erwuchs, ökonomisch unabhängig vom Mann zu leben. Andererseits aber war die Berufstätigkeit der DDR-Frau selbst nicht gleichbedeutend mit Emanzipation oder gar Freiheit bzw. Autonomie. Ob Frauen in der DDR wirklich gleichberechtigter, selbstbewusster und selbstbestimmter waren als in der Bundesrepublik, muss letztlich immer auch in Relation beantwortet werden.
Denn vielleicht hatte sie mehr Autonomie in der Familie oder durch wirtschaftliche Unabhängigkeit, aber wie viel Selbstbestimmtheit kann eine Diktatur insgesamt überhaupt zulassen? Am Ende blieben alle DDR-Frauen in einer Diktatur gefangen und waren in dieser einer Dreifachbelastung unterworfen: Neben Berufstätigkeit gab es das obligatorische gesellschaftliche Engagement (etwa in SED oder FDGB). Selbst wer dem nicht nachkommen wollte, musste für diesen kleinen Widerstandsakt Energie aufwenden. Drittens leisteten Frauen weitgehend allein die gesamte Haus- und Erziehungsarbeit. Unbezahlt. Denn stereotype Familienrollen blieben intakt. Diese wurde nur durch einige wenige Schutzgesetze für Mütter versüßt. Neben einem Haushaltstag pro Monat war das ein Anspruch auf Mutterschutz- oder Erziehungszeit. Zudem gab es sozialpolitische Strategien für junge Ehen und vor allem in Ehen geborene Kinder. Das aber führte zu frühen Heiraten, was umgekehrt neben der Möglichkeit finanzieller Autonomie auch ein Faktor für die hohe Scheidungsrate in der DDR war.
Die Kommodifizierung der Frau fiel in der DDR weniger barbieesk aus, aber patriarchalisch geprägte Schönheitsdogmen prägten auch DDR-Blicke auf Frauen. Obwohl die Stellung der Frau letztlich insgesamt eine Trumpfkarte für die DDR war, hatte Sexismus dort nichts an Präsenz eingebüßt. Das spricht auch aus Heiner Carows DDR-Kultfilm «Die Legende von Paul und Paula» (1973). Er erzählt von der Liebe eines verheirateten SED- Funktionärs auf höherer Ebene und einer alleinstehenden Mutter, die als Kassiererin arbeitet. Paula bezahlt ihre Leidenschaft mit dem Tod eines ihrer Kinder. Diese Szene schmerzte mich so sehr, dass ich mir den Film nie wieder anschauen kann.
Dieser Schmerz nährte aber auch die Empörung darüber, dass Paul sich für seine Karriere entscheiden und in das Wohnzimmer zurückkehren kann, in dem seine Ehefrau als handlungsunwillige Statue festgenagelt scheint. Carows Film erzählt diese Geschichte ohne feministische Ambition wie nebenher mit. Und doch verstand ich, dass die DDR, gerade weil sie in ihren wichtigsten Strukturen vor allem Männer platzierte, weit davon entfernt war, patriarchalische Strukturen abbauen zu wollen. Entsprechend wurde Feminismus entlang der Linie, dass die ‹Frauenfrage› geklärt war, verboten. Jede feministische Gruppe empfand die SED-Diktatur als Angriff auf seine Staatsdoktrin. Und so stand etwa auch im Duden der DDR unter Feminismus, dass dies eine «weibliche Eigenschaft bei Männern» sei.
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Insgesamt hatten die meisten DDR-Bürger*innen Schwierigkeiten damit, im System anzukommen. Das aber bewirkte, dass sie nicht sich, sondern Westdeutschland auf der Gewinnerseite verorteten. Und zwar in jeder Beziehung. Wer etwa die Realpolitik der SED-Diktatur ablehnte, konnte sich an der bundesdeutschen Demokratie als überlegener Alternative orientieren – auch wenn diese ihre Grenzen hatte. Diese Grenzen dann von der SED-Diktatur ideologisch aufbereitet jeden Tag erfahren zu müssen, machte den Diktaturfrust dieser Ostdeutschen nur noch größer.
Fehlende Rede- und Versammlungsfreiheit bei gleichzeitiger Zensur von Büchern, Musik oder Theater ließ den Westen in vielen ostdeutschen Köpfen und Herzen strahlen. Und wer westdeutsches Konsumverhalten nur über die Mattscheibe oder die platt gedrückte Nase im Intershop kannte, den quälten die halbleeren Kaufhallen oder die jahrelangen Wartelisten für Autos umso mehr – selbst dann, wenn im künftigen Handschuhfach ein langgedienter SED-Ausweis lag. Wer feministisch agieren wollte, musste dies in geheimen Treffen tun, wobei die gemeinsame Lektüre an der Zensur vorbei aus dem Westen illegal eingeschleust werden musste.
Die SED-Diktatur war sich bewusst, dass es am Glauben an die eigene Überlegenheit oder, wie sie es nannte, am «richtigen Bewusstsein» fehle. Daraus leitete sie die Notwendigkeit ab, den Weg dahin durch eine ideologische Dauerbeschallung im Sinne eines sozialistischen Brainwashings zu ebnen. Zudem ergab sich daraus die Möglichkeit, die Militarisierung der Gesellschaft als friedlichen Verteidigungswall gegen die kapitalistische Bundesrepublik (und die angeblich von dieser instrumentalisierten inneren Feinde) zu setzen und die Staatssicherheit als deren Schwert zu deuten. Dieses Korsett trieb den Osten nur noch weiter von sich weg. Kaum jemand im Osten konnte sich in den ostdeutschen Überlegenheitserzählungen wiederfinden, während viele in der DDR umgekehrt das Überlegenheitsnarrativ des Westens anerkannten.
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Der Westen wiederum glaubte zwar nicht an die Selbsterzählung der DDR, dafür aber an sich. Während die ostdeutschen Überlegenheitserzählungen kaum mit individuellen und gesellschaftlichen Erfahrungen korrelierten, hatte die Bundesrepublik diesbezüglich größere Schnittmengen zu bieten. Insgesamt konnten sich Bundesbürger* innen tatsächlich leichter auf die Seite der «Sieger der Geschichte» schlagen und sich diesen zugehörig fühlen.
Zwar gab es in der BRD einzelne Kommunist*innen, die die DDR besser und in ihr eine Heimat fanden. Umgekehrt aber war die Bundesrepublik ein weitaus wirksamerer Magnet für ostdeutsche Flucht. Während es den Westen so gut wie nicht gen Osten zog, sehnten sich Millionen aus der DDR nach dem Westen.
Das alles wirkte sich auch auf die wechselseitigen Blicke aus: Während es aus der Bundesrepublik heraus kaum je den Wunsch gab, hinter die 1961 dann auch physisch gebaute Mauer schauen zu wollen, kannten Ostdeutsche, soweit ausstrahlungstechnisch möglich, bundesdeutsche Radio- und Fernsehprogramme und dadurch deren Politiker*innen, Erzählungen oder Waren, wenn auch vor allem durch Werbung und weniger durch den durch Westpakete oder Intershops ermöglichten Konsum.
Noch schwerer aber wog, dass die meisten Bundesbürger*innen diese Asymmetrie ebenso wenig angemessen einordneten wie die Tatsache, dass die SED-Diktatur ebenso wie der durch diese geschaffene Alltag in weiten Teilen des Ostens abgelehnt wurden. Die Unterscheidung zwischen SED-Staat und DDR-Gesellschaft kam zu kurz. Die durch den «Kalten Krieg» und aus einer gelebten Demokratie heraus beförderte Ablehnung des Westens gegenüber dem Ostblock wurde auch weitgehend pauschal auf Menschen im Osten übertragen.
Im Ergebnis reagierte der Westen eher herablassend gegenüber DDR-Bürger*innen als solidarisch mit diesen. Das aber kam bei Ostdeutschen an, etwa durch Funk oder Fernsehen – aber auch durch und in persönlichen Begegnungen. Und es fühlte sich für viele Ostdeutsche falsch an und erzeugte so widerstreitende Gefühle.
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Während sich viele DDR-Bürger*innen wünschten, wie Bundesdeutsche zu leben, triggerte die westdeutsche Arroganz, die Staat und Gesellschaft vermengte, Abwehrreaktionen gegen die westdeutsche DDR-Schelte. So entstand eine Schieflage der Zerrissenheit. Einerseits hasste sich der Osten selbst, hasste er die Diktatur, die ihn festhielt; andererseits aber hasste er es, von Westdeutschen auf die Diktatur reduziert und mit allen Ostdeutschen, ob SED-Funktionär oder Bürgerrechtlerin, in einen Topf geworfen zu werden. Genau das prägte auch die 22 Jahre, die ich in der DDR lebte.
Während ich mich in der DDR nicht finden konnte, wurde mir in Begegnungen mit Bundesdeutschen immer klar, dass in der Bundesrepublik keine Zugehörigkeit für mich wartete. Weil der abschätzige Blick aus Westdeutschland mein Gefühl fehlender Zugehörigkeit noch verstärkte, versuchte ich, ihn zu ignorieren. Das wiederum trieb mich zurück in die einzige Welt, die offen für mich stand, die der DDR. Inmitten dieser Lügen und Paradoxien versuchte ich, meine Identität in der DDR, ja als DDR-Bürgerin zu finden. Ich weigerte mich, in die SED einzutreten. Ansonsten aber lebte ich angepasst. Um sicher durch die Widernisse der SED-Diktatur zu navigieren, arrangierte ich mich mit der fehlenden Freiheit, mit der fehlenden Demokratie, mit der fehlenden Mitbestimmung. Ich setzte auf meinen Opportunismus und einfache Erzählungen, die das Brainwashing uns bot. Das war ein Überlebensmodus, auf den ich heute alles andere als stolz sein kann.
Ich wollte mich als DDR-Bürgerin wohlfühlen. Doch obwohl mir nichts außergewöhnlich Schlimmes widerfuhr und ich vergleichsweise sicher lebte, gelang mir das nicht. Die DDR wurde nie zum Wohlfühlort für mich. Ein Ankommen in der DDR im Sinne einer Identifikation war schwer und mir unmöglich. Bis heute sticht es mir ins Herz, wenn ich die drei Buchstaben sage: DDR. Sie fühlen sich nicht gut an. Taten das nie. Dennoch mag ich die Rede von der «ehemaligen DDR» auch nicht. Darin, dass das Ende der DDR durch «ehemalig» verdoppelt wird, steckt genau die westdeutsche Siegerstimmung, die das ostdeutsche Ankommen in der Bundesrepublik nicht gerade leicht machte.[…]
Der Westen als Gravitationsmagnet und Erfinder des Ostens
Die Transformationsjahre sind bis heute nicht abgeschlossen. Alles, was die 1990 er und frühen 2000 er Jahre erzeugten, hat sich nachhaltig in die gemeinsame Bundesrepublik eingeschrieben. Ostdeutsche Bundesländer sind, insbesondere außerhalb der Großstädte, wirtschaftlich-industriell und demographisch gebeutelt worden, wobei sich alles wechselseitig bedingt. Wer konnte, ging in strukturstärkere Gegenden. Und das konnten vor allem junge Menschen mit hochwertigen Bildungsabschlüssen. Und wo es keine demographische Verjüngung oder stabile Wirtschaftskraft gibt, fließen keine Investitionsmittel. Relational gesehen sind Ostdeutsche noch immer stärker als Westdeutsche unter Arbeitslosen vertreten, im Niedrig- und Mindestlohnsektor tätig und verfügen über weniger Rücklagen und Immobilien.
Noch immer wird mehr als 90 Prozent dessen, was in Deutschland vererbt wird, in Westdeutschland vererbt. In Spitzenpositionen in Wirtschaft, aber auch Verwaltung, Bildung, Medien oder Kultur sind bis heute Ostdeutsche wenig vertreten.
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Westdeutsche Hyperpräsenz in Strukturen, Institutionen oder Medien trifft auf eine systemische Absenz von Ostdeutschen in systemrelevanten Strukturen und Positionen. Das aber relativiert die legislative oder judikative Gleichberechtigung Ostdeutscher und prägt Weltsichten und Wahrnehmungen. Die ostdeutsche Sehnsucht danach, dem Westen anzugehören, existiert inmitten der Gewissheit, vom Westen nicht als gleichwertig akzeptiert oder als jenseits von Norm und Zugehörigkeit erzählt zu werden.
«Der Osten ist eine westdeutsche Erfindung.» Mit dieser Aussage trat Interner Link: Dirk Oschmann 2023 eine neue Diskussionswelle zum deutsch-deutschen Verhältnis los. Für mich fehlte in dieser Debatte, dass der Osten als westdeutsche Erfindung sich aus der westdeutschen Erfindung seiner selbst als normgebendes Vorbild ergibt, das es gewohnt ist, kritikresistent alles nach seinem Ebenbilde zu formen. Der Westen dreht sich um sich selbst. Und als Gravitationsmagnet muss sich dann alles um ihn drehen. Wer Macht hat, bestimmt den Diskurs und die Parameter, die diesen ausmachen. Für alle Anderen begrenzt das den Handlungsspielraum, weil mehr reagiert werden muss als mitgestaltet werden kann. Entsprechend spielen die wechselseitigen Erzählungen in Ost und West nicht in derselben Liga.
Die DDR-Gesellschaft hatte eine Revolution begonnen und gewonnen. Doch diese Revolutionsarbeit wurde hinter der Politik der Großen Männer viel zu schnell viel zu unsichtbar. Die Transformationsjahre taten ihr Übriges, um die Annahme zu bestätigen, dass der Westen auf der Siegerseite der Geschichte stehe. Für Bundesdeutsche war es vor und nach 1989 gängig, Ostdeutsche mit dem Staat DDR gleichzusetzen – egal wie angepasst oder vielleicht auch kritisch DDR-Bürger*innen dem eigenen Land gegenübergestanden waren. Mit Ausnahme der wenigen Leuchttürme der ostdeutschen Bürger*innenrechtsbewegung wurden DDR-Bürger*innen pauschal für die SED-Diktatur in Haftung genommen. So tradierte sich das überkommene Bild von Westdeutschen als «über alle Zweifel erhabenen» Demokat*innen gegenüber den mit der Diktatur belasteten DDR-Bürger*innen.
Das Monopol demokratischer Überlegenheit für sich in Anspruch nehmend, ohne die ostdeutsche Revolutionsarbeit angemessen zu würdigen, wurden Ostdeutsche verallgemeinernd und verabsolutierend als per se «unmündig» oder «verzwergt», «demokratieunfähig» oder «weltfremd» betrachtet. Natürlich gab und gibt es Ostdeutsche, die sagen, dass einem die Meinungsfreiheit nichts nutze, weil man im Westen zwar alles sagen könne, das aber nichts bewirke. Aber die Kanzlerin aus Ostdeutschland ist wohl kaum als verzwergt in Erinnerung geblieben.
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Offensichtlich haben nicht alle Ostdeutschen einen Crashkurs benötigt, um zu verstehen, dass Demokratie auch in der Opposition gelebt wird und dass sich Mehrheitsentscheidungen auch gegen eigene Interessen richten können. Aber fast alle, auch im Westen, hätten davon profitiert, wäre etwa das Einmaleins von Grundgesetz und repräsentativer Demokratie öffentlich besprochen worden. Dies hätte auch Raum dafür geboten, das deutsch-deutsche Machtgefälle zu debattieren, das Ostdeutsche über klassistische Abwertungsparadigmen, angebunden an Aussehen, Habitus oder Dialekt, als Andersdeutsche setzt und dabei das tradierte Mantra murmelt: «Wessi, der alles hat und alles richtig macht, versus Ossi, die nichts richtig gemacht hat, nichts besitzt, folglich nichts zu sagen hat und andersdeutsch bleibt.»
Dieses Narrativ prägte den ostdeutschen Weg ins neue Deutschland und ließ dabei wenig Raum für Ostdeutsche, das ihnen zugewiesene Unterlegenheitsgefühl abzustreifen. Das ohnehin marode ostdeutsche Selbstbewusstsein, das sich in den 40 Jahren der Teilung am Westen die Nase platt gerieben hatte, ohne umgekehrt wertgeschätzt zu werden, bröckelte weiter. Das aber hatte enormes Frustrationspotenzial für Ostdeutsche. Auch dass diese Empfindungen im Westen nicht gesehen, sondern weggelächelt wurden, erzeugte Empörung.
Nun könnte man sagen, was kümmert’s euch? Macht, was ihr wollt. Seid, wer ihr seid. Aber so einfach ist das nicht. Denn so eine «Na und, das perlt an mir ab»-Haltung ist leichter mit gesellschaftlicher Bestätigung als Rückenwind als mit Ausgrenzungserfahrungen im Rucksack.
Um sich bestmöglich zu schützen, ist es für Diskriminierte wichtig, die Blicke auf sich zu kennen. Sie können sie nicht ignorieren. Sie müssen sie sich anschauen, um daraus Strategien zu entwickeln, damit umzugehen. Das ist überlebenswichtig. Denn in jeder Alltagssituation kann ein Stereotyp zum Brandsatz werden, der die eigene Seele oder den eigenen Körper angreift. Entsprechend mussten auch Ostdeutsche schnell lernen, den westlichen Blick auf sich zu lesen und wie darauf zu reagieren ist. So war für viele Ostdeutsche schnell klar: eine deutliche Abgrenzung zu ihrer DDR-Biografie, die auch eine Distanzierung zur SED-Diktatur beinhaltete, schien gewünscht – was aber in weiten Teilen tatsächlich alles andere als selbstverständlich war. Das erforderte innerostdeutsche Debatten über Verantwortlichkeiten und Säumnisse und führte zu Dialogen darüber, wie man zur DDR als Unrechtsstaat stehe. Das prägte kollektive ebenso wie persönliche Erzählungen. Bei diesen ging es immer wieder um eines: Warst du bei der Stasi? Warst du Feind*in der SED-Diktatur?
Ob im öffentlichen Raum oder am Küchentisch, Ostdeutsche mussten sich mit den eigenen Kompromissen gegenüber der DDR-Diktatur oder gar einem diktaturaffnen Ich auseinandersetzen. Manche verteidigten die Strukturen und ihre Rolle darin. Viele aber fühlten sich unwohl damit, die Strukturen der SED-Diktatur mit Leben gefüllt zu haben. Die Mehrheit der DDR-Bürger*innen hatte die Revolution von einer Minderheit aus ihren eigenen Reihen geschenkt bekommen. Doch auch viele der Opportunist*innen oder Mitläufer*innen hatten sich nicht mit den Inhalten der SED-Diktatur identifiziert.
Um das differenziert darzulegen, fehlte im von verallgemeinernden Fremdzuschreibungen angeheizten Schulddebattenraum die Voraussetzung. Denn ganz konkret bedeutet Aufarbeitung immer auch, sich zu eigenen persönlichen Schwächen oder Fehlern zu bekennen. So mit gelebtem Leben umzugehen, ist bekanntlich weder eine menschliche Stärke noch einfach umzusetzen. Dabei kommt erschwerend hinzu, dass diese notwendigen innerostdeutschen Debatten noch mal aufwühlender waren, weil die ostdeutschen Selbsterzählungen aus dem Westen nicht nur beobachtet, sondern auch bewertet wurden – bis hin dazu, dass sie zugleich auch über den künftigen Platz in der Bundesrepublik entschieden.
Mit einem IM-Hintergrund etwa waren die meisten Türen gründlich verschlossen, aber andere Mitgliedschaften in Massenorganisationen der SED-Diktatur konnten das auch verkomplizieren.
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Das alles verstärkte das Gefühl, in eine Schuldkultur voller Scham und Unbehagen gezwungen zu werden. Vor dem Hintergrund, dass Ostdeutsche größtenteils keineswegs freiwillig in der DDR lebten und es schwer war, ohne Kompromisse mit der Diktatur durchzukommen, fühlte es sich für viele zudem auch falsch an. Und es erzeugte eine Atmosphäre der Halbwahrheiten.
Wer Widerstand nicht für sich in Anspruch nehmen konnte, erfand sich dennoch so; oder versteckte zumindest unpassende Bausteine der eigenen Biografie.
Als ich 2010 in Bayreuth als Professorin berufen wurde, musste ich eine umfängliche Erklärung zur Verfassungstreue ausfüllen. Dort wurde unter anderem gefragt, ob ich Mitglied der Freien Deutschen Jugend (FDJ) war. In dieser waren über 90 Prozent aller DDR-Jugendlichen ab der 8. Klasse. Ein Studium war ohne FDJ-Mitgliedschaft im Prinzip unmöglich. Wahrheitsgemäß setzte ich ein Kreuz bei der FDJ. Das hatte nach Auskunft des Kanzlers vor mir aber noch keine ostdeutsche Person, von denen es zahlreiche gab, gemacht.
Deswegen musste sich der Kanzler der Uni Bayreuth erst beim Bayerischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst informieren, wie damit umzugehen sei. Ihm wurde mitgeteilt, dass er mich leider nur berufen könne, wenn ich der FDJ «abschwören» würde. Das war schon paradox. Indem ich jetzt der FDJ abschwor, behauptete ich ja indirekt auch, dass ich früher und bis jetzt an die FDJ glaubte. Und das war mitnichten der Fall. Ich war einfach wie fast alle Jugendlichen in der FDJ. Aber es war am Tag meiner Ernennung zur bayerischen Beamtin, dass ich mich zur FDJ bekannte, indem ich ihr entsagte. Das war mir sehr unangenehm, weil ich unfreiwillig ein Stereotyp bestätigt hatte. Deshalb begann ich, dem Kanzler mein halbes Leben zu erzählen, indem ich mich vor allem auf meinen winzig kleinen Widerstandsmoment konzentrierte. Ich wollte gefallen. So wie mir ging es vielen Ostdeutschen. Vielen fehlte wie mir der notwendige Mut zu einer ambivalenten biografischen Erzählung, die auch von Opportunismus und Mittäter* innenschaft erzählte.
Umgekehrt war es für Westdeutsche weder zwingend, sich differenziertes Wissen über den Osten anzueignen und entsprechend zuzuhören – noch sich dem Osten zu erklären oder sich zu ostdeutschen Blicken verhalten zu müssen.
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1989 war für den Westen keine Zäsur, weder in der Selbstverortung noch hinsichtlich tradierter Erzählungen. Dabei hätte die deutsch-deutsche Einigung samt ihrer Debattenkultur enorm davon profitiert, wenn auch Westdeutsche Reflexionsprozesse zugelassen hätten. Weil es leicht ist, in der Freiheit frei zu leben, wäre es für die Debattenkultur wichtig gewesen, wenn sich Westdeutsche ehrlich der Frage gestellt hätten, wer sie geworden wären, wenn sie in die Diktatur hineingeboren worden wären.
Bist du dir sicher, dass du nicht mitgemacht hättest, um etwa deinen Traumberuf zu bekommen (denn auch Berufsvergabe wurde antifreiheitlich-planwirtschaftlich und gegen die Interessen Einzelner gesteuert). Die Debattenkultur hätte auch durch westdeutsche Überlegungen dazugewonnen, was Westdeutsche über die DDR und ihre Menschen dachten (und warum) – und wie sich Westdeutsche zu DDR-Bürger*innen verhalten haben.
Bei aller Diversität der Biografien gibt es Erfahrungen, die Ostdeutschen mehrheitlich vertraut sind und jenen, die in der alten Bundesrepublik geboren und sozialisiert wurden, nicht. Ein entsprechender Test würde Wissen über Pittiplatsch, Alfons Zitterbacke oder Paul und Paula ebenso einschließen wie die Erinnerung daran, dass es nicht unerwartet war, dass ein Freund in dem Land ohne Telefone einfach so zu Besuch kam oder dass es in der Ostberliner Markthalle Kakao-H-Milch gab.
Ostdeutsch ist aber nicht allein an Erfahrungen gebunden, welche die DDR zu verantworten hat, sondern auch dadurch geprägt, wie die Revolution gestaltet, die deutsche Einigung vollzogen wurde und sich die Transformation gesellschaftlich und individuell auswirkte. Ein entsprechender Test würde Wissen darüber bestätigen, was eine Person oder zumindest ein Elternteil am 9. November 1989 oder 3. Oktober 1990 gemacht hat, was die Treuhand ist und wer danach seinen Job verlor oder sich beruflich radikal neu aufstellte.
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Im Ostdeutsch-Sein steckt Migration einer eher selteneren Art: Menschen verlassen nicht den Ort, aber der Ort verlässt sie, wird ein anderer. Und obwohl das gleiche Haus an der gleichen Ecke steht, ist alles in einer neuen Zeit angekommen. Voller Möglichkeiten, die vorher verbaut waren. Aber verbaut ist auch das Herkunftsland. Irreversibel unbetretbar.
Mehr noch. Das Land der Kindheit, der ersten Liebe, der ersten Wunden: Es ist weg, mitsamt seiner Gerüche, Geschmäcker und Momente, in denen Ostdeutsche trotz der Diktatur auch heil waren. Und obwohl die Diktatur überwunden ist, ist nicht alles in Ordnung. Das wird durch eine zweite, Migration oft anhaftende Erfahrung bedingt: Das neue Land hatte Ostdeutsche vor 1989 nicht geschätzt und nach 1989 trotz des deutschen Passes nicht als vollwertiges Mitglied empfangen, sondern in ein Diskriminierungskorsett gepresst.
Kaum ein Mensch schafft es, durchs Leben zu gehen, ohne (auch mal) beleidigt, beschimpft, gedemütigt oder einfach nur pauschalisierend bewertet zu werden. Dies ist in jedem einzelnen Fall schmerzlich und ungerecht. Doch nicht alles davon ist Diskriminierung. Denn diese ist immer an Macht- und Herrschaftsstrukturen gebunden. Solange wir in die Menschheitsgeschichte zurückschauen, baut diese auf gesellschaftlichen Ordnungen auf, die einigen mehr Rechte oder Ressourcen gewähren als Anderen. Das erleben diese als Privilegien. Wer aber davon ausgeschlossen wird, erfährt dies als Ausbeutung und Diskriminierung.
Diese Dynamik beschreibt, wie Macht aus geografischen Räumen und kulturellen Prägungen politische Räume macht, welche Sozialisationsmuster prägen. Das ist es, was mit sozialen Positionen gemeint ist. Diese sind immer da, unabhängig davon, ob sie wahrgenommen und benannt werden. Wer auf dem Olymp der Macht sitzt, wird als Norm privilegiert und mit dem Instrumentarium ausgestattet, andere als «Andere» davon auszugrenzen.
Zur Komfortausstattung der Privilegierten gehört es, Diskriminierung und die eigene Beteiligung daran nicht bemerken zu müssen. Doch während jene, die auf dem Olymp sitzen und Macht innehaben, ihre Privilegien oft nicht reflektieren, ist es für Diskriminierte weitgehend unumgänglich, die erfahrene Ausgrenzung wahrzunehmen. Und genau das schreibt sich in ihre Selbstverortungen ein.
Im Fall des deutsch-deutschen Verhältnisses sind West- und Ostdeutschland keine Orte im regionalen Sinne, sondern vielmehr machtkodierte Räume, in denen sich eine westdeutsche Position der Privilegierung und eine ostdeutsche Position der Diskriminierung gegenüberstehen. Das drückt sich etwa in der Gegenüberstellung «Alt» versus «Neu» (in alte und neue Bundesländer) aus. Alt meint jene, die schon immer da waren, und setzt sie auch als rechtmäßig Zugehörige. Die Anderen kamen später. Das ist aber letztlich ebenso wenig zeitlich wie räumlich gemeint. Es geht um Normsetzungen und die entsprechenden Machtkontexte, welche Privilegien, Ressourcen und Zugehörigkeiten, auch im Sinne von «Norm/alität» zu sein, ungleich verteilen.
Ein Beispiel, das Ostdeutsche dafür gern anführen, ist die Frankfurt- Frage. 1989 sprachen Ostdeutsche wie Westdeutsche nur von Frankfurt und meinten jeweils «das ihrige». Mit dem Rückenwind der Geschichte empörte das Westdeutsche mehr als Ostdeutsche, was schließlich darin resultierte, dass es sich durchsetzte, gleichsam asymmetrisch von Frankfurt (am Main) und Frankfurt/Oder zu sprechen. Frankfurt/Main ist Frankfurt, das andere Frankfurt ist das, das dazu sagen muss, dass es an der Oder liegt. Würden Ostdeutsche Frankfurt sagen und Frankfurt/Oder meinen und das Weglassen von «an der Oder» mit einem «Na und?» begründen können? Nein. Das ist eben der Unterschied zwischen Ost und West.
Zitat
Die Macht, sich als deutsche Norm zu sehen, ist, strukturell gesehen, Westdeutschen zugänglich, Ostdeutschen aber nicht. Am Ende ist also «ostdeutsch» nicht einfach ein geografisch und kulturell geprägter Erfahrungsraum, sondern eine machtkodierte Position und Identität. Im «Ostdeutsch» steckt die Erfahrung, dass Ostdeutsche im innerdeutschen Machtgefälle diskriminiert werden, wobei sie nicht umhin können, das auch so zu erfahren und wahrzunehmen.
Laut einer repräsentativen Umfrage von Infratest dimap fühlen sich nur 18 Prozent der Westdeutschen als «Westdeutsche», dagegen 76 Prozent einfach nur als «Deutsche». Umgekehrt fühlen sich nur 50 Prozent der Ostdeutschen als «Deutsche» und 40 Prozent explizit als «Ostdeutsche». Das korreliert damit, dass sich 43 Prozent der Ostdeutschen als «Bürger zweiter Klasse» fühlen. Das bindet Jahrgänge mit ein, die die DDR nur als Kinder erlebten oder nach der «Wende» in ostdeutsch sozialisierten Familien aufwuchsen und dort etwa am Küchentisch oder bei Geburtstagen mit Pittiplatsch oder dem «Wo warst du am 9.11. 89»-Story-Wettbewerb gefüttert und mit dem Schmerz konfrontiert wurden, ausgegrenzt und abgehängt zu werden.
Umgekehrt aber gilt das nicht für rein westdeutsch sozialisierte Familien, die etwa in Erfurt arbeiten und leben. Immer wieder habe ich Menschen getroffen, die seit einigen Jahren in Erfurt oder Magdeburg leben und sich gern mit dem Scherz vorstellen, dass sie jetzt Ostdeutsche seien. Doch das sind sie eben nicht, denn ihnen fehlt die entsprechende Sozialisation, das dazugehörige kollektive Familienwissen, und vor allem werden sie nicht als Ostdeutsche diskriminiert. Sie sind Teil der Diskriminierungsstruktur. Und sich als Ossis zu positionieren, ist eine machtverleugnende Aneignung.
Anders als bei vielen anderen Diskriminierungsformen haben Ostdeutsche unter bestimmten Umständen die Möglichkeit, ihre ostdeutsche Herkunft zu vernebeln – etwa wenn sie Arbeit im Westen finden und dorthin umziehen können. Während meines Studiums in London wurde ich verwundert gefragt, warum ich ohne Kopftuch zur Uni komme. Für meine Kommilitonen waren DDR und die Sowjetunion eins. Auch ohne Kopftuch konnte ich als Ossi gelesen werden. Mein Geburtsort verriet mich, mein Habitus oder auch mein zuweilen durchschimmernder sachsen-anhaltinischer Dialekt.
Aber es passierte auch sehr schnell, dass ich mein eigenes Ostdeutschsein verleugnen wollte und mich so zu assimilieren wusste, dass ich vielerorten als «Wessi» durchgehen konnte. Ich lebe seit 33 Jahren mit dem Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk zusammen, der es sich zu seinem Lebensziel gemacht hat, den Kommunismus und die SED-Diktatur wissenschaftlich und publizistisch kritisch aufzuarbeiten.
Jahrzehntelang war ich der Meinung, dass ich längst nicht mehr über die DDR und meine Zugehörigkeit zu ihr nachdenken würde, wenn er nicht häufig von dieser erzählte. Doch das stimmt nicht. Ich habe einfach nur versucht, sie hinter mir zu lassen. Ich habe die DDR nicht geliebt, sondern gefürchtet. Sie hatte mich erdrückt. Und auch nach 1989 war es mir peinlich, Ostdeutsche zu sein. Ich wollte einfach nichts mit den Bananen- und Nazi-Ossis zu tun haben, und deswegen tat ich so, als gehörte ich nicht dazu. Das aber nützte mir gar nichts. Am Ende war das nur eine Hilfskonstruktion, die nicht funktionierte.
Jeder Versuch einer Verleugnung ist immer auch ein Stück Selbstaufgabe, die letztlich nach hinten losgeht. Das Verleugnen der ostdeutschen Identität schützt beispielsweise keineswegs davor, mit Ossis angedichteten Stereotypen, Sprüchen oder Erzählungen diskriminiert zu werden. Je mehr ich als Wessi durchging, umso mehr passierte mir dies. Denn ich hörte mehr davon. Und wenn ich versuchte, mich nicht angesprochen zu fühlen, fühlte ich mich nur umso schutzloser mitgemeint bei dem, was über Ostdeutsche behauptet wurde und wird. Manchmal reagiere ich mit Fremdschämen, manchmal spüre ich den Druck, dass, wenn ich als Ostdeutsche gelesen werde, ich automatisch Ostdeutschland repräsentiere. Eine für alle. Und wollte es entsprechend beschützen, verteidigen, ehrenretten.
1990 fuhr ich etwa im ICE, und vor mir kaufte ein Mann mit sächsischem Dialekt eine Sprite. Er bestellte sie ausgesprochen als SPRIETE. Der Speisewagenmitarbeiter machte sich darüber lustig, indem er auch SPRIETE sagte. Ich wollte gar keine kaufen, bestellte sie dann aber, um den Namen des Getränks Englisch auszusprechen. Dann gab ich mich als Ossi zu erkennen. Solche Situationen wiederholten sich immer wieder. Beim Anglistentag im Jahr 2002 wurden beim Abschiedsdinner ununterbrochen Ossi-Witze und -Anekdoten erzählt. Als ich mich dann irgendwann als Ossi zu erkennen gab, folgte ein kurzes betretenes Schweigen und dann der vergiftete Spruch: «Sieht man dir nicht an.»
Angesprochen fühlte ich mich dennoch. Unabhängig davon, ob das betreffende Stereotyp in das eigene Selbstbild passt. Ich war längst zur Ostdeutschen gemacht worden, ohne jede Macht, mich dem zu entziehen. Am Ende bin ich weniger wegen meines Geburtsortes zur Ossi geworden als vielmehr, weil Diskriminierungsmuster Ostdeutsche kollektiv positionieren. Westdeutsche Diskriminierung gegenüber Ostdeutschen ist DER Brennstoff der ostdeutschen Identität.
Trotz alledem. Und deswegen: Das Erfahren von Diskriminierung ist nur die eine Seite der ostdeutschen Identität. Sich zu dieser zu verhalten, die andere. Im Angesicht der westdeutschen Diskriminierung gegenüber Ostdeutschen kann ich mich hilflos fühlen oder ängstlich, ich kann mich empören oder ärgern. Manchmal fühle ich alles auf einmal. Dennoch kann ich mit Ostalgie – also nostalgischen Erinnerungen, die positive Erfahrungen in der DDR überproportional verstärken – ganz und gar nichts anfangen. Denn es verharmlost die Diktatur.
Scham aber empfinde ich als Ostdeutsche vor allem, weil ein Drittel der Ostdeutschen hinter der AfD steht. Doch ist das nicht absurd?
Denn zwei Drittel der Ostdeutschen stehen nicht hinter der AfD. Und fast alle Ostdeutschen, die ich kenne, sind offen gegen die AfD. Wie gerne würde ich sagen, ich bin stolz, ostdeutsch zu sein. Doch ich kann es nicht. Denn in diesen Tagen klänge es nach AfD-Zuspruch. Deswegen will ich mir mein Ostdeutschsein zurückholen. Ich will nicht länger wegschauen und es hinnehmen.
Hinnehmen will ich weder die AfD-Ostdeutschen noch die Westdeutschen, die mich mit diesen in einen Topf werfen. Ich will als Ostdeutsche in meiner Individualität gesehen werden; ich will, dass Machtgefälle und Diskriminierungsmuster endlich gesehen und ernst genommen werden; ich will, dass Westdeutsche ihre Rolle bei der Erfindung Ostdeutschlands anerkennen. Und ich will, dass die AfD als gesamtdeutsches Problem ernst genommen wird. Und dann, ja dann, dann kann und will ich sagen: Ich bin Ostdeutsche, und das ist auch gut so. Und wenn das viele Ostdeutsche sagen können, dann kann sich Ostdeutschland noch mal neu aufstellen; dann kann Ostdeutschland sich noch mal neu erfinden.
Zitierweise: Susan Arndt, „Überlegenheitsnarrative in West und Ost", in: Deutschland Archiv, 28.08.2024, Link: www.bpb.de/551664. Der Beitrag ist mit freundlicher Genehmigung des Beck-Verlags dem Buch entnommen: Susan Arndt, "Ich bin ostdeutsch und gegen die AfD. Eine Intervention", Müchen 2024. Alle Beiträge im Deutschland Archiv sind Recherchen und Sichtweisen der jeweiligen Autoren und Autorinnen, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar. (hk)
Prof. Dr. Susan Arndt stammt aus Magdeburg und ist Anglistin, Afrikanistin und Literaturwissenschaftlerin, sie studierte in London und Berlin und arbeitet seit 2010 als Professorin für englische Literaturwissenschaft und anglophone Literaturen an der Universität Bayreuth. 2021 erschien von ihr in München das Buch "Rassismus begreifen - Vom Trümmerhaufen der Geschichte zu neuen Wegen". Ihr nachfolgender Text ist ihrem neuen Buch entnommen "Ich bin ostdeutsch und gegen die AfD. Eine Intervention", erschienen in München bei Beck 2024.
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