Rund 2.000 Seiten umfasst die Biografie des Historikers Ilko-Sascha Kowalczuk über den "Mauerbauer" Walter Ulbricht als Lenker der DDR bis 1971. Der Philosoph und ehemalige DDR-Bürgerrechtler Wolfgang Templin rezensierte bereits den ersten Band von Kowalczuks Ulbricht-Biografie für das Deutschland Archiv ("Spurenverwischer"), nun beleuchtet er Band II.
Ilko-Sascha Kowalczuk geht es auch im zweiten Band seiner Biografie um Walter Ulbricht als ausgeprägten Machtmensch. Er spürt dem Charakter und den Motiven seines Protagonisten nach, der sich noch vor Gründung der DDR 1949 seine Position sichert und festigt, lässt nachvollziehen, wie er sich zielbewusst dem Gipfel seiner Macht nähert, weitere Gefolgsleute und Anhänger um sich schart, die letzten ernsthaften Konkurrenten beiseiteschiebt und Gegner konsequent aus dem Weg räumt.
Autor Kowalczuk arbeitet dabei wie ein Theaterregisseur und entwickelt eine ausgefeilte Dramaturgie. Relevante Mitspieler und Nebenfiguren sind um den Haupthelden platziert, der schon zu Lebzeiten alles daransetzt, sein eigenes Bild für die Nachwelt zu entwerfen und Details aus seiner Biografie zu verstecken. Auf welche Weise Ulbricht den Autor Kowalczuk in dessen eigenen Leben begleitete, schildert dieser in einem Anhang, der mit „Persönliches“ überschrieben ist, (S. 737 ff.).
In frühesten Kindheitserinnerungen sieht er seinen Vater Bohdan Ilko Kowalczuk an einem Tisch sitzen und eine Mappe mit Fotos von Walter Ulbricht zusammenstellen. Es ist das Jahr 1971, und die ältere Schwester Saschas soll dem erkrankten Staatsratsvorsitzenden Genesungswünsche schicken. Von Otto Gotsche, dem bewährten Sekretär Ulbrichts, wird der Schülerin im Namen Ulbrichts für die liebevolle Gabe gedankt. Ilko-Sascha Kowalczuk sieht sich immer wieder mit der Frage konfrontiert, was er von dem mittlerweile verstorbenen Walter Ulbricht und seiner Lebensleistung halten soll.
Der eigene Freiheitsdrang prägte Kowalczuks späteres Leben – während die größte Lebensleistung Ulbrichts gerade darin bestand, individuelle und gesellschaftliche Freiheit zu unterdrücken. Beim Stichwort Freiheit spielen der Name und die Herkunft Ilko-Saschas eine entscheidende Rolle. Sein Großvater Ilko Kowalczuk war Ukrainer, der vor über hundert Jahren an der Seite Symon Petljuras und des polnischen Militärs und Staatsmannes Józef Piłsudski für eine freie Ukraine kämpfte. Ukrainer, die ihre eigene Geschichte, Kultur und Tradition verteidigten. Sie wehrten sich gegen einen barbarischen russischen Aggressor, der ihnen all das absprach. Mit ihnen fühlt sich der Enkel des Freiheitskämpfers zutiefst verbunden.
Der Kreis zur Gegenwart schließt sich, und die nahezu unerträgliche Spannung, die Kowalczuk gegenwärtig erfüllt, wenn man seine Beiträge liest, wird verständlich. Er ringt um die Biografie eines kommunistischen Diktators der Vergangenheit, während die gegenwärtige Ukraine erneut um ihr Überleben kämpfen muss. Der genaue Blick auf die Biografie Ulbrichts kann ein Schlüssel zum besseren Verständnis heutiger Diktaturen werden. Zum nüchternen, illusionslosen Umgang mit ihnen.
Der Weg an die Spitze
Der Beginn des zweiten Bandes der Biografie fällt in die ersten Monate des Jahres 1945. Das Ende des Krieges ist entschieden, der Fall von Berlin nur noch eine Frage von Wochen. Stalin hat seine westlichen Gegenüber erfolgreich ausmanövriert und sein künftiges Herrschaftsgebiet abgesteckt. Die künftige Teilung Europas zeichnet sich ab. Ulbricht ist bereit, dem Willen Stalins und der Linie Moskaus zu folgen, um damit die eigene Spitzenposition unter den deutschen Kommunisten zu sichern. Er will aber kein bloßes Werkzeug in ihren Händen sein. Ohne die militärische und politische Macht der Sowjetunion und ihre anhaltende Präsenz in Deutschland war die Machtübernahme der deutschen Kommunisten nicht zu bewerkstelligen.
Für die Zukunft strebt Ulbricht jedoch ein Verhältnis auf Augenhöhe zu den sowjetischen Genossen an – eine Augenhöhe, zu der Stalin und die allermeisten von Ulbrichts Gegenübern in der sowjetischen Militär- und Zivilverwaltung nicht bereit waren. Für den deutschen Diktator waren Geschick und Geschmeidigkeit gefragt, wenn er sich einen eigenen Freiraum schaffen wollte. Es begann bei der Auswahl der Kader, die noch vor der Kapitulation der Wehrmacht in den östlichen Provinzen Deutschlands, die der Sowjetunion zufielen, tätig werden sollten. Hier hatte er gute Vorarbeit geleistet, wieder und wieder die Personalakten und Lebensläufe durchmustert, hatte freie Hand bei der Zusammensetzung der ersten Vorauskommandos und Gruppen. Diese gingen nach den Provinzen, die sie bearbeiteten, als „Gruppe Ulbricht“ für Berlin, „Gruppe Ackermann“ (Süden) und „Gruppe Sobottka“ (Norden) in die Geschichte ein. Bei der Kaderauswahl kam Ulbricht der Terror Stalins zu Hilfe. Wer die Säuberungen überlebt hatte, nicht eingesperrt war und erfolgreich in Sibirien oder Kasachstan gegen Krankheit und Hungertod gekämpft hatte, war fast immer geeignet.
In der Folge galt es, die Ostemigranten, die Westemigranten und jene Kommunisten zusammenzuführen, die in Nazideutschland im Untergrund überlebt hatten. Vor allem letztere drängten nach der Kapitulation der Wehrmacht und dem Zerfall der nazistischen Staatsstrukturen auf eine schnelle Neugründung unter dem Schutz der Sieger. Das wollten Ulbricht und die Moskauer Führung auf jeden Fall unterbinden. In einer „antifaschistisch-demokratischen“ Zwischenphase sollten möglichst viele SPD-Genossen, die an den demokratischen Willen der Kommunisten glaubten, bürgerliche Spezialisten und reumütige ehemalige NSDAP-Mitglieder für den Staatsaufbau gewonnen werden. Hier hatte der unermüdliche Ulbricht eigene lange Listen angefertigt, die er sofort nach der Ankunft seiner engsten Vertrauten überprüfen, komplettieren oder korrigieren ließ. Entscheidend war es, möglichst viele SPD-Mitglieder und ihre Führungspersonen für eine enge Zusammenarbeit zu gewinnen, die in einer „freiwilligen“ Vereinigung münden sollte. Formen der Machtteilung sollten in den ersten Jahren der völligen Machtübernahme vorausgehen, die als Ziel unverrückbar vor Augen stand.
Wer wie Anton Ackermann als langjähriger Gefährte Ulbrichts und Mitglied des engsten kommunistischen Führungszirkels nach 1945 einen „besonderen deutschen Weg zum Sozialismus“ vor Augen hatte und propagierte, konnte von Glück sagen, wenn er nur ins Abseits geriet und seine Einstellung nicht mit dem Leben bezahlte.
Anders als Ulbricht und die Moskauer Führung gehörte Ackermann zu jenen deutschen Kommunisten, die sich einen demokratischen Sozialismus wünschten. Wenn es hart auf hart kam, unterwarfen sie sich aber der Autorität und dem Druck der späteren SED-Führung. Anton Ackermanns Schicksal, er starb 1967 durch Suizid, steht für eine Reihe weiterer deutscher Kommunisten, die als „Abweichler und Fraktionsmacher“ bekämpft wurden. Kowalczuk sucht hier hinter den politischen Biografien und Einordnungen die Menschen, ihre Familien und Angehörigen; er schreibt über Vereinsamung, Verbitterung und Depression und die Versuche, sich weiter „an die Sache“ zu klammern. Dabei stützt er sich auf Bekanntes, findet neue Quellen und stellt Fragen, die weiter offen und umstritten sind. So zum Beispiel die nach dem Zusammengehen von KPD und SPD zur Sozialistischen Einheitspartei als Zwangsvereinigung oder freiwilligem Zusammenschluss. Der Zwangszusammenschluss von SPD und KPD zur SED 1946.
So sehr bei dem im April 1946 erfolgten Zusammenschluss von KPD und SPD zur SED auch Erpressung, Nötigung und Manipulation wirkten, so sehr kam es Ulbricht darauf an, eine große Anzahl von SPD-Genoss*innen in dem Glauben zu lassen, es könne einen gleichberechtigten Neubeginn mit den Kommunisten geben. Dabei sollte Otto Grotewohl eine Schlüsselrolle spielen. In der SPD der Zwanzigerjahre hatte sich der gelernte Buchdrucker und Reichstagsabgeordnete nach 1933 im Widerstand engagiert und war glimpflich davongekommen. Nach 1945 an die Spitze der Ost-SPD gelangt, stand er zwischen den Vereinigungsbefürwortern und den scharfen Kritikern, die dem Kurs der SPD in den Westsektoren unter Kurt Schumacher zuneigten.
Kowalczuk schreibt, dass Freiwilligkeit, verbunden mit großen Hoffnungen, ein nicht zu unterschätzender Motor in der Vereinigungsgeschichte beider Parteien im Osten war (S. 162). Andererseits gab es seit Anfang 1946 Parteiausschlüsse, Verhaftungen, die Anwesenheit von sowjetischen Offizieren in fast allen Versammlungen und im März 1946 das Verbot einer Urabstimmung in der Ostberliner SPD. Für die Entscheidung Otto Grotewohls, trotz anfänglicher Zweifel, Widerstände und Bedenken für die Vereinigung zu optieren, spielten lange Gespräche eine Rolle. Diese führte er Ende 1945 im Hauptquartier der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland in Berlin-Karlshorst, wohin er einbestellt wurde. Über den genauen Inhalt dieser Unterredungen konnten spätere Biografen des DDR-Ministerpräsidenten nur rätseln. Wahrscheinlich verbanden sich Drohungen mit Karriereversprechen und dem Angebot einer eigenen Machtstellung gegenüber Ulbricht.
Später erwies sich Grotewohl als konfliktscheuer Opportunist und entwickelte sich in den Folgejahren zum linientreuen Stalinisten. Am 24. April 1946, beim Vereinigungsparteitag im Berliner Admiralspalast, spielte er neben Wilhelm Pieck die zweite Hauptrolle. Ihr symbolischer Händedruck zierte danach das Parteiabzeichen der SED. Grotewohl wirkte später an der Verfolgung der eigenen Genoss*innen mit und spielte immer mehr die Rolle eines Erfüllungsgehilfen und politischen Statisten.
Unter den rund 600.000 SPD-Mitgliedern, die mehr oder weniger freiwillig in die SED gingen, befand sich eine Mehrzahl neu eingetretener Genoss*innen, die nicht mehr die traumatischen Erfahrungen mit der KPD vor dem Zweiten Weltkrieg teilten.
Die teilweise Vereinigung der SPD mit den Kommunisten und deren Einordnung ließ für Ulbricht einen langen Traum in Erfüllung gehen. Jetzt galt es, die Vertreter der in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) legalisierten Christdemokraten (CDU)und Liberalen (LDPD) im „antifaschistisch-demokratischen Block“ zur engeren Mitarbeit zu gewinnen und gefügig zu machen. Auch hier halfen dem KPD-Chef genaue Personenkenntnisse und taktische Schläue, wenn es darum ging, für einen Parteienpluralismus zu werben, der natürlich keiner war. 1948 kam als von der SED gesteuerte Neugründung die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NDPD) als Partei ehemaliger Nationalsozialisten hinzu. Unter dem Motto „einmal irren darf jeder“ sollten sie ihre Rolle bis zum Ende der DDR spielen. Die Demokratische Bauernpartei Deutschlands (DBD) entstand unter Führung des Altkommunisten Ernst Goldenbaum und spielte eine wichtige Rolle bei der Bodenreform und der anschließenden Zwangskollektivierung.
Für die Gründung und Führung einer überparteilichen Jugendorganisation, der „Freien Deutschen Jugend (FDJ)“, die an die Stelle des ehemaligen kommunistischen Jugendverbandes treten sollte, stand mit Erich Honecker einer der (noch) treuesten Gefolgsleute Ulbrichts bereit. Mit dem Problem, unter Einbeziehung junger Christen eigentlich weltanschaulich neutral zu sein und dennoch kommunistisch-atheistischen Idealen anzuhängen, konnte die FDJ lange nicht wirklich umgehen. Die Mühen der Kirchenpolitik wurden zu einem der schwierigsten Kapitel für Ulbricht. Auf das Kapitel „Kirchenkampf in den fünfziger Jahren“ folgte das Ringen um gefügige Christen unter dem Dach einer „Kirche im Sozialismus“.
Den Parteien und der Jugendorganisation folgte die Gründung beziehungsweise Installation eines den Machtanspruch der SED akzeptierenden Freien Demokratischen Gewerkschaftsbundes (FDGB). Der Demokratische Frauenbund Deutschlands (DFD) und der für die Intellektuellen und Künstler*innen bestimmte Kulturbund schlossen sich an. Ihre Kandidaten standen auf einer gemeinsamen Wahlliste und waren dadurch in der Volkskammer vertreten.
Ulbricht agierte wie die Spinne im Netz, knüpfte unermüdlich Fäden und sorgte sich dabei um die Stabilität seines engsten Machtzirkels. Seine Lebensgefährtin Lotte Ulbricht wirkte dabei bis ans Ende seiner Macht als politische Stütze an seiner Seite. Auch ihr Mitwirken an Ulbrichts Machtgefüge zeichnet Kowalczuk in aller Ausführlichkeit nach.
Entscheidende Krisen und Fraktionskämpfe
Im Frühjahr 1945 entschieden die Alliierten, anstelle des weitgehend zerstörten Berlins Potsdam als Ort der Konferenz auszuwählen, auf der im Juli und August 1945 die Weichen für die europäische Nachkriegsordnung gestellt wurden. Grotesk dabei war die Sicherheitsmanie des flugzeugscheuen Stalins, der in einem eigenen Panzerzug anreiste. Teil des Zuges waren Salonwagen, die zuletzt den russischen Zaren befördert hatten. Zehntausende Sicherheitsposten säumten die Strecke, acht weitere Panzerzüge verstärkten den Schutz.
Wie schon im ersten Band seiner Biografie vermittelt Kowalczuk auch für den weiteren Weg des kommunistischen Diktators detailliert die Inhalte jedes Plenums des Zentralkomitees, jeder Parteikonferenz, jedes Parteitags, bis zum Tode Ulbrichts 1973. Zu den wichtigsten davon zählt die zweite Parteikonferenz der SED. Sie fand vom 9. bis 12. Juli 1952 in der Werner-Seelenbinder-Halle in Ostberlin mit über viertausend Teilnehmern statt. Dort hielt Walter Ulbricht eine sechsstündige Grundsatzrede und erreichte damit fast die Länge späterer Auftritte Fidel Castros. „Planmäßiger Aufbau des Sozialismus“ war sein zentraler Begriff, der das Ende der antifaschistisch-demokratischen Übergangsperiode einläuten sollte. Eine längst praktizierte Politik wurde nun offen als solche benannt. Auch die Wiedervereinigung Deutschlands sei nur unter sozialistischem Vorzeichen vorstellbar. Ein Teil der Delegierten reagierte begeistert, Pieck und Grotewohl rückten spätestens jetzt in den Schatten Ulbrichts. Einschneidende praktische Maßnahmen, wie etwa die Priorisierung der Schwerindustrie gegenüber dem Verbrauchsgütersektor, wurden nicht von Regierungsvertretern, sondern vom Chef der SED verkündet. Ein Parteisoldat aus Angermünde fasste seine Begeisterung in Worte: „Jetzt haben wir endlich die Diktatur des Proletariats. Wer jetzt nicht mitmacht, wird kurzerhand umgelegt. Auf den Tag habe ich schon lange gewartet“ (S. 297). Menschen, die diese Begeisterung nicht teilen konnten, wurden von blanker Angst erfasst, weil sie die Folgen fürchteten.
Verhaftungswelle im Ostblock
Am 24. November 1952 wurde der bereits im November 1951 verhaftete ehemalige Generalsekretär der tschechoslowakischen KPTsch, Rudolf Slánský, mit zehn anderen ranghohen tschechoslowakischen KP-Funktionären zum Tode verurteilt. Slansky und zahlreiche seiner Mitstreiter stammten aus jüdischen, assimilierten Familien. Ihnen wurde „zionistisches und trotzkistisches Verschwörertum“ vorgehalten. Eine Welle der Verfolgung, die sich gegen sogenannte Abweichler*innen und jüdische Kommunist*innen richtete, rollte über den gesamten Ostblock und erfasste auch die DDR. „Die Feinde tarnen sich mit dem Parteibuch“, war vorwurfsvoll in einem ZK-Beschluss zu lesen. Mit Franz Dahlem und Paul Merker traf es zwei langjährige (nicht-jüdische) Weggefährten Ulbrichts, die beide Westemigranten waren und die beschuldigt wurden, „zionistische Agenten“ zu sein. Auch nichtkommunistische Juden und Jüdinnen in der DDR sahen sich in Gefahr.
Paul Merker wurde verhaftet, unter absurden Vorwürfen verurteilt, inhaftiert und nach einigen Jahren wieder rehabilitiert. Er blieb Kommunist, betrachtete Ulbricht als Hauptverantwortlichen für die antisemitische Kampagne der DDR und erwartete Genugtuung. Ulbricht war umgekehrt stolz darauf, das Schlimmste verhindert zu haben und ließ das seinen alten Kampfgefährten wissen. 1969, kurz vor Merkers Tod, bedachte er ihn noch mit dem Vaterländischen Verdienstorden in Gold. Von der SED postum gewürdigt wurde Paul Merker dann 1975 – mit einer Sonderbriefmarke.
Franz Dahlem, der in der Hierarchie der Beschuldigten hinter Merker stand, wurde 1953 als „Zionist“ aus dem ZK der SED ausgeschlossen und von allen Partei- und Staatsfunktionen entbunden. Er fand später heraus, dass Ulbricht dabei eine entscheidende Rolle spielte. Dahlem war zwar kein unmittelbarer Anwärter auf dessen Nachfolge, aber das politische Ausschalten des Rivalen spielte Ulbricht in der Sicherung seines Machtgefüges in die Hände. Allerdings hing dessen Machtstellung weniger von deutschen Konkurrenten ab, sondern von der Deutschlandpolitik Moskaus. Wie es um das Vertrauensverhältnis zur Bevölkerung stand, zeigt eine Entscheidung vom September 1952. Direktoren größerer Betriebe und LPG-Vorsitzende erhielten „personengebundene“ Waffen, SED-Funktionäre bis zur Kreisebene ebenfalls. Walter Ulbricht war, wie Wilhelm Pieck, schon seit Jahrzehnten Waffenträger (S. 213).
Im Jahrzehnt vor dem Mauerbau entwickelten sich zwei einschneidende Krisen, welche die Existenz der DDR und damit auch die Machtstellung Ulbrichts ernsthaft bedrohten. Beide hatten entscheidende innenpolitische Bedeutung, waren aber direkt mit historischen Krisen und Umbrüchen viel größeren Ausmaßes verknüpft. Kowalczuk gibt in den Einschüben der Biografie der Verbindung und den Verflechtungen dieser Ebenen großen Raum und macht so den Blick auf die Motive der handelnden Akteure frei.
Stalins Tod
Stalins unerwarteter Tod im März 1953 ließ den Kult um seine Person noch einmal in ungeheure Höhen schießen. Auf der Ebene politischer Realitäten brachte er eine ungeheure Verunsicherung für jeden von Moskau abhängigen Staatsführer der Blockstaaten. Wer würde das Machtvakuum in der Zentrale des Weltkommunismus ausfüllen? Auf wen sollte man setzen, und welche neuen Weichenstellungen waren zu erwarten? Bereits die Reihung der Ehrenwache am Sarg des Führers aller Völker und die Anordnung der Sargträger konnten hier wertvolle Hinweise geben. An der SED-Basis herrschte Ratlosigkeit, Verzweiflung und Trauer. Es gab aber auch ganz eigene Reaktionen. Wenn ein Ostberliner Pfarrer in seiner Sonntagspredigt über das Sterben sprach, vom Sterben der Teufel, besonders vom Sterben des Obersten aller Teufel, drückte er eine verbreitete Stimmung aus. Er musste Stalin nicht namentlich erwähnen, um verständlich zu sein und sich in erhebliche Gefahr zu begeben (S. 315).
Ulbricht trauerte und vergoss Tränen, wenn man den Berichten der Zeitzeug*innen glauben kann. Die Tränen trockneten schnell, denn er musste sich entscheiden, auf welche Karte er setzen wollte. Wer aus dem halben Dutzend der Stalin am engsten Umringenden würde der neue Führer sein? Konnte man dem Raunen von einer möglichen kollektiven Führung Gewicht geben? Zu den am höchsten gehandelten Thronprätendenten zählte der für seine Brutalität und Bestialität als NKWD-Chef berüchtigte Lawrentij Berija, der kurz nach Stalins Tod zum Innenminister aufrückte und aus dieser Funktion heraus seine Konkurrenten ins Visier nahm.
Kowalczuk setzt sich gründlich mit der unter deutschen Historikern (zum Beispiel von Wilfried Loth) lange propagierten These auseinander, ausgerechnet Berija habe einen neutralen Status der DDR angestrebt. Er kommt zu dem Schluss, dass sich das nicht verifizieren lässt und wohl eher das Produkt geheimdienstlicher Desinformationsstrategien sei. Stalin selbst und seine Nachfolger waren nie ernsthaft bereit, den strategischen Vorposten DDR aufzugeben und betrachteten die Befürworter einer deutschen Neutralität auf westlicher Seite eher als „nützliche Idioten“. Paradoxerweise rettete der Aufstand des 17. Juni 1953 Ulbrichts Macht und Herrschaft. Wieder fiel darüber die Entscheidung in Moskau.
Die mit Normerhöhungen und Verschlechterung der Lebensbedingungen verbundene politische und ökonomische Linie nach der Zweiten Parteikonferenz hatte so viel Unmut angestaut, der Tod Stalins so viele Hoffnungen in der Bevölkerung geweckt, dass der Volksaufstand vom 17. Juni das noch im Aufbau befindliche Zwangssystem der DDR in seinen Grundfesten erschütterte. Das dem 17. Juni vorangehende Beben in der DDR blieb in Moskau nicht unbemerkt, und Anfang Juni wurde die gesamte DDR-Führung in den Kreml zitiert. Ulbricht wurde als Hauptverantwortlicher für die Unruhen benannt, übte ausgiebig Selbstkritik und sollte überstürzt eine Kurskorrektur, den „Neuen Kurs“ anordnen.
Diesen Moment nutzten zwei seiner gefährlichsten Konkurrenten aus, um die Machtfrage zu stellen. Rudolf Herrnstadt, der Chefredakteur des Neuen Deutschland, war einer der begabtesten Parteiintellektuellen, langjähriger Mitarbeiter des sowjetischen Militärgeheimdienstes (GRU) und also bestens mit Moskau vernetzt. Sein Bündnispartner war Wilhelm Zaisser, Spanienkämpfer und als „General Gomez“ Held des antifaschistischen Widerstandes. Anders als Erich Mielke, der ihm einige Jahre später nachfolgen sollte, war er Ulbricht nicht sklavisch ergeben und konnte die Situation nutzen, dass in den Anfangsjahren der DDR die Staatsicherheit noch direkt aus Moskau dirigiert wurde und nicht dem Zugriff Ulbrichts unterlag.
Für einen Moment lang schien Ulbrichts Stunde geschlagen zu haben. Aber er trat die Flucht nach vorn an, ließ seine eigenen Drähte nach Moskau spielen und erkannte das Gewitter, das sich um Berija zusammenzog. Der Geheimdienstchef und eine Reihe seiner Mitarbeiter aus dem Sicherheitsapparat wurden Ende Juni 1953 von seinen Mitkonkurrenten, darunter Nikita Chruschtschow, aus dem Weg geräumt. Ulbricht drehte den Spieß um, bezichtigte Herrnstadt und Zaisser der Verbindung zu Berija, also eines Aufstandes der Staatssicherheit gegen die Partei, und übte weiter Selbstkritik, aber präsentierte sich als einziger Garant der Stabilität nach den Wirren des Aufstandes. Er kam mit einem blauen Auge davon, konnte seine Rache an Herrnstadt und Zaisser aber nicht voll ausspielen, die es sonst härter getroffen hätte.
Beide wurden aus der Partei ausgeschlossen, die härteste Strafe für einen gläubigen Kommunisten. Zaisser wurde Pensionär und Herrnstadt in das Staatsarchiv in Merseburg abgeschoben, an dessen Spitze einer seiner politischen Intimfeinde saß. Beide erwarteten bis zu ihrem Tod (Zaisser 1958, Herrnstadt 1966) eine Rehabilitierung, die ihnen jedoch verweigert wurde. Beide starben verzweifelt und verbittert. Hilfe aus Moskau, auf die beide hofften, bekamen sie nicht. Sie wurden weitgehend aus dem öffentlichen Gedächtnis getilgt, Wilhelm Zaisser sogar aus der Ahnentafel der Helden des Spanischen Bürgerkrieges. Kowalczuk kann hier sämtliche später gesponnenen Legenden über einen friedlichen und versöhnten Lebensabend der beiden Abtrünnigen im Detail widerlegen.
An der Person Rudolf Herrnstadt wird deutlich, welche offenen Fragen sich weiter nach dessen jahrzehntelanger Agententätigkeit für den sowjetischen Militärgeheimdienst (GRU) stellen, die ihn auch in das Polen der Dreißigerjahre führte. Dort war er offiziell als deutscher Journalist akkreditiert. Wie viel Ulbricht von diesem Teil der Herrnstadt-Biografie wusste, bleibt offen. Ulbricht nutzte seine eigenen Drähte in die Moskauer Machtzentrale und setzte sich durch. Seine Abhängigkeit vom „Großen Bruder“ blieb erhalten, aber er war dabei, sich zunehmend eigene Freiräume zu erobern. Deutschlandpolitisch waren die Weichen gestellt. Die Sowjetunion lehnte unter der Führung von Nikita Chruschtschow eine Wiedervereinigung Deutschlands unter freien Wahlen ab. Adenauer wählte den Weg der Westbindung und setzte sich damit gegen alle Neutralisten durch.
Für Ulbricht sollte erst die nächste große innere Krise der Jahre 1956/57 noch einmal zur entscheidenden Gefahr werden. Auch diese, oft ausschließlich als innerparteiliche Fraktionskämpfe gedeutete Krise hatte ihren internationalen Kontext. Das Jahr 1956 war für den Ostblock durch den XX. Parteitag der KPdSU mit der Geheimrede Nikita Chruschtschows und deren Auswirkungen bestimmt. In diese Monate fielen aber auch die Suez-Krise, der ungarische Aufstand und die im letzten Moment abgewendete Intervention Moskaus in das aufbegehrende Polen. All das schlug auf die Situation in der DDR durch. Ulbricht war dafür, den Inhalt der Geheimrede, der für ihn nicht die geringste Überraschung bereiten konnte, an die Parteibasis weiterzugeben. Eine Kommission würde/sollte dann die Inhaftierten überprüfen. Auf einer ZK-Sitzung im März 1956 erklärte er: „Bitte schön, sollen sie draußen verfaulen. Warum müssen sie bei uns im Gefängnis verfaulen?“ Auf den Klassenkampf würde man nicht verzichten: „Das machen wir ein bisschen ruhiger vielleicht“ (S. 387). Bis zum Herbst 1956 kamen rund 21.000 politische Gefangene frei.
Für die große Öffentlichkeit hätte Ulbricht solch eine Tonlage nie gewählt, hier zeigte er sich demonstrativ landesväterlich. Den Blick auf die immer weiter auseinanderklaffenden Seiten des Diktators legt die Fleißarbeit Kowalczuks vorzüglich frei. Er wühlt sich durch alle zugänglichen Sitzungsprotokolle, vergleicht die höchst unterschiedlichen Erinnerungen und Berichte von Zeitzeugen. Es waren nicht die freigelassenen Häftlinge, die häufig schon gebrochen waren oder schnellstmöglich den Weg in den Westen suchten, sondern die bis dato gläubigen, systemtreuen Intellektuellen, die auf ein wirkliches „Tauwetter“ hofften, wie sie es vor allem in Polen vor Augen hatten. Der Rede Chruschtschows lag ein Kommissionsbericht zugrunde, von dessen Inhalt nur ein minimaler Teil in die Geheimrede einfloss. Der künftige starke Mann Moskaus konzentrierte sich auf die Untaten Stalins und sprach vor allem über die Minderheit der kommunistischen Opfer. Aber eines war klar: Der Mythos um Stalin war für die Geschichte gestorben.
Keine langlebige Opposition
Die Akteure der zweiten Oppositionswelle in der DDR waren zum einen Partei-Intellektuelle und Künstler, welche unter dem Einfluss des polnischen Tauwetters vorsichtige Lockerungen und Reformen für die DDR vorschlugen. An ihrer Spitze standen mit Karl Schirdewan und dem Staatssicherheitschef Ernst Wollweber zwei hochrangige SED-Funktionäre, die Ulbricht aus verschiedenen Gründen vehement ablehnten. Sie strebten eine Veränderung des Kurses an und setzten auf seine Abberufung.
Das Aufbegehren der Intellektuellen um Wolfgang Harich und Walter Janka fiel schnell in sich zusammen. Gegen beide gab es Schauprozesse, bei denen prominente Künstler auf die Zuschauerbank gezwungen wurden, um aller Selbstkritik und Erniedrigung der Anklagen beizuwohnen und dem Geschehen zu applaudieren. Im Februar 1958 konnte sich Ulbricht dann seiner letzten bedeutenden Kontrahenten entledigen. Karl Schirdewan, Ernst Wollweber und der Chefökonom Fred Oelßner, der es gewagt hatte, Ulbrichts Wirtschaftspolitik zu kritisieren, verloren alle ihre Ämter. Da sie ausreichend Selbstkritik übten, durften sie jedoch Mitglieder der Partei bleiben. An den Anklagen und Vorwürfen gegen die Gemaßregelten beteiligten sich auch die Opfer vorangegangener Kampagnen. Franz Dahlem unterwarf sich Ulbricht in demütigender Weise. Die Anklagerede hielt Erich Honecker, der damit noch näher an seinen Ziehvater heranrückte und es ihm später danken sollte. Für Wollweber rückte Erich Mielke in die alleinige Spitzenposition beim Ministerium für Staatssicherheit (MfS) ein, was auch hier Ulbrichts Machtposition zementierte.
Ab 1958 unangefochten
Im unmittelbaren Vorfeld der erwähnten Februarereignisse von 1958 stand der Freitod von Gerhart Ziller, einem der wichtigsten wirtschaftspolitischen Funktionäre der SED. Als Mitglied der KPD stand er im illegalen Kampf und überlebte als KZ-Häftling. Zum Ingenieur qualifiziert, füllte er nach 1945 Schlüsselpositionen in der Wirtschaft aus. Seit 1953 war er im ZK-Apparat als Sekretär für Wirtschaft zuständig. Immer wieder mit den selbstherrlichen Entscheidungen und Eingriffen Ulbrichts in Wirtschaftsfragen konfrontiert, sah er die Chance, sich auf dem bevorstehenden 35. ZK-Plenum offen hinter Schirdewan und Wollweber zu stellen. Ihm schwebte eine kollektive Führung vor, in der wirtschaftliche Rationalität ihren Stellenwert bekommen konnte. Sein Vorhaben besprach er im Dezember 1957 in einer scheinbar vertrauten Runde.
Der Spitzelbericht zu diesen Gesprächen landete neben anderen Informationen schnell auf Ulbrichts Schreibtisch. Der sah die Chance für den Gegenangriff und berief für den 13. Dezember 1957 eine außerordentliche Sitzung des Politbüros ein. Ziller sollte sich bekennen. Stundenlange Befragungen und die Vorahnung, was noch folgen könne, ließen ihn in der Nacht zur Dienstpistole greifen. Am frühen Morgen fand seine Frau den Toten in ihrer Dienstvilla am Majakowskiring. Ein Brief, den er hinterließ, war an sie gerichtet und der zweite an Otto Grotewohl, den er als seinen Freund wähnte. Darin formulierte er Kritik, gab aber letztlich sich selbst die Schuld für alles und bat die Genossen um Verzeihung, dass er ihre Reihen verließ. Grotewohl übergab den Brief Ulbricht, der ihn in der eilends einberufenen Politbürositzung verlas und mit der Bemerkung quittierte: „Dann übergeben wir den Brief dem Archiv.“
Was auch immer dabei in Ulbricht vorging, er nutzte den offiziell als „Anfall von Depression“ etikettierten Tod Zillers für die finale Abrechnung mit Schirdewan, Wollweber und ihren Unterstützern. Aber sie waren zu prominent, um abgeurteilt zu werden. Stattdessen wurden sie vom MfS isoliert und überwacht. Einen Teil ihrer Anhänger, wie den aus der Bundesrepublik rückentführten Heinz Brandt und Karl Raddatz, traf es weit härter. Sie erhielten noch 1962 hohe Haftstrafen. Diese Folgegeschichte und die eigenen vorliegenden Erinnerungen sind nach Kowalczuk nur unzureichend verarbeitet. Die intensive Auseinandersetzung mit Ulbricht führt ihn immer wieder zu Lücken der bisherigen Geschichtsschreibung der DDR, auf die er hinweist.
Im Juni 1958 stand der 65. Geburtstag Walter Ulbrichts an, er konnte sich nun als unangefochtener Alleinherrscher betrachten. Was bedeutete das für ihn? Das diktatorische Regime war ihm in Fleisch und Blut übergegangen, aber er wollte nicht als harter, unmenschlicher Tyrann in die Geschichte eingehen. Die Menschen des ihm zugewachsenen Teil Deutschlands zu besseren Lebensbedingungen und Wohlstand zu führen, sie zu fleißigen, anständigen „sozialistischen Menschen zu formen“, im Sinne der kommunistischen Moral: Dieses propagandistische Ideal stand ihm als Zukunftsziel vor Augen.
Der Traum, zum Schaufenster des Sozialismus zu werden
Walter Ulbrichts Traum schien es zu sein, im Stil eines Landesvaters und als ein deutscher Patriot mit anzustrebender überlegener „Lebensqualität Ost“ die Bewohner und Politiker im anderen Teil Deutschlands für einen Zusammenschluss zu gewinnen, der auf einen gemeinsamen Pfad zum Sozialismus führen sollte. Mit ihm an der Spitze und nicht nur als Statthalter Moskaus. Dafür war er bereit, intern wieder und wieder Klage- und Bettelbriefe an die Adresse Nikita Chruschtschows zu senden und um erhöhte Rohstofflieferungen und Devisenkredite zu erbitten.
Als Sachsen stand ihm die traditionelle Wirtschaftskraft der industriellen Zentren in Mitteldeutschland vor Augen, wusste er doch um die einschneidende Wirkung der massenhaften Demontagen und anhaltenden Reparationsleistungen, über die Kriegszerstörungen hinaus. Jetzt sollte die DDR zum glänzenden Schaufenster für die Bevölkerung der Bundesrepublik werden. Den Ankündigungen folgte eine sozialpolitische Offensive, die sich auf die Verbesserung des Konsumangebots und der Lebensbedingungen richtete und nicht ohne Folgen blieb. Ermöglicht wurden diese Maßnahmen zum Teil durch Produktivitätsfortschritte, die nicht nur auf Propagandastatistiken beruhten. So sanken auch die Flüchtlingszahlen auf den niedrigsten Stand seit 1953, und es wuchs in Teilen der DDR-Bevölkerung, weit über die Parteigänger und Eliten hinaus, eine Haltung, die Kowalczuk als „loyale Distanz“ oder „missmutige Duldung“ beschreibt. Vielleicht waren dies die besten Jahre für Ulbricht; jedenfalls konnte er die Frage nach Sperrmaßnahmen gegen Westberlin noch einen Moment vor sich herschieben. Da sich die Westmächte jedoch dem Berlin-Ultimatum Chruschtschows vom November 1958 nicht beugten, das im Kern eine Art Hongkong-Modell für Westberlin vorsah, und die politische Anspannung stieg, schnellten 1960/61 die Flüchtlingszahlen wieder rasant in die Höhe.
Notbremse Mauerbau
Um sein ehrgeiziges Gesamtprojekt zu retten, entschloss sich Ulbricht, die Notbremse zu ziehen: den Mauerbau, zu dem er die Führung in Moskau überredete. Kowalczuk zeichnet eine ganze Reihe von Manövern und internen Gesprächen des Jahres 1961 nach, die von DDR-Seite alle das Drängen des führenden Diktators verdeutlichen. Schlussendlich, im August 1961, erhielt er endgültig grünes Licht. In der Öffentlichkeit prangerte er Menschenhandel, Schmuggel und das Unwesen der Grenzgänger an, dem Einhalt geboten werden müsse. Wer hier in welchem Moment an welcher Schraube der Entscheidung drehte, ob ein Nachgeben der Westmächte in der Frage des Status der Stadt anstelle des Mauerbaus eine andere Situation erbracht hätte – auch eine Besetzung Westberlins existierte als Planspiel –, ist unter Historikern umstritten. Auf jeden Fall lässt sich Ulbricht nicht auf die Rolle des Erbauers der Mauer reduzieren. Bei eigener wirtschaftlicher Überlegenheit hätte er sie wahrscheinlich auch wieder geöffnet. Aber so bleibt die Mauer seine folgenreichste Hinterlassenschaft, weshalb Ilko-Sascha Kowalczuk sein Buch auch „allen Maueropfern und allen, die unter der Mauer litten“ widmet (S. 6).
Detailreichtum, auch zum Thema Mauerbau. Ein Textausschnitt aus Kowalczuks Ulbricht-Biografie.
Eine geänderte Staatsstruktur
Mit dem Mauerbau trat die DDR in eine neue Phase ihrer Geschichte ein. Ein Jahr davor, nach dem Tod von Wilhelm Pieck im September 1960, wurde ihre Staatsarchitektur verändert. Am Machtmonopol der SED änderte sich nicht das Geringste. Statt des Präsidenten gab es jetzt aber einen Staatsratsvorsitzenden, der natürlich Walter Ulbricht hieß. Damit war er in Personalunion Chef der SED, des Staatsrates und des neugeschaffenen Nationalen Verteidigungsrates. Die jeweiligen Ministerpräsidenten waren wenig mehr als Erfüllungsgehilfen des in Ulbricht personifizierten Willens der Partei. Und Lotte Ulbricht bekam natürlich ein Büro am Sitz des Staatsrats.
In den folgenden Kapiteln der Biografie beschreibt Kowalczuk das Ringen Ulbrichts, mittels ökonomischer Reformexperimente doch noch Boden gut zu machen im Wettlauf der Systeme. Unter den ökonomischen Fachleuten, die hier tätig wurden, war Erich Apel einer der einflussreichsten. Er war zum Vorsitzenden der eigens geschaffenen „Staatlichen Plankommission“ aufgerückt und galt als Mitschöpfer des „Neuen Ökonomischen Systems der Planung und Leitung“ (NÖSPL). Höhere Eigenverantwortung der Betriebe und Kombinate, weniger Direktiven und vor allem eine Lockerung der Abhängigkeit von sowjetischen Vorgaben standen dafür. Mit diesen Absichten mussten Apel und Ulbricht, der ihn anfänglich deckte, auf harten Widerstand aus Moskau stoßen.
Für Erich Apel wiederholte sich das Drama um den Wirtschaftsfunktionär Gerhart Ziller rund ein Jahrzehnt zuvor. Bei den Verhandlungen über ein neues Handelsabkommen mit der Sowjetunion protestierte Apel nachhaltig, weil er die DDR hier diskriminiert sah. Der Druck der sowjetischen Seite auf Ulbricht wuchs, sich zunehmend von Apel zu distanzieren. Der Wirtschaftsfunktionär, der politisch völlig loyal war, sah sich im Stich gelassen und erschoss sich in seiner Verzweiflung an seinem Dienstschreibtisch. Auch über seinen Tod sollte der Mantel des Schweigens gebreitet werden. Noch einen anderen Trick holte Ulbricht aus der Tasche. Mit Hilfe kybernetischer Methoden sollten neue Technologien entwickelt und in sozialistischem Sinne eingesetzt werden, Rationalisierung und Automatisierung sollten die Planwirtschaft revolutionieren. „Überholen ohne einzuholen“ wurde 1969 Ulbrichts propagandistische Zauberformel dafür. Über der DDR der Sechzigerjahre lag ein aufgesetzter Optimismus, eine beklemmende Gemütlichkeit. Kowalczuk lässt viele Personen zu Wort kommen, die im Bau der Mauer geradezu eine Hoffnung, eine historische Atempause sahen für das Ziel des Einholens und Überflügelns des „Unterdrückungs- und Ausbeutersystems“ im kapitalistischen Westen der deutschen Heimat. Das Zerrbild Westdeutschlands (und des Westens überhaupt), welches die DDR-Propaganda unentwegt entwarf, nicht nur in Karl-Eduard von Interner Link: SchnitzlersSchwarzem Kanal, hatte sich tief in die Köpfe zahlreicher Menschen eingegraben. Dennoch platzte Ulbrichts Träumerei.
Ein intrigantes, unwürdiges Ende
Im Kapitel, das sich um die Entmachtung Ulbrichts in den Jahren 1970/71 dreht, schreibt Kowalczuk, dass dessen Ablösung im historischen Vergleich sanft über die Bühne gegangen sei. Weder sei er im Amt verstorben wie Stalin, noch wie Berija erschossen, noch wie Mátyás Rákosi ins sowjetische Exil gezwungen worden. Er behielt formell bis zu seinem Tod das höchste Staatsamt und blieb sogar Mitglied des Politbüros. Im Sommer 1969 hatten ihm die Ärzte nach eigener Angabe noch fünf Jahre für die weitere politische Arbeit prognostiziert. Er solle jedoch sein Arbeitspensum reduzieren und weiter so gesund wie möglich leben. Als im Juli 1970 Walter und Lotte Ulbricht zu einem Erholungsurlaub auf der Insel Vilm weilten, reiste sein Kronprinz Erich Honecker zu einer Geheimmission nach Moskau und traf dort Ende Juli Leonid Breschnew, der Nachfolger Nikita Chruschtschows geworden war. In der sowjetischen Führung hatte sich der Eindruck verdichtet, dass der alternde Ulbricht deutschlandpolitische Alleingänge riskieren wollte. Aus Breschnews Sicht waren der absolut gefügige Honecker und sein dogmatischer Gefährte Willi Stoph, längst interner Widerpart Ulbrichts (und KGB-Informant), die bessere Lösung. Honecker erhielt freie Hand, Ulbricht abzulösen (S. 684).
Es folgte ein monatelanges Hin und Her, denn Ulbricht blieb zäh. Anfang Dezember kamen die Unruhen in Polen dazwischen. Mit dem Argument, dass sich Erscheinungen von „Altersstarrsinn“ bei Ulbricht verschärften und der bevorstehende VIII. Parteitag im Juni 1971 eine personelle Neuaufstellung präsentieren müsse, sprach sich eine Mehrheit des Politbüros bei Breschnew für die endgültige Entmachtung Ulbrichts aus. Dieser stelle sich mittlerweile auf eine Stufe mit Marx, Engels und Lenin, und das könne nicht hingenommen werden.
Wenige Wochen vor dem VIII. Parteitag kam es im April und Mai 1971 zu Sitzungen der SED-Führungsgremien, bei denen das Rücktrittsgesuch Ulbrichts formuliert, ihm nachdrücklich nahegelegt und dann von ihm selbst vorgetragen wurde: „Die Jahre fordern ihr Recht…“ (S. 688). Das mit dem „Recht der Jahre“ mochte stimmen, aber die entscheidenden Gründe, ihn zum Rücktritt zu zwingen, waren vom Machtwillen Honeckers und seiner Anhänger bestimmt. Jahrelang hatten sie gebuckelt und waren zu Kreuze gekrochen, jetzt wollte sie es dem „geliebten“ Anführer heimzahlen.
Am VIII. Parteitag nahm Ulbricht nicht mehr teil. Er hatte in der Nacht zuvor einen Kreislaufkollaps erlitten, der sicher nicht nur seinem Alter geschuldet war. Als sich die Zusammenbrüche häuften, machte Lotte Ulbricht den langjährigen Leibarzt Arno Linke dafür verantwortlich. Der Arzt erlitt anschließend einen Herzinfarkt, während sich der Patient noch einmal erholte. Offiziell zum SED-Vorsitzenden und erneut zum Politbüromitglied gewählt, verbrachte Ulbricht seine letzten Lebensjahre vorwiegend in seiner Residenz im brandenburgischen Groß Dölln. Diese eigene Residenz hatte er sich bereits in den Sechzigerjahren ausgebaut und verbrachte viel Zeit dort. Um alle Amtsgeschäfte führen zu können –- auch wenn er physisch nicht zu allen Sitzungen kommen konnte –, gab es für die Aktentransporte aus Berlin und den Rücklauf der Materialien ein eigenes Kuriersystem sowie abhörsichere Telefonleitungen in die Zentren der Macht. Ulbricht wollte allgegenwärtig sein.
Von Groß Dölln aus, das er bis auf Kur- und Erholungsaufenthalte nicht mehr verließ, führte er in den immer selteneren halbwegs gesunden Phasen noch einen heftigen Kampf um seinen Ruf und die Wahrnehmung von Amtsgeschäften, die ihm verblieben waren. Dabei reihte sich Demütigung an Demütigung. Sein Biograf schildert diese Zeit ohne falsches Mitleid für den gestürzten Diktator, beschreibt minutiös die Manöver der zahlreichen Speichellecker und Karriereristen, die ihn jahrzehntelang hofierten und ihm zu Füßen lagen, jetzt aber in Honecker ihre Gottgestalt sahen. Ulbricht musste ohnmächtig mit ansehen, wie seine engsten Mitarbeiter und Getreuen von ihm entfernt wurden, musste um einen persönlichen Referenten betteln, bekam Reise- und Auftrittsverbote. Er musste erleben, wie alle ärztlichen Bulletins, die es über ihn gab, in den Führungszirkeln der SED kursierten, um seinen fortschreitenden Verfall zu dokumentieren. Realisten, besser: Zyniker, würden jetzt sagen, dass es einem Mann, der in seinem Leben zu so vielen Perfidien fähig war, nur recht geschah. Kann man eingefleischten Diktatoren wie Ulbricht ein weniger würdeloses Ende wünschen?, fragt sich Kowalczuk, lässt die Antwort aber offen.
Walter Ulbricht verstarb am 1. August 1973. Ob er seinen Wunsch an die Teilnehmer der Weltjugendfestspiele, die Veranstaltung nicht zu unterbrechen, noch selbst formulierte, bleibt eine offene Frage. Wer hatte die letzten Worte des Sterbenden vernommen und übermittelt? Wer hatte seinen Willen befolgt oder verfälscht? Erich Honecker und seine Mitverschworenen jedenfalls hielten Staatstrauer und Trauerzeremonie so knapp wie möglich. Auch Ulbrichts letztem Wunsch, auf dem Friedhof der Sozialisten direkt neben Wilhelm Pieck zu liegen, wurde nicht wirklich entsprochen. Zwischen Walter Ulbricht und Wilhelm Pieck liegt die Grabplatte von Otto Grotewohl.
Walter Ulbricht – Bedeutung und Wirkung
Die Antwort auf die Frage, warum eine Person wie Walter Ulbricht zu einem der bedeutendsten europäischen Staatsführer des 20. Jahrhunderts werden konnte, entwickelt der Historiker Kowalczuk in den beiden Bänden seiner monumentalen Biografie. Sie kann nicht in fünf oder sechs griffigen Sätzen festgehalten und gegeben werden. Jeder, der Antwort auf diese Frage sucht, muss sich zwangsläufig durch die beiden Bände seines Werkes bewegen. Darin wird er eine lehrreiche Zeitreise durch die deutsche Nachkriegsgeschichte durchleben, ein Leseabenteuer, das eine Menge detailreicher Hinweise zur Beantwortung dieser Frage ergibt.
Unter allen deutschen Kommunisten, die in der Gewaltherrschaft der Bolschewiki unter Lenin und in der späteren Sowjetunion ihre Träume auf ein ähnliches Herrschaftsmodell auf deutschem Boden erfüllt sahen, ragte Walter Ulbricht durch eine Reihe von Eigenschaften als zielbewusster und intriganter Machtmensch heraus. Eigenschaften, die ihn in den Zwanziger- und Dreißigerjahren des vergangenen Jahrhunderts an die Spitze der kommunistischen Partei gelangen ließen. Ein Platz, den er über alle Verfolgungswellen und die Abgründe des Zweiten Weltkrieges hinweg hielt und ausbaute und der ihn nach dem Krieg zum Führer des sowjetisch besetzten deutschen Teilstaates werden ließ. So wie er waren viele seiner Weggefährten bereit zu Verrat und Denunziation der eigenen Genossen, wenn es um den Platz in der hierarchisch organisierten Kaderpartei neuen Typs ging, um die Nähe zur Spitze der Machtpyramide.
Ulbrichts puritanischer Lebensstil, seine taktische Schläue, sein Organisationstalent, seine systematische Vorgehensweise, die unbeirrbar ein Fernziel vor Augen hatte, zeichneten ihn aus. Ein ideologisch-propagandistisches Fernziel, das in der Schaffung eines „neuen Menschen“ bestand, frei von den Schlacken und Unvollkommenheiten der bisherigen Klassengesellschaften. Daran glaubte er offenbar fest. Als Kommunist von Moskaus Gnaden musste er sich zunächst bedingungslos unterordnen, die eigene Gefolgschaft ordnen und zum Meister der Denunziation werden, um selbst zu überleben. In der SBZ an die Macht gelangt, baute er seine Fähigkeiten auf neuer Stufe aus. Jetzt ließ er denunzieren und setzte die fähigsten seiner Genossen, sozialdemokratische „Bündnispartner“ und zahllose für den Staats- und Gesellschaftsaufbau notwendige Frauen und Männer, dafür ein.
Wer nicht mitspielte, aus sachlicher Überzeugung oder naivem Glauben an andere Möglichkeiten, aus Integrität oder Gewissensgründen, schied aus. Er oder sie bezahlte im schlimmsten Fall mit dem Leben, mit dem Verlust des gewonnenen Platzes in der Hierarchie, wurde beiseitegeschoben und ins politische Abseits gedrängt. Mit gesicherter Machtfülle versehen und durch den Bau der Mauer noch ein Jahrzehnt geschützt, konnte der späte Ulbricht versuchen, die Statur des respektablen und international anerkannten Landesvaters einzunehmen. Dabei halfen ihm sein ausgeprägter Familiensinn und die Treue seiner Frau und Genossin. Für seine Untertanen, die ihm diese Rolle nicht abnahmen, aber das Theater in Grenzen mitspielten, ließ das System kleine Ecken und Nischen, in denen sie in Unfreiheit ihren wachsenden kleinbürgerlichen Wohlstand genießen durften.
So ist auch das Bild, das Ilko-Sascha Kowalczuk, ausgehend von der Prägekraft seines Helden, vom Leben im deutschen Arbeiter- und Bauernstaat zeichnet. Wer sich ein besseres, milderes Bild der DDR wünscht, wird es bei ihm nicht finden. Das macht auch den Wert der rund 2.000-seitigen Ulbricht-Biografie aus, die Maßstäbe setzt. So viele Seiten es auch sind, sie alle lohnen sich, gelesen zu werden.
Zitierweise: Wolfgang Templin, „Walter Ulbricht: Der ostdeutsche Diktator", in: Deutschland Archiv, 23.07.2024 Link: www.bpb.de/550668. Alle Beiträge im Deutschland Archiv sind Recherchen und Sichtweisen der jeweiligen Autoren und Autorinnen, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar. (hk)
Wolfgang Templin ist Philosoph und Publizist. Von 2010 bis 2013 leitete er das Büro der Heinrich Böll Stiftung in Warschau. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Fragen des deutsch-deutschen Vereinigungsprozesses und der Entwicklungen im östlichen Teil Europas, insbesondere in Polen und der Ukraine.
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