Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges wurden etwa 12 Millionen Menschen aus Osteuropa vertrieben. Nicht nur für zahllose Kriegsgeschädigte, sondern auch für die Flüchtlinge mussten Unterkünfte gefunden werden. In Bayern begegneten die amerikanischen Alliierten der Situation unter anderem damit, die Menschen auf Rüstungswerken der Wehrmacht unterzubringen.
Ein Beispiel ist der Stadtteil Neugablonz von Kaufbeuren im Allgäu. Dort wurde in der Schießpulver- und Munitionsfabrik eine sudetendeutsche Minderheit aus dem damals tschechoslowakischen Kreis Gablonz im Isergebirge angesiedelt.
Obwohl sogenannte Vertriebenensiedlungen gut erhalten sind, werden sie in denkmalpflegerischen Belangen bislang geringgeschätzt und stehen nicht unter Schutz. So heißt es in einer Bewertung zu Neugablonz, dass die Ästhetik der Gebäude aufgrund der standardisierten und intensiven Bautätigkeit der 1950er Jahre leide.
Mein Beitrag setzt daher in der unmittelbaren Nachkriegszeit nach 1945 an und stellt die Frage, ob die Zeit des Ankommens nicht doch wesentlich wichtiger und prägender für den Stadtteil in seiner Struktur und seinem Ortsbild ist als bisher angenommen. In diesem Zusammenhang werden wichtige Prozesse und Akteure beleuchtet, die maßgeblich Einfluss auf die Stadtteilentstehung und -entwicklung genommen haben. Darüber hinaus wird aufgedeckt, welche Spuren der Vertriebenengeschichte noch heute erfahrbar sind.
Ausgangssituation
Neugablonz liegt im Süden Bayerns und ist heute mit 14.000 Anwohnenden der größte Stadtteil von Kaufbeuren.
Ein Luftbild von Neugablonz, aufgenommen 2022. (© Open Street Maps, Bearbeitung: Monika Peters)
Ein Luftbild von Neugablonz, aufgenommen 2022. (© Open Street Maps, Bearbeitung: Monika Peters)
Bereits eine knappe topographische Analyse zeigt, dass sich Neugablonz mit seinem ovalen Grundriss und von einem Waldgürtel umschlossen von der Altstadt Kaufbeurens und den anderen Stadterweiterungen abhebt. Ein Grund ist die Ausgangssituation als Schießpulver- und Munitionsfabrik der Wehrmacht. Diese wurde zwischen 1935 und 1945 von der Dynamit-AG aufgebaut und betrieben. Sowohl Standort und Architektur wurden der Tarnung gegenüber Luftangriffen angepasst.
Daher wurde die Fabrik im nördlich gelegenen Wald errichtet. Darüber hinaus besaßen die Gebäude größtenteils überstehende, bepflanzte Dächer, damit sie aus der Luft nicht gesehen werden konnten. Das Gelände zeichnete sich durch ein eng verzweigtes Straßennetz im Nordosten und wenigen Verbindungen im Südwesten aus.
Stadtplanung
Die Vertriebenen bauten die Siedlung in viel Eigenregie und Eigenleistung auf. In Zeiten des Wiederaufbaus mag dies keine Besonderheit sein. Vor dem Hintergrund der Zwangsmigration ist die größtenteils selbstbestimmte Stadtteilgestaltung jedoch bemerkenswert. Da sich die Menschen trotz der Vertreibung bereits früh auf die Situation in der Fremde einließen, konnten sie nicht nur private Baumaßnahmen, sondern auch städtebauliche Planungen beeinflussen. Zum einen gründeten sie 1946, die Aufbau- und Siedlungsgesellschaft (ASG).
Auf diese Weise konnte Baumaterial beschaffen und die Grundlage für Diskussionen um verwaltungstechnische Belange verbessert werden.
Der Entwurf von Rudolf Günther aus dem Jahr 1947. Bearbeitung: Monika Peters (© Leutelt Gesellschaft / Aus: Günther Rudolf, Gablonz a.N., Neugablonz. Mensch und Industrie. Wirklichkeit und Planung, Schwäbisch Gmünd 1963, S. 77.)
Der Entwurf von Rudolf Günther aus dem Jahr 1947. Bearbeitung: Monika Peters (© Leutelt Gesellschaft / Aus: Günther Rudolf, Gablonz a.N., Neugablonz. Mensch und Industrie. Wirklichkeit und Planung, Schwäbisch Gmünd 1963, S. 77.)
Trotz der Not traten innerhalb der Planungen und Ausführungen nicht nur pragmatische, sondern überregionale, städtebauliche Ideen auf. In einem der ersten Stadtteilentwürfe, von denen einer von Rudolf Günther stammte, wird das besonders deutlich (Abb. 2). Eine der nachkriegszeitlichen Leitbilder war das Modell einer gegliederten, aber aufgelockerten Stadt von Johannes Göderitz, Roland Rainer und Hubert Hoffmann.
Laut Günther konnte der Entwurf nicht realisiert werden, weil größere Baumaßnahmen erst nach der Währungsreform 1948 möglich gewesen sind.
Obwohl die Umsetzung von Günthers Entwurf scheiterte, sind einige seiner Eigenschaften und die der städtebaulichen Leitbilder in einem frühen Parzellierungsplan
Ebenso lässt sich ein struktureller Bezug zwischen dem Modell, Günthers Entwurf und Neugablonz herstellen: Im Gegensatz zu dicht bebauten, historischen Stadtkernen mit zentraler Höhendominante - etwa durch einen Kirchturm -, sahen Göderitz, Reiner und Hoffmann eine lockere Bebauung vor, die zum Zentrum hin in ihrer Höhe moderat anstieg.
Stadtentwicklung
Baualtersplan von Neugablonz. (© Monika Peters, Karte im Hintergrund: OpenStreetMaps)
Baualtersplan von Neugablonz. (© Monika Peters, Karte im Hintergrund: OpenStreetMaps)
Welchen haptischen Einfluss die Phase zwischen 1945 und 1950 auf die Struktur und das Stadtbild hatte, zeigt ein Baualtersplan. Aus pragmatischen Gründen und aufgrund der Not übernahmen die Vertriebenen die Infrastrukturen der Munitionsfabrik: Der Waldgürtel, die Hauptstraßenachsen, das eng verzweigte Straßensystem im Nordosten und einige Gebäude belegen das Ansiedeln auf dem Wehrmachtsgelände.
Im Anschluss hat man sich an dem bestehenden System orientiert und größtenteils in Eigenleistung und geringer finanzieller Unterstützung angebaut. Aufgrund ihres Volumens und ihrer verzweigten Struktur ist diese Phase grundlegend für den Städtebau in Neugablonz. Etwa ein Drittel der heutigen Baufläche stammt aus dieser Zeit und wurde durch die ASG beplant. Aber auch für das Ortsbild ist diese Phase wegen der vielfältigen Bauweisen wichtig. Beispielsweise wurden Fabrikgebäude umgenutzt und sind dadurch erhalten.
Nach der Währungsreform 1948 begannen die Baumaßnahmen großer Bauträger, was sich in zahlreichen Reihensiedlungen und Zeilenbauten äußert. Ein vom Marshallplan finanziertes Beispiel ist die Siedlung am Rehgrund. Sie ist das Ergebnis des damals landesweiten ECA-Wettbewerbes aus dem Jahr 1952. Dieser entsprang einer Kooperation der amerikanischen Economic Cooperation Administration (ECA) und dem Bundesministerium für Wohnungsbau mit dem Ziel, Vorzeigeprojekte für effizienten Wohnungsbau zu kreieren. Innerhalb kurzer Zeit sollte mit wenig Mitteln auf etwa 50 m² Wohnraum entstehen. In Neugablonz wurden in diesem Zusammenhang Zeilenbauten unter anderem in Schlichtbauweise realisiert.
Die Reihenbauweise der 1950er Jahre ist ebenfalls in ihrem Volumen und ihrer Gestalt ortsbildprägend. Aufgrund ihrer Serialität hebt sie sich von den vielfältigen Baulösungen der unmittelbaren Nachkriegszeit ab. Gleichzeitig gingen einzelne Bautätigkeiten über die Sicherung der Grundbedürfnisse hinaus und waren ästhetischen Ansprüchen untergeordnet.
Die örtliche Berufsfachschule für Glas und Schmuck in Anlehnung an das Bauhausgebäude in Dessau. (© Monika Peters)
Die örtliche Berufsfachschule für Glas und Schmuck in Anlehnung an das Bauhausgebäude in Dessau. (© Monika Peters)
Beispielsweise wurde die Berufsfachschule für Glas und Schmuck (1956 geplant) am damals schon fortschrittlich geltenden Bauhausgebäude (1925-1926) in Dessau orientiert (Abb. 4). Sowohl die horizontale Gliederung der Fassade als auch die dreigliedrige Baukörperform kehren in Neugablonz wieder.
Spätere Bauphasen treten nicht so deutlich zu Tage, wie die von 1945-1949 und 1950-1959. Ein Grund mag sein, dass die Neubauflächen nicht so zusammenhängend angelegt werden konnten, wie die der Siedlungsanfänge. Nach den 1950er Jahren wurde die Waldfläche erschlossen und nachverdichtet, bis 1970 der heutige Umfang in etwa erreicht war. Erst in den letzten zehn Jahren wurde Bausubstanz der 1950er Jahre – etwa auf dem Gelände des ECA-Wettbewerbes – abgerissen und durch Neubauten ersetzt. Deren moderne, kubusförmige Baukörper stehen dabei im Kontrast zu den Zeilenbauten der Umgebung.
Anknüpfungspunkte an die Herkunftsregion
Obwohl eine Orientierung an die Herkunftsregion nicht vorgesehen war,
Neben den formalen Aspekten gibt es Anknüpfungspunkte in der Architektur. Im Zuge der Glaswarenproduktion entstanden im Isergebirge zahlreiche Glasdruckhütten mit Satteldächern und Dachreitern, die die Hitze ableiteten.
Die Herz-Jesu-Kirche in Gablonz, um 1930. (© Leutelt Gesellschaft / Aus: Günther Rudolf, Gablonz a.N., Neugablonz. Mensch und Industrie. Wirklichkeit und Planung, Schwäbisch Gmünd 1963, S. 49.)
Die Herz-Jesu-Kirche in Gablonz, um 1930. (© Leutelt Gesellschaft / Aus: Günther Rudolf, Gablonz a.N., Neugablonz. Mensch und Industrie. Wirklichkeit und Planung, Schwäbisch Gmünd 1963, S. 49.)
Darüber hinaus wurde folgende städtebauliche Situation imitiert. In der Stadt Gablonz stand seit 1930 zentral und auf dem höchsten Punkt die Herz-Jesu-Kirche. Ihr Vorplatz bestand aus einer Rasenfläche und dem Rüdiger-Brunnen von Franz Metzner (1904 angefertigt, 1931 aufgestellt). Die Figur galt als Wahrzeichen der Stadt.
Des Weiteren ist auch die Neugablonzer Kirche aufgrund ihrer Größe und Lage auf dem geographisch höchsten Punkt die Höhendominante des Stadtteils. Eine vollständige Nachbildung der städtebaulichen Situation war zu diesem Zeitpunkt nicht geplant. Daher wurden unterschiedliche Standorte in Erwägung gezogen, als sich Stadtteilbürgermeister Oswald Wondrak sowie Studienrat Rudolf Tamm für die Translozierung des Rüdiger-Brunnens einsetzten.
Die Herz-Jesu-Kirche in Neugablonz, 2022. (© Monika Peters)
Die Herz-Jesu-Kirche in Neugablonz, 2022. (© Monika Peters)
Der Platz vor der Kirche erzielte jedoch die beste Resonanz in der Bevölkerung, weshalb der Brunnen erneut dort installiert wurde.
Erinnerungskultur im öffentlichen Raum
Ebenso lassen sich über künstlerische Elemente im öffentlichen Raum weitere Bezüge zur Herkunftsregion Gablonz herstellen. Zum Beispiel thematisieren Sgraffiti an den Wohnhäusern der Bürgerstraße die Produktion und den weltweiten Warenvertrieb der Glasindustrie.
Dies geschieht zwar rein formal und nicht auf einer architektonischen Ebene, ist aber dennoch markant. Im Jahr 2022 wurden vom Gablonzer Siedlungswerk, dem Nachfolger der ASG, für das neu gebaute Iser-Quartier berühmte Gablonzer Persönlichkeiten als Hauspatrone gewählt. Zum Beispiel erinnern in einem Gebäude unterschiedliche Infotafeln an den aus dem Isergebirge stammenden Kinderbuchautor Ottfried Preußler.
Fazit
Trotz der schwierigen Bedingungen arrangierten sich die Menschen aus Gablonz früh mit der Situation in der Fremde, indem sie sich zu Verbänden zusammenschlossen und wichtige Ämter einnahmen. Aus diesem Grund konnten sie viele bedeutende Aspekte hinsichtlich Neugablonz Erscheinungsbild beeinflussen, was sie zum wichtigsten Akteur in der Entwicklung des Stadtteils macht. Entgegen eingangs erwähnter Annahmen wurden daher bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit zwischen 1945 und 1949 grundlegende Struktur und Ortsbild prägende Entscheidungen getroffen und umgesetzt. Zu Siedlungsbeginn waren die Planenden aufgrund der Not gezwungen, pragmatisch zu handeln. Auf diese Weise wurden Infrastrukturen und Gebäude der Schießpulver- und Munitionsfabrik übernommen.
Gleichzeitig zeigten die ersten Entwürfe aber auch den Wunsch nach einem städtebaulichen Ideal, welches trotz anfänglicher Umsetzungsschwierigkeiten heute erkennbar ist. Rückbezüge zur Herkunftsregion in formalen, architektonischen und städtebaulichen Belangen verleihen dem Stadtteil zudem einen sehr individuellen Charakter. Das alles macht Neugablonz heute zu einem spürbaren Ort der nachkriegszeitlichen Zwangsmigration und unterstreicht die Relevanz dieser neuen Siedlungsform für denkmalpflegerische Belange.
Zitierweise: Monika Peters, Orte des Ankommens (V), Vom Trümmergelände zur Vertriebenensiedlung. Die Entwicklungsgeschichte von Neugablonz und die Denkmalpflege, Deutschland Archiv, 09.09.2024, Link: www.bpb.de/550520. Der Beitrag ist Teil einer Serie "Orte des Ankommens", erstellt in Kooperation des Fachgebietes Städtebauliche Denkmalpflege und Urbanes Kulturerbe der Technischen Universität Berlin, dem Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung Erkner und der Stiftung Berliner Mauer 2023/24, herausgegeben von Stephanie Herold und Małgorzata Popiołek-Roßkamp. Anlass war eine Tagung zum 70. Jahrestag der Gründung des Externer Link: Berliner Notaufnahmelagers Marienfelde am 14. April 1953. Alle Beiträge im Deutschland Archiv sind Recherchen und Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar und dienen als Mosaikstein zur Erschließung von Zeitgeschichte. (hk)
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