Familie. Remigration. Jüdisches in der DDR.
Sharon Adler: Deine Großmutter ist die in den USA geborene Publizistin und Verlegerin Gertrude Gelbin
Cathy Gelbin: Sie verließen die USA, weil sie befürchteten, in die antikommunistischen Verfolgungen unter McCarthy mit hineingezogen zu werden. Seinen Status als eingebürgerter Amerikaner empfand Stefan in dem Kontext als zu unsicher. Gertrude und David – mein Vater – waren in der Kommunistischen Partei der USA aktiv. Gertrude und Stefan lernten sich im Umfeld der Partei kennen. Mein Vater hatte sich zuvor bereits in der Jugendorganisation engagiert.
Sharon Adler: Welche Hoffnungen und Erwartungen hatten sie als jüdisch-amerikanische Kommunist:innen an das Leben im sozialistischen Deutschland? Wären sie auch nach Westdeutschland gegangen?
Cathy Gelbin: Sie sind nicht direkt in die DDR gegangen – sie wollten eigentlich in die ČSSR oder nach Ungarn. Seit Stefan in der ČSSR, in Prag, im Exil gewesen war, hatte er eine starke emotionale Bindung an diese Stadt. Insofern wäre das ihre erste Wahl gewesen. Sie waren dann zwei Jahre lang in verschiedenen europäischen Ländern unterwegs, im Versuch, sich irgendwo niederzulassen, haben aber nirgendwo eine ständige Aufenthaltserlaubnis bekommen.
Die Stationen, von denen ich weiß, war die Schweiz, kurz in Polen und etwas länger in der ČSSR. Da wären sie auch gerne geblieben, sind aber 1952 abgeschoben worden. Stefan sinniert in seiner Autobiografie
Letzten Endes hat ihnen die DDR die Aufenthaltsgenehmigung gewährt. Deshalb sind sie da gelandet. Aber das war für sie das Land, wo sie am allerwenigsten hinwollten, weil es eben auch ein Deutschland war. Er kam aus Chemnitz und musste als Neunzehnjähriger aus Deutschland flüchten, um sein nacktes Leben zu retten. Das saß ihm tief in den Knochen, aber es war zumindest eine Kultur und Sprache, in der er zu Hause war. Und er kannte aus der Emigrationszeit verschiedene Leute, die sich in der DDR niedergelassen hatten.
Meine Großmutter hatte sehr große Angst, nach Deutschland zu gehen – ihre Familie kam aus Polen, es waren polnische Juden. Sie war damals Anfang Fünfzig, und ein neues Land, Sprache und Kultur ist dann nicht so einfach. Und dazu ein Land, das das jüdische Leben und die Juden in den Orten, aus denen ihre Eltern kamen, fast völlig ausgelöscht hatte. Das haben Gertrude und Stefan, als sie die Zwischenstation in Polen machten, vom Direktor des Jüdischen Museums in Warschau erfahren.
Mit diesem Wissen nach Deutschland zu gehen, ist sehr schwierig. Gertrude hat auch nie richtig Deutsch gelernt. Sie hat etwas verstanden aber nur sehr gebrochen gesprochen. Gertrude hat viele Dokumente aufbewahrt. Ihr ist es zu verdanken, dass die Kriegsbriefe Stefans erhalten sind. Sie hat auch alle Briefe meines Vaters aufgehoben, die er seit dem sechsten Lebensjahr geschrieben hat. Später schrieb er auch über antisemitische Erfahrungen während seiner Zeit in der US-amerikanischen Armee.
Sharon Adler: Während man über Stefan Heym viel Sekundärliteratur finden kann, ist über Gertrude Gelbin nicht viel überliefert. Wie ordnest du sie und ihre Arbeit heute ein? Wie hast du sie als Kind erlebt?
Cathy Gelbin: Ich war fünfeinhalb Jahre alt, als sie starb. Sie war in meinem Leben immer eine wichtige Person und ein Vorbild und hat mich sehr geprägt, obwohl oder vielleicht weil sie nur so kurz da war. Sie war unglaublich herzlich und liebevoll und eine starke, eigenständige Persönlichkeit. Und sie hatte starke politische Meinungen. Sie war Frauenrechtlerin und wurde am 8. März, am Internationalen Frauentag, geboren. Für sie war immer wichtig, dass das auch in der Familie tradiert wurde.
Sie war bei uns nicht einfach „die Frau von“ oder „die Mutter von“. Natürlich wusste ich, dass sie einen Verlag gegründet und geleitet hat, aber vieles war nonverbal. Was mit ihr und mit ihrem Andenken passiert ist, habe ich erst im Laufe der Jahre und Jahrzehnte verstanden. Ihre Eltern wanderten in den 1880er-Jahren aus Polen in die USA ein. Ihr Vater schaffte es eine Zeit lang, sich als Geschäftsmann zu etablieren, und dadurch ging es der Familie materiell ganz gut.
Gertrude heiratete das erste Mal 1924, mein Vater ist 1925 geboren. Als ihr Mann 1928 bei einem Unfall starb, war sie plötzlich Witwe und hatte keine materielle Grundlage mehr, weil mein Großvater der Verdiener in der Familie war. 1929 kam die Weltwirtschaftskrise, und die Existenz meiner Großmutter brach doppelt zusammen. Das war wohl der Punkt, wo sie begann, sich mit sozialer Ungerechtigkeit zu befassen und sich der kommunistischen Idee zuwandte.
Sharon Adler: Wie haben Gertrude und Stefan sich kennengelernt?
Cathy Gelbin: Ihre Beziehung begann damit, dass Stefan jemanden suchte, der sein Manuskript muttersprachlich liest. Er schrieb damals seine Bücher auf Englisch, und sie hat sie redigiert. Aber sie hat nicht nur gegengelesen, sondern sie hat auch redaktionell und konzeptionell mit ihm gearbeitet. Ich habe später im Archiv das Manuskript seines Welterfolgs „The Crusaders“,
Sharon Adler: Welchen Status hatte deine Großmutter in den USA?
Gertrude Gelbin, um 1940. Cathy Gelbin: „Sie war Publizistin in der Hollywood-Filmindustrie und hat unter verschiedenen Pseudonymen Beiträge geschrieben. In den 1940er-Jahren hat sie Hollywood-Größen wie Clark Gable interviewt. Wir hatten Schallplatten mit ihren Radio-Interviews bei uns zuhause.“ (© Privatarchiv Cathy Gelbin)
Gertrude Gelbin, um 1940. Cathy Gelbin: „Sie war Publizistin in der Hollywood-Filmindustrie und hat unter verschiedenen Pseudonymen Beiträge geschrieben. In den 1940er-Jahren hat sie Hollywood-Größen wie Clark Gable interviewt. Wir hatten Schallplatten mit ihren Radio-Interviews bei uns zuhause.“ (© Privatarchiv Cathy Gelbin)
Cathy Gelbin: In den 1940er-Jahren war sie Publizistin in der amerikanischen Filmindustrie und hat unter verschiedenen Pseudonymen Beiträge geschrieben. Daneben hat sie auch fürs Radio gearbeitet und Hollywood-Größen wie Clark Gable interviewt. Wir hatten Schallplatten mit ihren Radio-Interviews bei uns zuhause. Sie war – anders als Stefan, der als mittelloser, relativ unbekannter Emigrant in die USA kam im Kulturbereich gut vernetzt und konnte ihm bestimmte cultural skills vermitteln, die er so nicht hatte. In den USA ist Networking wichtig. Das hatte sie total drauf. Sie war sehr selbstbewusst, und sie wusste auch, wie man sich in einem so öffentlichen Medium präsentiert.
Sharon Adler: Was hat sie beruflich in der DDR gemacht, wie kam sie zurecht?
Gertrude Gelbin in den 1950er-Jahren in ihrem Garten in Grünau auf ihrer Hollywoodschaukel mit der französischen Shoah-Überlebenden und Sängerin des Frauenorchesters in Auschwitz, Fania Fénelon, und dem US-amerikanischen Opernsänger Aubrey Pankey. Mit beiden, sie lebten ebenfalls in der DDR, war sie eng befreundet. (© Privatarchiv Cathy Gelbin)
Gertrude Gelbin in den 1950er-Jahren in ihrem Garten in Grünau auf ihrer Hollywoodschaukel mit der französischen Shoah-Überlebenden und Sängerin des Frauenorchesters in Auschwitz, Fania Fénelon, und dem US-amerikanischen Opernsänger Aubrey Pankey. Mit beiden, sie lebten ebenfalls in der DDR, war sie eng befreundet. (© Privatarchiv Cathy Gelbin)
Cathy Gelbin: Es wird ihr sicherlich nicht leichtgefallen sein, aus den USA wegzugehen. So sehr sie mit dem McCarthyismus Probleme hatte, der gerade in Hollywood ganz schlimm wütete. Ich glaube, dass sie ihre Arbeit wahnsinnig geliebt hat. Meine Großmutter galt in Ostberlin als die „Hollywood-Lady“. Es war sicher kein Zufall, dass sie sich eine Hollywood-Schaukel in ihren Garten gestellt hat. Das war vermutlich eine Reminiszenz an diese Zeit. Gertrude war Verlegerin. 1953 gründete sie den Verlag Panther Books beim Paul List Verlag Leipzig, der 1958 in Seven Seas Publishers umbenannt wurde und zu einem Imprint bei Volk & Welt wurde. Die Idee war, Werke linksgerichteter Schriftsteller:innen aus dem anglo-amerikanischen Sprachraum, auch aus Australien und Südafrika, zu veröffentlichen. Darunter war Alvah Bessie, ein US-amerikanischer, kommunistisch-jüdischer Autor. Er war ein enger Freund von ihr. Und Langston Hughes, ein schwarzer US-amerikanischer Autor mit pro-kommunistischer Haltung. Verlegt wurden auch Autor:innen aus der DDR, deren Werke ins Englische übersetzt wurden. Auch Stefan Heyms Welterfolg „The Crusaders“.
Gertrude war eine berufstätige Frau, und sie hat in ihrem Berufsleben etwas erreicht. Das wurde von meinen Eltern immer mit Stolz erzählt. Doch sie war in der DDR zunehmend unglücklich. Auch mit ihrem Lebenswerk, dem Verlag Seven Seas, gab es Schwierigkeiten.
Cathy Gelbin über ihre Großmutter: „Gertrude war eine berufstätige Frau, und sie hat in ihrem Berufsleben etwas erreicht. Das wurde von meinen Eltern immer mit Stolz erzählt. Doch sie war in der DDR zunehmend unglücklich. Auch mit ihrem Lebenswerk, dem Verlag Seven Seas, gab es Schwierigkeiten.“ (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2024)
Cathy Gelbin über ihre Großmutter: „Gertrude war eine berufstätige Frau, und sie hat in ihrem Berufsleben etwas erreicht. Das wurde von meinen Eltern immer mit Stolz erzählt. Doch sie war in der DDR zunehmend unglücklich. Auch mit ihrem Lebenswerk, dem Verlag Seven Seas, gab es Schwierigkeiten.“ (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2024)
Sharon Adler: Mit ihrem Verlag bot sie vielen eine kulturelle und literarische Heimat. Wer gehörte zu diesen Kreisen, und wie waren die Beziehungen untereinander?
Cathy Gelbin: Gertrude und Stefan haben legendäre Partys gefeiert, wo sich viele trafen, die auch im Kulturbereich arbeiteten. Die meisten waren ebenfalls als Remigrant:innen aus westlichen Ländern in die DDR gekommen. Sie haben eine Art linkes, kosmopolitisches Gewissen und eine entsprechende Haltung in der DDR verkörpert. Man darf nicht vergessen, dass viele von diesen Leuten, gewiss auch Stefan, in der Verfolgungszeit und im Krieg Todesangst gehabt haben. Sie hatten diese schwere Zeit überlebt und wollten das Leben feiern. Das haben sie auch getan. In diesen Kreisen wurde teils auch durcheinander geliebt. Sie haben die sexuelle Revolution der 1960er Jahre vorweggenommen, ohne sie so zu nennen.
Lebensrealitäten von Jüdinnen und Juden in der DDR
Sharon Adler: Du bist im Umfeld von Jüdischsein, Antifaschismus, Remigration, Exil und dem Trauma der Shoah aufgewachsen. Was war für dich als Kind und als Heranwachsende prägend? Wie wurde Jüdisches und Jüdischsein in eurer Familie gelebt?
Cathy Gelbin: Das Jüdische wurde vor allem durch das antifaschistische Credo gelebt und durch die Überzeugung, dass die Erinnerung an die Nazi-Verbrechen wachgehalten werden muss. Dass man aus diesen Gründen soziale Gerechtigkeit in die Welt bringen und für den Frieden eintreten müsse. Es wurde mir vermittelt, dass das mit Jüdischsein und der jüdischen Erfahrung zu tun habe. Das habe ich erst sehr viel später bewusst zusammengesetzt.
Das Jüdische selbst war für mich zunächst eher diffus, bis ich in der Schule das Buch „Sally Bleistift in Amerika“
Gertrude Gelbin 1952 mit ihrem Sohn David, Cathy Gelbins Vater, in Ostberlin. Cathy Gelbin: „Meine Großmutter hatte sehr große Angst, nach Deutschland zu gehen – ihre Familie kam aus Polen, es waren polnische Juden. Sie war damals Anfang fünfzig und ein neues Land, Sprache und Kultur ist dann nicht so einfach. Und dazu ein Land, das das jüdische Leben und die Juden in den Orten, aus denen ihre Eltern kamen, fast völlig ausgelöscht hatte. Dessen war sie sich bewusst.“ (© Privatarchiv Cathy Gelbin)
Gertrude Gelbin 1952 mit ihrem Sohn David, Cathy Gelbins Vater, in Ostberlin. Cathy Gelbin: „Meine Großmutter hatte sehr große Angst, nach Deutschland zu gehen – ihre Familie kam aus Polen, es waren polnische Juden. Sie war damals Anfang fünfzig und ein neues Land, Sprache und Kultur ist dann nicht so einfach. Und dazu ein Land, das das jüdische Leben und die Juden in den Orten, aus denen ihre Eltern kamen, fast völlig ausgelöscht hatte. Dessen war sie sich bewusst.“ (© Privatarchiv Cathy Gelbin)
Bei einem Besuch der Gedenkstätte in Theresienstadt erfuhr ich, was das in meinem Vater auslöste. Dass es für ihn ein persönlicher Impetus war, die Erinnerung wachzuhalten und den Opfern seinen Respekt zu zeigen. Er war mit seiner Armee-Einheit gegen Kriegsende bei Augsburg stationiert und wurde wenige Tage nach der Befreiung von Dachau dort hingeschickt. Sie sollten verstehen, wofür sie gekämpft hatten. Er war erst 19 Jahre alt, als er damit konfrontiert wurde.
Auf dem Gelände des Lagers fand er eine Kamera, mit der er zwei Fotos machte, die ich später im Fotoalbum meiner Eltern fand. Da war ich elf Jahre alt. Ein Foto zeigte einen Leichenhaufen, vor dem ein SS-Soldat abgebildet war. Das zweite Foto zeigte einen Pferdewagen, auf dem vorne ein Mann mit einer Peitsche saß. Hinter ihm waren die Leichen.
Das hat mich sehr geprägt und sitzt so tief in mir. Es wurde von meiner Familie so deutlich an mich herangetragen, dass es zu meiner Aufgabe wurde. Daher beschäftige ich mich damit in meiner Arbeit, und deshalb ist es heute so wichtig für mich, auf die Suche zu gehen. Der Tod allein ist zu viel und zu schwer. Das Jüdische muss auch mit Freude und Schönheit verbunden sein.
Sharon Adler: Wann und wodurch hast du damit begonnen, dich näher mit jüdischer Kultur und Religion zu beschäftigen und ein kulturelles und religiöses jüdisches Selbstverständnis zu entwickeln? Wie kamst du zur Jugendgruppe der Jüdischen Gemeinde in Ostberlin?
Cathy Gelbin: Bei meiner Suche nach jüdischen Dingen und nach politischen Alternativen lernte ich in der Schule Leute kennen, die in die christliche junge Gemeinde gingen und da andere Narrative hörten. Das waren natürlich schon leicht oppositionelle Zusammenhänge. Das interessierte mich auch, ich war immer sehr offen und bin dann mal mitgegangen, aber beim Abendmahl und Beten habe ich gemerkt, dass das nicht meins war. In diesem total christlichen Kontext habe ich mich auf einmal total jüdisch gefühlt.
1978 waren wir bei der Wiedereröffnung der Synagoge in der Rykestraße,
Meine Mutter und ich saßen oben auf der Frauenempore und mein Vater saß unten. Er trug eine Kippa; das hatte ich auch noch nie an ihm gesehen, und er wusste auch immer, an welchen Stellen er aufstehen musste. Er konnte sogar die Gebete mitsprechen, vermutlich das Kaddisch. Ich glaube, es hat ihm sogar ein bisschen Spaß gemacht.
Dadurch lernte ich die Jüdische Gemeinde kennen. Und dann kam mir der Gedanke: „Vielleicht haben die ja auch eine Jugendgruppe.“ Als nächstes brachte ich in Erfahrung, dass es eine Bibliothek gibt. Die war in der Gemeindeverwaltung in der Oranienburger Straße, wo man als erstes auf Frau Kirchner
Es gab zwar auch im Freundeskreis meiner Eltern jüdische Remigrant:innen und Exil-Amerikaner:innen mit Kindern in meinem Alter, aber die meisten haben sich nicht für das Judentum interessiert. Hier waren das nun Jugendliche, die am Jüdischsein interessiert waren. Das war für mich eine ganz tolle Erfahrung. Die Jugendgruppe war angesichts der Überalterung der Gemeinde sehr klein, und als „Jugend“ wurden alle unter vierzig definiert. Das war zwar breit gefasst, gab mir aber eben die Möglichkeit, andere kennenzulernen, mit denen ich mich über sehr interessante Themen austauschen konnte. Wir waren als Gruppe auch sehr proaktiv.
Cathy Gelbin in den 1980er-Jahren beim Hora tanzen mit der Jugendgruppe der Jüdischen Gemeinde in Ostberlin. Cathy Gelbin: „Hier waren Jugendliche, die am Jüdischsein interessiert waren. Das war für mich eine ganz tolle Erfahrung.“ (© Privatarchiv Cathy Gelbin)
Cathy Gelbin in den 1980er-Jahren beim Hora tanzen mit der Jugendgruppe der Jüdischen Gemeinde in Ostberlin. Cathy Gelbin: „Hier waren Jugendliche, die am Jüdischsein interessiert waren. Das war für mich eine ganz tolle Erfahrung.“ (© Privatarchiv Cathy Gelbin)
Die Jüdische Gemeinde und allen voran ihr Vorsitzender Peter Kirchner waren daran interessiert, den Nachwuchs aufzubauen, denn die Gemeinde war am Aussterben. Etwa drei Viertel der Menschen waren über sechzig. Es war nur eine Frage der Zeit, bis niemand mehr dagewesen wäre. Das war wohl die Hoffnung der DDR-Führung, denn dann wären sie das Problem losgewesen. Dem versuchte Peter Kirchner entgegenzuwirken. Er hat sich sehr für die Jugendarbeit eingesetzt und überhaupt für die Fortführung der Gemeinde. Ich erinnere das Gefühl einer großen Sympathie, die er uns entgegenbrachte. Und Frau Kirchner hat die Bibliothek aufgebaut und geleitet. Ich habe beide sehr positiv in Erinnerung.
Man hat uns im Hinterhaus, wo jetzt das Centrum Judaicum ist, eine Wohnung überlassen, die wir als Treffpunkt nutzen durften. Dort trafen wir uns, eine Zeit lang fast wöchentlich, um uns über jüdische Themen auszutauschen. Einmal im Monat kam Rabbiner Stein aus Westberlin, um uns zu unterrichten. Einige von uns fingen auch an, regelmäßig in die Synagoge in der Rykestraße zum Gottesdienst zu gehen. Und je mehr wir lernten, desto mehr trauten wir uns auch zu, einen Schabbat oder andere Feiertage zuhause zu feiern. Zu Yom Kippur und zu Rosch ha-Schana gingen wir in die Synagoge, Erev Rosch ha-Schana haben wir auch mal bei mir zuhause gefeiert. Mir war eine Wohnung weit draußen in Marzahn zugewiesen worden. Aber die Leute kamen trotzdem den weiten Weg zu mir und blieben dann teils auch über Nacht. Es hatte fast so ein Chavurah
Dadurch bekam das Jüdischsein für mich etwas Dynamisches. Weil das ein gemeinsames Lernen war und die Gemeinde an uns interessiert war. Das war etwas Lebendiges durch die Rituale und die Feiertage, die wir zusammen feierten, und durch die Freundschaften. Das war die erste wirklich lebendige Erfahrung, die ich mit Juden und dem Judentum hatte. Mit Juden, die Juden sein wollten. Die das Judentum auch leben wollten.
Schulzeit
Sharon Adler: Wie hast du die Vermittlung von Themen zum Judentum oder zum Nationalsozialismus während deiner Schulzeit wahrgenommen?
Cathy Gelbin ist im Umfeld von Jüdischsein, Antifaschismus, Remigration, Exil und dem Trauma der Shoah aufgewachsen. In einem Interview mit dem Titel „Kein Stroh im Kopf” mit Heidi Beidokat in der Wochenzeitung "Die Trommel" vom Januar 1978 sagt die damals 15Jährige: „Umgang mit anderen, das heißt für mich auch, Verständnis für andere zu haben”. (© Privatarchiv Cathy Gelbin)
Cathy Gelbin ist im Umfeld von Jüdischsein, Antifaschismus, Remigration, Exil und dem Trauma der Shoah aufgewachsen. In einem Interview mit dem Titel „Kein Stroh im Kopf” mit Heidi Beidokat in der Wochenzeitung "Die Trommel" vom Januar 1978 sagt die damals 15Jährige: „Umgang mit anderen, das heißt für mich auch, Verständnis für andere zu haben”. (© Privatarchiv Cathy Gelbin)
Cathy Gelbin: Es war in der neunten Klasse und mein erstes Jahr in der erweiterten Oberschule, wo ich mein Abitur machen sollte. Das Schuljahr im Fach Geschichte war dem Faschismus – Nationalsozialismus hieß das ja nicht – gewidmet. Neun Monate lang ging es um den antifaschistischen Widerstandskampf der Kommunistischen Partei. In diesem ganzen Schulbuch erinnere ich nur eine halbe Seite zur Verfolgung von Juden und „Zigeunern“ in Osteuropa und ein Foto von Juden bei einer Deportation in Ungarn.
Gegen Ende des Schuljahres 1979 trat die Geschichtslehrerin an die Tafel und schrieb die Überschrift für die Schulstunde an: „Der Sieg der Sowjetarmee über den Hitler-Faschismus.“ Ich habe mich spontan gemeldet und gesagt: „Aber das stimmt so nicht – natürlich hat die Sowjetarmee zahlenmäßig die größten Opfer gebracht, aber das war der Sieg der alliierten Armeen und nicht nur der Sowjetunion. Und mein Vater und Großvater haben auf amerikanischer Seite mitgekämpft.“
Da wurde sie ganz aufgeregt und sagte nur: „Ja, aber die Sowjetunion hat die größeren Opfer gebracht.“ Ich sah dann, wie andere Schüler zu mir rüber guckten und dachten: „Das stimmt irgendwie, was sie gesagt hat.“ Dann war die Schulstunde vorbei, und von einer Mitschülerin von der ich später erfuhr, dass ein Elternteil einen hohen Posten im Ministerium für Staatssicherheit hatte wurde mir zugetragen, in der Schulleitung hieße es, in meiner Klasse gäbe es einen „präfaschistischen, antisowjetischen Kern“. Das war also offensichtlich ich. Das hatte zwar keine direkt erkennbaren Nachwirkungen für mich, und es kann auch gut sein, dass mich mein Davidstern, den ich damals schon immer offen trug, davor geschützt hat.
Sharon Adler: Wie kamst du zu deinem Davidstern?
Cathy Gelbin: Nachdem ich mit den Eltern 1977 in Theresienstadt gewesen war, wollte ich zeigen, dass es die Deutschen nicht geschafft haben, alle Juden umzubringen. Das war der Impetus. Deshalb habe ich mir eine Kette mit einem Davidstern-Anhänger gewünscht. Aber man kriegte keinen zu kaufen. In der Greifswalder Straße gab es einen Juwelier, den meine Mutter fragte, ob er aus ihrem Silberschmuck einen machen könnte. Denn sie war bereit, ihn dafür einschmelzen zu lassen. Meine nicht-jüdische Mutter, speaking of allies! Sie kam nach Hause und berichtete, dass der Juwelier Angst gekriegt und das abgelehnt hätte. Und wie komme ich jetzt zu meinem Davidstern?
Dann haben mir langjährige Freunde unserer Familie in Westberlin, die Familie Kiesler, die Kette mit diesem großen Davidstern zur Jugendweihe geschenkt. Tilla Kiesler erzählte, sie hätte Angst gehabt, dass die Grenzer ihr bei der Einreise die Kette wegnehmen. Sie hat sie dann selbst getragen, damit es nicht so aussieht, dass sie sie als Geschenk für jemanden mitbringt. Sie war selbst eine Überlebende, die während der NS-Zeit zeitweilig bei meiner Großmutter untergetaucht war. Ihre Freundschaft haben die beiden Frauen nach dem Krieg weitergeführt. Daher war es für mich ein besonders schönes Geschenk, weil es nicht nur irgendein Davidstern war, sondern mit meiner Familiengeschichte zu tun hatte. Es bedeutete eine extra Verpflichtung, ihn von Tilla bekommen zu haben, und war Teil unserer Verbindung nach Westberlin. Das war 1978. Ich trug ihn immer offen, sogar über dem Pullover.
1978 wünschte Cathy Gelbin sich eine Kette mit einem Davidstern-Anhänger: „Aber man kriegte keinen zu kaufen. Dann haben mir langjährige Freunde unserer Familie in Westberlin, die Familie Kiesler, die Kette mit diesem großen Davidstern zur Jugendweihe geschenkt. Ich trug ihn immer offen, sogar über dem Pullover.“ (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2024)
1978 wünschte Cathy Gelbin sich eine Kette mit einem Davidstern-Anhänger: „Aber man kriegte keinen zu kaufen. Dann haben mir langjährige Freunde unserer Familie in Westberlin, die Familie Kiesler, die Kette mit diesem großen Davidstern zur Jugendweihe geschenkt. Ich trug ihn immer offen, sogar über dem Pullover.“ (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2024)
Sharon Adler: Welche Reaktionen gab es auf deinen Davidstern? War es okay, ihn im öffentlichen Raum zu tragen?
Cathy Gelbin: Auf der Straße erfuhr ich in all den Jahren zweimal antisemitische Reaktionen darauf, während ich ihn in Westberlin nie mehr offen getragen habe, weil da klar war, dass es da auch Gewaltreaktionen hätte geben können. Im Osten war das verbal, aber ich habe mich nie körperlich bedroht gefühlt. Du wusstest irgendwie, wenn die was machen, dann sind sie dran. Das wussten die auch im sozialistischen Polizeistaat, oder man hat sich jedenfalls eingebildet, dass es so ist.
Aber in der Schule führte mein Klassenlehrer dazu eine Aussprache mit mir. Ich denke mal, dass er von der Schulleitung dazu beauftragt wurde. Ich erklärte ihm, dass der Davidstern für mich Ausdruck meiner Identität ist. Nicht, dass ich es persönlich falsch gefunden hätte, wenn es ein zionistisches oder religiöses Bekenntnis gewesen wäre, aber ich glaube, für ihn war es klar, dass es das nicht ist, und damit war die Sache erledigt. Ich sage nicht, dass es gut oder richtig war, ich sage nur, dass ich keine erkennbaren Nachteile davon hatte. Es kann aber sein, dass es unterschwellig bei meiner allmählichen Abstempelung als Staatsfeindin eine Rolle gespielt hat. Ich glaube allerdings, dass meine politischen Äußerungen – und dass ich politisch ständig konträr lag – ausschlaggebend dafür waren.
Dann gab es noch den Sportlehrer. Wir mussten vor dem Sportunterricht unseren Schmuck abgeben, und dann wanderte meine Kette mit dem großen Davidstern immer in einen kleinen Karton. Nach dem Unterricht zog er ihn mit spitzen Fingern an der Kette aus dem Karton raus und fragte: „Der Judenstern ist deiner?“ Ich habe ihm den aus der Hand gerissen und gerufen: „Das ist ein Davidstern!“ Später erfuhr ich, dass er auch gegenüber zwei schwarzen Schüler:innen rassistische Äußerungen gemacht hatte.
Jüdisches Coming-out – Lesbisches Coming-out
Sharon Adler: Wie, wann und wem gegenüber hast du dich geoutet?
Cathy Gelbin: Mein lesbisches Coming-Out habe ich lange mit mir herumgetragen und erst nach der Schule mit anderen thematisiert, bei denen ich mich sicher fühlte. Was für mich schwer war, war das Gefühl, dass ich mir nicht mehr sicher sein konnte, ob selbst die Freund:innen und Kreise, die mich akzeptierten, mich nicht wieder ausstoßen würden. Das war eine wahnsinnige Belastung für mich. Ich hatte in der Zeit aber auch meine erste Freundin, die in meine Schule ging. Durch diese Beziehung hatte ich dann die Gewissheit. Das war für mich mein Coming-Out.
Sharon Adler: Wann und wodurch hast du festgestellt, dass du nicht mehr in der DDR leben willst? Wurden dir die Welten, in denen du dich bewegt hast, zu eng?
Cathy Gelbin: Als ich mit 17 Jahren in die Jugendgruppe der Jüdischen Gemeinde ging und anfing, stärker jüdisch zu leben, hatte ich nochmal eine andere Distanz zu meiner Umwelt, und andere konnten nun noch weniger mit mir anfangen. Mir hat mal jemand gesagt: „Du bist ein total bunter Vogel, und so bunte Vögel wie dich gibt es hier nicht viele.“ Ich muss so anders gewesen sein, und ich war ja auch damit beschäftigt, alles miteinander zu vereinen. Das Deutsch-Amerikanisch-Jüdische konnte ich irgendwie zusammenbringen. In die Rubrik Jüdisch passt eine Vielfalt rein, auch Migration und Internationalität, aber mit dem Lesbischsein fiel ich ja aus allem raus. Es passte nicht zusammen, aber es kam eben zusammen. Ich musste es mir selbst zusammenbasteln. Meine erste Reaktion war: „Okay, ich bin das alles, und dann muss das in mir zusammenpassen. Aber wie das für andere zusammengeht, weiß ich jetzt noch nicht. Es ist einfach so.“ Aber mein Ausreisewunsch formierte sich erst nach dem Abitur, als ich immer mehr erkannte, wie viele Wege mir in der DDR versperrt waren. Dann hatte ich gegen Ende meiner Ausreisezeit kurzzeitig eine jüdische Freundin. Da passte es das erste Mal.
Ausreisezeit
Dann ging ich nach Westberlin. Kurz zuvor hatte ich bei einer Party in Ostberlin eine Westberlinerin kennengelernt, die, als sie hörte, dass ich einen Ausreiseantrag gestellt hatte, sagte: „Wenn du rüberkommst, dann ruf mich an, ich komme dich dann an der Grenze abholen.“
Die Ausreise passierte innerhalb eines Tages. Ich musste verschiedene Ämter ablaufen und nach zwei Wochen wurden mir morgens um 9 Uhr von der Polizeidienststelle gesagt, dass ich bis 24 Uhr das Land zu verlassen hätte. Meine Eltern brachten mich zum Grenzübergang in der Friedrichstraße. Mein Vater trug meine Koffer und ich merkte, wie er unter dieser Last fast zusammenbrach. Das war für ihn ganz, ganz schwer. Für meine Mutter auch, aber sie hat es weniger gezeigt. Dann war da diese schwere Eisentür, und da war dann das Ende. Ich kriegte meine Koffer in die Hand, ich ging durch die Eisentür und meine Eltern blieben dahinter zurück.
Cathy Gelbin 1978 in Ostberlin. Cathy Gelbin: „Dass man sich gegen Antisemitismus zur Wehr setzen muss, war mein erstes jüdisches Bewusstsein. Ich habe schon immer versucht, mich dazu zu artikulieren: in meiner Schulzeit in der DDR und später in der Frauenbewegung in Westberlin. Das gilt auch in der aktuellen Zeit: Meine beste Waffe sind meine Worte, mein Wissen und meine Stimme.“ (© Privatarchiv Cathy Gelbin)
Cathy Gelbin 1978 in Ostberlin. Cathy Gelbin: „Dass man sich gegen Antisemitismus zur Wehr setzen muss, war mein erstes jüdisches Bewusstsein. Ich habe schon immer versucht, mich dazu zu artikulieren: in meiner Schulzeit in der DDR und später in der Frauenbewegung in Westberlin. Das gilt auch in der aktuellen Zeit: Meine beste Waffe sind meine Worte, mein Wissen und meine Stimme.“ (© Privatarchiv Cathy Gelbin)
Es wurde nicht jeder ausgebürgert. Die Leute, die berühmt waren, die sie nicht verlieren wollten, durften ihre DDR-Staatsbürgerschaft behalten und bekamen mehrmalige Ein- und Ausreisevisa. Das war bei mir offensichtlich nicht erwünscht. Meine Ausreise-Akte wurde von der Stasi mit „Zionist“ tituliert, und darin ging es um mein jüdisches Engagement und um meine jüdischen Kontakte, die man zu rekonstruieren versuchte. Im Abschlussbericht stand, dass ich einen Verbindungsmann im Westen hatte, der über mich versucht hätte, junge Leute in die Jüdische Gemeinde reinzubringen. Im Klartext heißt das: Die Stasi hat unterstellt, dass da, wo Juden sind, auch eine ausgewachsene Konspiration sein muss. Ich war in ihren Augen die konspirative Verbindungsperson, die das Werk des jüdischen Rädelsführers des Westens im Osten vollbringt. Aber ich habe aus eigenem Antrieb zu verschiedenen jüdischen Leuten gesagt: „Komm doch mal mit in die Jüdische Gemeinde.“ Das war offensichtlich in der DDR unerwünscht, und so beschloss man, mich ausreisen zu lassen.
Westberlin: „Kulturschock“
Der Bahnhof Friedrichstraße im Westen sah auf den ersten Blick genauso aus wie auf der Ostseite. Ich dachte, ich wäre gar nicht im Westen gelandet und das sei ein psychologisches Spiel. Dass die mir vorgegaukelt hätten, dass ich rausdürfte, aber dass ich nur einmal im Kreis gelaufen und wieder im Osten gelandet bin. Dann sah ich aber die Freundin an einem Pfeiler lehnen und mich anlächeln. Sie hat mich ins Auffanglager Marienfelde gefahren, wo man hinmusste, um den Aufnahmeprozess zu durchlaufen. Da durfte ich mir in einem Raum mit Doppelstockbetten ein Bett aussuchen.
Die Freundin lud mich zu einer Einstandsfeier in ihre neue WG ein, und ich bin mit. Gleich am ersten Abend saß ich also in einem Haufen von Westberliner Lesben. Das war ein totaler Kulturschock, aber auch sehr erhellend, denn dabei ging mir auf, dass unsere Welten grundverschieden waren. Die Gespräche waren für mich total abgehoben. Es waren Worthülsen, hinter denen ich mir nichts vorstellen konnte. Auch hatte manchmal dasselbe Wort eine ganz andere Bedeutung. Und es gab Worte, die wir in der DDR benutzt haben, die den Leuten im Westen überhaupt nicht bekannt waren, zum Beispiel das Wort „urst“. Das konntest du natürlich nicht sagen, weil du dich damit sofort als Ossi geoutet hast. Wir haben alle heftig berlinert und die im Westen nicht. Das war dort stigmatisiert und hatte eine soziale Konnotation. Ich musste in dem Sinne eine ganz neue Sprache lernen.
Auch daran, wie sich die Lesben gekleidet haben, merkte ich, dass ich da so, wie ich mich kleidete, gar nicht reinpasste. Die wirkten auf mich alle so supercool, und ich war das überhaupt nicht. Irgendwann habe ich gemerkt, dass ich das nicht sein kann, dass ich das aber auch nicht sein will. Ich fand es natürlich trotzdem total interessant, doch so richtig gut wurde es für mich erst, als mir diese Freundin erzählte, dass bei der ersten Berliner Lesbenwoche auch eine Gruppe von jüdischen Frauen sein würde. Und ob wir da nicht hingehen wollen. Sie war nicht jüdisch, hatte aber über mich angefangen, sich mehr für das Thema zu interessieren.
In Westberlin lernte Cathy Gelbin 1985 die Frauen um den lesbisch-feministischen Schabbeskreis kennen, darunter die Filmjournalistin und Dokumentarfilmautorin Jessica Jacoby. Cathy Gelbin: „Aus persönlicher Perspektive war der Schabbeskreis ein wichtiger Anlaufpunkt für jüdische Frauen und ihre Verbündeten in der Frauenbewegung. Viele von uns haben dort zu einer Identität und zu einer Sprache gefunden, die wir vorher so nicht hatten. Das haben wir uns als eine kleine Community zusammen erarbeitet.“ (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2023)
In Westberlin lernte Cathy Gelbin 1985 die Frauen um den lesbisch-feministischen Schabbeskreis kennen, darunter die Filmjournalistin und Dokumentarfilmautorin Jessica Jacoby. Cathy Gelbin: „Aus persönlicher Perspektive war der Schabbeskreis ein wichtiger Anlaufpunkt für jüdische Frauen und ihre Verbündeten in der Frauenbewegung. Viele von uns haben dort zu einer Identität und zu einer Sprache gefunden, die wir vorher so nicht hatten. Das haben wir uns als eine kleine Community zusammen erarbeitet.“ (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2023)
Und ich so: „Nee, was soll ich denn da? Was können die mir erzählen?“ Ich war da offensichtlich auch schon ein bisschen blasiert. Sie konnte mich aber überzeugen, und so lernte ich den Schabbeskreis kennen, Jessica Jacoby und Maria Baader, heute Benjamin Maria Baader, Gotlinde Lwanga und Kate Sturge. Auch Claudia Schoppmann war oft mit dabei. Das war eine Truppe von Frauen, die mir sofort sympathisch waren. Und es war klar, dass ich mit dazu gehörte. Maria, heute Benjamin, kam hinterher auf mich zu und fragte: „Sag mal, willst du nicht mal zu einem Treffen kommen?“ Und ich: „Ja klar, warum nicht.“ Schon beim ersten Mal war es für mich total klar, dass es das jetzt ist. Andere jüdische Lesben. Das war toll.
Der lesbisch-feministische Schabbeskreis
Sharon Adler: Was bedeutete der Austausch für euch? Und wie würdest du ihn heute aus wissenschaftlicher Sicht einordnen?
Cathy Gelbin: Ich weiß gar nicht, ob ich das jetzt schon wissenschaftlich fassen könnte. Ich habe versucht, mich in dem Artikel „Die jüdische Thematik im (multi)kulturellen Diskurs der Bundesrepublik“
Aus persönlicher Perspektive war der Schabbeskreis ein wichtiger Anlaufpunkt für jüdische Frauen und ihre Verbündeten in der Frauenbewegung. Viele von uns haben dort zu einer Identität und zu einer Sprache für uns gefunden, die wir vorher so nicht hatten. Das haben wir uns als eine kleine Community zusammen erarbeitet.
Sharon Adler: Wer waren die Frauen im Schabbeskreis, wie hat er sich entwickelt? Was waren eure Themen?
Cathy Gelbin: Gegründet wurde der Schabbeskreis als politische Gruppe. Als ich hinzukam, waren nur wir drei jüdisch, und dann kamen im Laufe der Zeit noch andere dazu. Viele waren nur zeitweilig in Berlin und fanden dann zu uns. Die anderen ständigen Mitglieder waren nicht-jüdisch. Das war so halbe, halbe. So war auch die Konzeption und das Gründungsprogramm vom Schabbeskreis: Jüdische Frauen und ihre Verbündeten, die über das Jüdischsein lernen und gegen Antisemitismus vorgehen wollen. Meiner Erinnerung nach hat sich das dann ein bisschen verändert.
Jessica und ich glaubten, dass es nicht reicht, jüdische Rituale nur zu zelebrieren. Wir hielten es für wichtig, diese neu zu bestimmen und neu zu erfinden, damit auch wir mit unseren Erfahrungen als Feministinnen darin vorkommen. Das kam auch durch unsere jüdisch-amerikanische Verbindung und weil wir bald Susannah Heschel
Die Frauen- und Lesbenbewegung der 1980er und 1990er Jahre
Sharon Adler: Wie hast du den Austausch mit nicht-jüdischen Frauen und Lesben wahrgenommen? Seid ihr in dem Kontext antisemitischen Klischeebildern begegnet, wenn ja, welchen?
Cathy Gelbin: Es hat sich so angefühlt, als ob wir im Laufe dieser Jahre mit der Berliner Frauenszene immer mehr heftige Auseinandersetzungen hatten, die sich verschärft haben. Wenn wir in eine Veranstaltung kamen und den Antisemitismus sowohl in der Gesellschaft allgemein als auch in Frauenkontexten thematisieren wollten, wurde das meist als erstes mit der Frage lahmgelegt, was Judentum eigentlich sei. Fragen wie „Das ist ja so patriarchal, wie kannst du dich damit identifizieren?“ oder „Wie kannst du zu deiner Familie noch Kontakt haben, zu so einem patriarchalen Konstrukt?“ wurden mir jahrelang an den Kopf geworfen.
Meine Erinnerung an die letzten Jahre ist, dass es eine Zeit war, in der ich ständig nur noch wütend, aufgeregt und total durcheinander war. Für viele dieser Dinge fehlten mir die Worte. Die haben mich sprachlos und atemlos gemacht. Ich habe eigentlich immer, wenn solche antisemitischen Angriffe in Deutschland kamen, eine Vernichtungsangst erlebt. Die offensichtlich ganz tief in meinen Kindheitsgefühlen irgendwo angelegt ist. Eine präverbale Vernichtungsangst.
Wir haben uns immer stärker in einer Belagerungsmentalität wiedergefunden. Das hat die Dynamik zwischen den Frauen im Schabbeskreis zum Teil belastet. In der Lesbenwoche gingen die Konflikte zwischen jüdischen und nicht-jüdischen Frauen noch relativ glimpflich ab. Aber was sich mit der Zeit zuspitzte, war die Artikulation einer, wie wir es ironisch nannten, „Gnade der weiblichen Geburt“ als feministisches Äquivalent von Helmut Kohls „Gnade der späten Geburt“. Das Konstrukt eines Teils der Frauenbewegung lautete sinngemäß, Faschismus beziehungsweise Nationalsozialismus sei die höchste Form des Patriarchats. Frauen seien Opfer des Patriarchats, und die Erfinder des Patriarchats seien die Juden.
Diese Verbindungslinie äußerten nicht alle, aber wir hörten bei verschiedenen Veranstaltungen immer öfter verschiedene Teile davon und manchmal auch die gesamte Argumentationslinie. Damit haben die Frauen ihr Schuldgefühl abgewehrt. Eine Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Familiengeschichte wurde auch über dieses Konstrukt abgewehrt. Das war sozusagen die Mythenbildung, die die Historikerin Claudia Schoppmann,
Damals gab es auch Versuche von Koalitionsbildungen zwischen Schwarzen, migrantischen und jüdischen Frauen. Die letzte Veranstaltung, die ich mitorganisiert habe, war 1997, als wir den Band „Aufbrüche“ herausgegeben haben. Bei dieser Tagung wurden die jüdischen Frauen von den anderen letztendlich ausgegrenzt. Weil wir „zu weiß“ waren. Es war einfach deswegen besonders schlimm, weil diese Angriffe für uns gefühlt von innen kamen. Also aus den Zusammenhängen, in denen wir uns eigentlich verorten wollten und aus denen wir unsere politischen Überzeugungen bezogen. Es wurde im Prinzip gesagt, dass wir da nicht reinpassten, nicht dazugehörten. Das war für mich der Endpunkt von Koalitionsarbeit und auch der Endpunkt meiner Arbeit in der Frauenbewegung. Ich habe diese Themen seitdem in meiner Arbeit weitergeführt, durch die akademische Beschäftigung, durch die Lehre.
„Archiv der Erinnerung“ – Filmische Dokumentation von Zeitzeug:innenberichten der Shoah
Cathy Gelbin arbeitete als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Koordinatorin am Shoah-Überlebendenprojekt „Archiv der Erinnerung“ mit. Cathy Gelbin: „Was uns Mitte der 1990er-Jahre als eine der zentralen Fragestellungen auch interessiert hat, war, ob und wie in Ost und West über die Erfahrung der Verfolgung unterschiedlich erzählt wird.“ (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2023)
Cathy Gelbin arbeitete als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Koordinatorin am Shoah-Überlebendenprojekt „Archiv der Erinnerung“ mit. Cathy Gelbin: „Was uns Mitte der 1990er-Jahre als eine der zentralen Fragestellungen auch interessiert hat, war, ob und wie in Ost und West über die Erfahrung der Verfolgung unterschiedlich erzählt wird.“ (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2023)
Sharon Adler: Mit der Literaturwissenschaftlerin Eva Lezzi hast du am Moses Mendelssohn Zentrum als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Koordinatorin des Holocaust-Überlebendenprojekts „Archiv der Erinnerung“
Cathy Gelbin: Die Idee für dieses Projekt hatte Eva Lezzi mit dem Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies in Yale entwickelt, wo sie einen Forschungsaufenthalt absolvierte. Sie fragte mich, ob ich es mit ihr zusammen koordinieren würde, wir hatten uns kurz zuvor in Berlin kennengelernt. Das Konzept war, Videos zu drehen und im Archiv aufzubewahren, damit sie für verschiedene Zwecke genutzt werden können. Am Moses Mendelssohn Zentrum entstand dann die Idee für eine pädagogische und auch eine wissenschaftliche Aufbereitung.
Wir wollten die Interviews nicht nur aufnehmen, sondern auch selbst auswerten. Daraus entstand die Idee für den Sammelband.
Ausgebildet wurden wir von Dori Laub,
Fragestellungen und Auswertungen
Was uns Mitte der 1990er-Jahre als eine der zentralen Fragestellungen auch interessiert hat, war, ob und wie in Ost und West über die Erfahrung der Verfolgung unterschiedlich erzählt wird. Gab es vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Diskurse, die in der Bundesrepublik und in der DDR über diese Erfahrung von gesellschaftlicher Seite bestanden, einen Einfluss auf die Art, wie die Überlebenden ihre Geschichte erzählen?
Wie spiegelten sich die gesellschaftlich vorhandenen Diskurse über die Verfolgung, über die NS-Zeit, in diesen Verfolgungserzählungen wider? Das war besonders interessant, weil viele der Überlebenden, mit denen wir gearbeitet haben, schon in der DDR der Nachkriegszeit über ihre Verfolgungszeit und – wenn sie im KZ waren – über ihre KZ-Haft gesprochen hatten. Aber viele haben erst nach 1989 erzählt, dass sie als Juden/Jüdinnen inhaftiert waren und nicht vordergründig als „Politische“. Wir hatten auch die Möglichkeit, anhand von Publikationen oder Vortragsmanuskripten, die vor unseren Interviews entstanden waren, zu vergleichen, wie sich die Erzählung verändert hat. Zum Teil waren die Überlebenden auch mehrmals im Studio. Es konnte passieren, dass jemand zurückkam und berichtete: „Ich habe mich, nachdem ich nach Hause kam, nochmal an ganz andere Dinge erinnert. Ich habe erzählt, wie ich gesehen habe, dass jemand von den SS-Wachsoldaten geschlagen wurde. Mir ist hinterher eingefallen, dass ich selbst da ausgepeitscht wurde.“
Das hat uns darin bestärkt, dass die Methode, die wir gewählt haben, so eklektisch sie war, dafür geeignet war, Raum zu schaffen für diesen flexiblen, sich verändernden Erinnerungsprozess – und so Schichten in der Erzählung und in der Erinnerung herauszuarbeiten und freizulegen.
Klar, für uns als junge Wissenschaftler:innen war die wissenschaftliche Auseinandersetzung wichtig. Im Nachhinein ist für mich abseits der wissenschaftlichen Analyse auch wichtig, ein persönliches Gespräch mit den Überlebenden geführt zu haben und ihre Erfahrungen von ihnen selbst erzählt bekommen zu haben. Ich kann noch sagen, dass ich die Stimme der Überlebenden selbst gehört habe. Eine Stimme, die ich als Zweite Generation an die nächste Generation weitergeben kann. Wir leben jetzt in einer Zeit, in der es nur noch vereinzelte Überlebende gibt. Ich kenne ihre Geschichte nicht nur aus Büchern oder aus den Filmen, die wir im Seminar behandeln, sondern habe auch einen Eindruck von dem Menschen selbst empfangen.
Diesen Eindruck gebe ich weiter, weil sich daraus auch die Dringlichkeit ergibt, die dieses Thema hat. Wenn ich heute in meinen Seminaren mit den Studierenden über diese Zeit spreche, merke ich, dass sie so auch emotional einen anderen Eindruck davon bekommen. Es bleibt nicht abstrakt, es sind nicht nur Geschichten, die erzählt werden, sondern sie sind verknüpft mit dem Leben von Menschen, deren Erinnerungen weitertradiert werden.
Repräsentation von jüdischem Leben im Film unter der Berücksichtigung von Frauen- und Genderaspekten
Cathy Gelbin lehrt als Professorin für Film und Germanistik an der Universität Manchester, sie forscht und publiziert unter anderem zu intersektionellen Darstellungen von Geschlecht, Queer- und Jüdischsein in der Kultur der Moderne. Publikationen u.a. The Golem Returns; Cosmopolitanisms and the Jews (2017, mit Sander L. Gilman) und “Queer Jewish Lives on Screen” (2022). Cathy Gelbin: „Meine Herangehensweise an das Medium Film ist eine ästhetische. Im Seminar sprechen wir über die Filme als Kunstwerk und das Problem und den Versuch der Darstellbarkeit der Shoah und der Lagerverbrechen, wobei es auch um die Verfolgung von Politischen und von sogenannten Homosexuellen geht.“ (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2023)
Cathy Gelbin lehrt als Professorin für Film und Germanistik an der Universität Manchester, sie forscht und publiziert unter anderem zu intersektionellen Darstellungen von Geschlecht, Queer- und Jüdischsein in der Kultur der Moderne. Publikationen u.a. The Golem Returns; Cosmopolitanisms and the Jews (2017, mit Sander L. Gilman) und “Queer Jewish Lives on Screen” (2022). Cathy Gelbin: „Meine Herangehensweise an das Medium Film ist eine ästhetische. Im Seminar sprechen wir über die Filme als Kunstwerk und das Problem und den Versuch der Darstellbarkeit der Shoah und der Lagerverbrechen, wobei es auch um die Verfolgung von Politischen und von sogenannten Homosexuellen geht.“ (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2023)
Sharon Adler: Du lehrst heute als Professorin für Film und Germanistik an der Universität Manchester, forschst und publizierst unter anderem zu den Themen „Queeres jüdisches Leben auf der Leinwand“
Cathy Gelbin: Meine Herangehensweise an das Medium Film ist eine ästhetische. Im Seminar sprechen wir über die Filme als Kunstwerk und das Problem und den Versuch der Darstellbarkeit der Shoah und der Lagerverbrechen, wobei es auch um die Verfolgung von sogenannten Homosexuellen und von Politischen geht. Wie gehen die Kunstwerke mit dem Problem der Darstellbarkeit des Wissens über die Shoah um, und welche ästhetischen Strategien wählen sie, um diesen Konflikt der Darstellbarkeit entweder zu umgehen und zu verdecken oder zu thematisieren?
Was sagen sie uns damit über das Problem der Darstellbarkeit auch auf der ästhetischen Ebene – und welche ethischen Fragen ergeben sich daraus? Angefangen, mich damit zu befassen, habe ich in meinem Beitrag „Double Visions: Queer Femininity and Holocaust Film“. Was mich daran interessiert hat, waren die mir relativierend erscheinenden kollektiven Verhandlungen der nationalsozialistischen Verbrechen in lesbisch-queeren Kreisen. Gleichzeitig ist auch das Thema von Sexualität und Homosexualität im Kontext der Verfolgungserfahrung von nicht-jüdischen Schwulen und Lesben relevant. Das kam in der Behandlung der nationalsozialistischen Verbrechen lange nicht wirklich vor und ist für mich als politische Lesbe auch wichtig.
Ich habe versucht, aufzuzeigen, dass es unterschiedliche Diskurse waren, auch wenn es Verbindungslinien gibt. Der Film „Aimée und Jaguar“ aus dem Jahr 1999 etwa zeigt die Erfahrung von Sexualität in der Shoah, doch sollten wir nicht auf das Klischee von der romantischen Liebe hereinfallen, die der Film suggeriert. Wenn ich ihn im Seminar bespreche, erzähle ich den Studierenden auch, was wir inzwischen über Lilly Wust, die Geliebte von Felice Schragenheim, wissen. Im Genre Holocaust-Film waren viele der früheren Werke stark auf Unterhaltung ausgerichtet, auf eine feel good-Erfahrung für das Publikum. Oder einen Voyeurismus. Ich glaube, dass die Diskussion dazu noch in der Entwicklung begriffen ist. Kulturschaffende und Forschende sind noch dabei, das Thema zu bearbeiten und eine filmische und wissenschaftliche Sprache zu finden, die dem gerecht wird.
Der 7. Oktober 2023
Sharon Adler: Welche Gedanken und Gefühle hattest du im Kontext des Überfalls durch die Hamas-Terroristen und ihre Helfer:innen?
Cathy Gelbin: Als ich von dem Angriff gehört habe, war ich zwar betroffen, aber erst, als ich ein paar Tage später von den detaillierten Beschreibungen der Angriffe erfuhr, verstand ich, dass das eine neue Situation ist, unter neuen Vorzeichen. Natürlich kam mir fast sofort der Krieg und die Vergewaltigungen in Bosnien in den Sinn, aber was als erstes kam, war die Sprache der Pogrome. Weil das eine Form der konzertierten Gewalt gegen Jüdinnen und Juden ist, die schon sehr lange praktiziert wird. Die Kosaken, die jüdische Ansiedlungen überfielen und dort die Frauen vergewaltigten, verstanden das als Teil ihrer Kriegsführung. Aus den Erfahrungen meiner jüdischen Vorfahren aus Osteuropa trage ich wahrscheinlich ein tiefes archetypisches Wissen dazu in mir. Und es ist durchaus denkbar, dass sich diejenigen, die diesen Angriff konzipiert haben, auch dieser historischen Assoziation bewusst waren. Dies wäre dann auch ein Angriff auf das Jüdischsein allgemein, mit dem unsere archetypischen Ängste aktiviert werden sollten, und nicht nur ein Krieg gegen israelische Jüdinnen und Juden. Das scheint mir hier extrem deutlich, denn folgerichtig wurden innerhalb von wenigen Tagen nach dem 7. Oktober jüdische Ziele in der Diaspora angegriffen.
Sharon Adler: Obwohl die Beweislast
Cathy Gelbin: Ich war nicht sehr überrascht. Das war aus der Geschichte der Frauen- und Lesbenbewegung der 1980er- und 1990er-Jahre zu erwarten. Und doch ist es niederschmetternd, dass sich so ein Kreis geschlossen hat. Aber ich glaube auch, dass es für die junge jüdische Generation noch niederschmetternder ist, weil die das zum ersten Mal erlebt. Weil die in einer Zeit aufgewachsen ist, wo es zwar auch Antisemitismus, aber auch Optimismus, die Hoffnung auf eine solidarische Vielfalt in der Gesellschaft gab. Jedoch erleben wir alle zum ersten Mal auf eine so radikale Weise, wie es ist, wenn diese Solidarität aufgekündigt wird.
Die Welle des Antisemitismus nach dem 7. Oktober
Sharon Adler: Seit dem 7. Oktober grassiert Antisemitismus massiv und weltweit, auch an Universitäten. Wie erlebst und beurteilst du die Situation? Erfährst du persönlich mehr Solidarität und Empathie oder mehr Hass und Hetze? Was hat sich für dich nach dem 7. Oktober verändert?
Cathy Gelbin: Ich wurde von nur wenigen nicht-jüdischen Menschen in meinem Umfeld gefragt, wie es mir geht. Ansonsten war Schweigen. Andererseits gab es auch eine Verstärkung der Verbindungen meiner langjährigen Beziehungen und Freundschaften mit Jüdinnen und Juden. Es sind seitdem auch einige neue Verbindungen dazugekommen.
Dass man sich gegen Antisemitismus zur Wehr setzen muss, war mein erstes jüdisches Bewusstsein. Ich habe schon immer versucht, mich dazu zu artikulieren: in meiner Schulzeit in der DDR und später in der Frauenbewegung in Westberlin. Das gilt auch in der aktuellen Zeit: Meine beste Waffe sind meine Worte, mein Wissen und meine Stimme. Das versuche ich auch in dem Rahmen einzusetzen, in dem ich es für möglich und sinnvoll halte.
Das ist für mich keine rein rationale Sache, es kostet mich emotional wahnsinnig viel, es regt mich unheimlich auf. Aber ich kann nicht anders. Ich habe durch meine Arbeit auch eine andere Sprache dafür. Ich nehme heute wieder Bücher hervor, die mir helfen, das einzuordnen. Gerade habe ich nochmal Sartres „Anti-Semite and Jew“
„In den Worten ‚eine schöne Jüdin‘ liegt eine ganz besondere sexuelle Bedeutung“, die sich von dem Bild anderer Frauen im gesamtgesellschaftlichen Diskurs unterscheidet; „Es geht von ihnen [den jüdischen Frauen] ein Hauch von Massaker und Vergewaltigung aus. Die schöne Jüdin ist die, welche die Kosaken an den Haaren durch ihr brennendes Dorf schleifen.“ Wir werden erst auf lange Sicht wirklich verstehen, welche Folgen der 7. Oktober hat. Aber es ist auf jeden Fall ein neues Zeitalter, in dem wir uns im Diskurs über Juden und Antisemitismus wiederfinden. So ist im Augenblick mein Eindruck.
Heute ist für mich die antisemitischste Zeit, die ich jemals erlebt habe. Bis jetzt habe ich immer mit diesem Optimismus der Nachkriegszeit gelebt: Antisemitismus ist da, aber wir haben es geschafft, eine Veränderung im Bewusstsein hervorzurufen, uns einen diskursiven Platz in der Gesellschaft, in der wir leben, zu schaffen. Wir haben dafür gekämpft, das ist uns nicht einfach gegeben worden. Irgendwann hatten wir das Gefühl, dazuzugehören. Der 7. Oktober ist eine Zäsur. Es ist nichts wie zuvor.
Zitierweise: Interview mit Cathy Gelbin: „Meine beste Waffe sind meine Worte, mein Wissen und meine Stimme“, in: Deutschland Archiv, 15.8.2024, Link: www.bpb.de/551311.