„Das junge Stadt Allendorf im Bild“ – unter dieser harmlos klingenden Überschrift findet sich in einer Publikation über Stadtallendorf aus dem Jahr 1960 eine bemerkenswerte Bild-Chronik (siehe Titelfoto). Die umfangreiche Foto-Strecke mit einunddreißig Aufnahmen vermittelt in einer Art Zeitraffer die äußerst spannungsvolle Geschichte des Rüstungsaltstandortes in der Nähe von Marburg an der Lahn in Hessen.
Gegensätze der Nachkriegszeit
1938/39 hatte das Hitlerregime in einem großen Wald nahe Allendorf ein Sprengstoffwerk errichtet, das in der Literatur als das seinerzeit größte in Europa gilt. Nach 1945 zunächst Flüchtlingsbrennpunkt, wurde es ab 1950 zu einer Industriestadt umgebaut. In der ambitionierten Bild-Chronik von 1960 geben ganzseitige Abbildungen mit und ohne Bildunterschrift, mehr oder weniger plakativ kommentierte Bildgruppen und suggestive Vorher-Nachher-Gegenüberstellungen dem Betrachter einen politisch imprägnierten Eindruck von diesem „jungen Stadt Allendorf“ zwischen ländlicher Idylle und Industrialisierung vor und nach 1945.
Dem Aufwand dieser Bild-Erzählung entspricht die Bedeutung des Anlasses dieses Rückblicks in Wort und Bild. Die Dokumentation ist Teil einer Festschrift zum Gedenken an die Verleihung des Stadtrechts an die Gemeinde Allendorf im Oktober 1960. Damit gehören die Bild-Chronik und die sie begleitenden Textbeiträge in dem Band unfreiwillig auch in ein ganzes Genre von zusammenfassenden Retrospektiven, die Anfang der 1960er Jahre über die zurückliegende Nachkriegszeit der 1950er Jahre in der frühen Bundesrepublik entstehen. Es ist nur ein Zufall der Geschichte, dass die wohl tiefgreifendste dieser Bestandsaufnahmen – Adolf Arndts bekannte Rede über die „Demokratie als Bauherr“ – etwa zeitgleich und nur zwei Wochen vor der Stadtallendorfer Festschrift vom 1. Oktober 1960 am 15.September 1960 in Berlin gehalten wurde.
Der Vergleich zeigt jedoch eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und beispielhaft die starken Unterschiede in der Wahrnehmung dessen, was in den 1950er Jahren baulich und politisch erreicht oder nicht erreicht worden war. Als Identitätspolitik mit den Mitteln der Architektur – so die These der nachfolgenden Überlegungen - stellen besonders die Siedlungen und der Wohnungsbau in „Flüchtlingsstädten“ und „Vertriebenengemeinden“ wie Stadtallendorf und der nachträgliche Blick dieses Ortes auf seine Geschichte zu den zukunftsweisenden Gedanken über die „Demokratie als Bauherr“ einen kommentarwürdigen demokratietheoretischen Kontrast dar.
Symbolischer Fortschritt
Hauptstück der achtzehn Doppelseiten der Stadtallendorfer Bild-Chronik von 1960 ist gewiss jene Gegenüberstellung von fünf Fotografien, die den mittelalterlichen Ursprung von Allendorf mit dessen Gegenwart in Gestalt von Siedlungen der 1950er Jahre vergleichen.
Linker Hand sollen drei Aufnahmen von Fachwerkhäusern und verwinkelten Gassen einen Eindruck von dem alten Allendorf geben. Rechts davon zeigen zwei Luftbilder, was aus der Gemeinde Allendorf Stadt Allendorf werden ließ – moderne Siedlungen in ausgedehnter Blockrandbebauung mit großzügiger gartenähnlicher Umgebung entlang breit angelegter, wie mit dem Lineal gezogener Straßengeraden. Die Doppelseite erweckt zunächst den Anschein, als würde es sich damit um eine Vorher-Nachher-Darstellung handeln. Tatsächlich zeigt sie die Gleichzeitigkeit der Wohnverhältnisse in Allendorf, das als so genannter „Kernort“ noch heute so aussieht wie auf den Bildern von 1960 und der Bildunterschrift zufolge „schon vor acht Jahrhunderten … urkundlich erwähnt“ worden war. Details wie ein Werbe-Schild für die seit 1952 vertriebene „Bluna“-Limonade auf den Fotos des „alten Allendorf“ belegen, dass alle fünf Bilder sogar annähernd zur gleichen Zeit entstanden sind. Die Gegenüberstellung zeigt also nicht den Umbau, sondern den Ausbau, nicht die Veränderungen, sondern die Erweiterungen des Ortes seit 1950.
Dennoch oder gerade deswegen heischen die Bilder, eine homogene fortschrittliche und am Ende konfliktfreie Stadtgeschichte zu erzählen. „Ausgangspunkt der jungen Stadt war das ‚alte Allendorf“, heißt es in der Bildunterschrift links zu den Fachwerkbauten und rechts über die neuen Siedlungen:
„Die Harmonie zwischen Natur und neuzeitlicher Wohnkultur offenbaren diese beiden Luftaufnahmen besonders deutlich. In unserer überhasteten Zeit, im Lärm und Verkehr der Großstädte mutet Stadt Allendorf wie eine Oase der Ruhe an!“
Nur das buchstäblich Kleingedruckte lässt ahnen, dass Vergangenheit und Gegenwart nicht so reibungslos verliefen wie in dieser harmonisierenden Collage von Symbolbildern. „Das Verhältnis zwischen Alt- und Neubürgern ist ein gutes und viele Einwohner des Dorfes arbeiten in der Industrie“, beeilen sich die Redakteure in einer anderen Bildunterschrift auf dieser Doppelseite, den konflikthaften Gegensatz von historisch gewachsener dörflicher Struktur und aus dem Boden gestampften Neubausiedlungen als ein ausgeglichenes Miteinander von Alt und Neu, von Tradition und Fortschritt erscheinen zu lassen.
Als Fortschrittserzählung in Bildern gerieren sich auch die übrigen Fotografien dieser Bild-Chronik. Hätte sich von den zahlreichen, seit 1950 entstehenden kommunalpolitischen Schriften und soziologischen Untersuchungen über Stadtallendorf nur diese eine Bild-Zusammenstellung erhalten, würde deren Widersprüchlichkeit dennoch zu Fragen danach führen, ob man den schönen Bildern trauen kann und wie es „wirklich gewesen“ ist. So vermittelt sich bereits in der verschiedenartigen Größe der Aufnahmen eine problematische Symbolik, die mehr über diese Bild-Chronik aussagt, als deren Redakteuren lieb sein konnte.
Je jünger die Allendorfer Siedlungen und Gebäude sind, die hier gezeigt werden, desto größer werden die Fotografien. So wie in der Gegenüberstellung alter und neuer Siedlungen im Mittelalter und ab 1950, so schrumpft auch in der Doppelseite über die Zeit von 1933 bis 1950 wegen der Geschichtlichkeit der Aufnahmen deren Größe. Offenbar verbindet sich mit den Größenmaßen der Bilder eine Art politische Ikonologie darüber, wie nah oder fern, weit zurückliegend und damit überwunden oder gegenwärtig und damit unmittelbar präsent das von den Bildern Dargestellte jeweils ist.
Nur so ist zu erklären, dass 1960 vergleichsweise belanglose Einblicke in ein jüngst eröffnetes Restaurant oder einen eben übergebenen Kinosaal um ein Vielfaches größer abgedruckt werden als die bildlichen Erinnerungen an jene Zeit, die stadtgeschichtlich von elementarer Bedeutung für Stadtallendorf gewesen war und der daher in einer Bild-Chronik zur Stadtgeschichte auch mehr Platz hätte eingeräumt werden müssen. Stattdessen sind die Bilder über die NS-Zeit so klein, dass man sie beinahe übersieht. Besonders signifikant ist hierbei ein Fotodokument über Siedlungen außerhalb des mittelalterlichen „alten Allendorfs“ zwischen 1933 und 1945 in einem ansonsten unbebauten Terrain. Der Kontrast zwischen der Bedeutung dieser Siedlungen außerhalb des Kernortes schon vor 1945 und deren nur briefmarkengroßer Darstellung in der Bild-Chronik von 1960 verstärkt sich noch durch das Pathos der Bildunterschrift. „Barackenzeitalter auch in Allendorf. Tausende von in- und ausländischen Arbeitskräften prägten das Bild des Ortes“ ist neben der leicht unscharfen, indifferenten und politisch vollkommen ausdruckslosen Fotografie eines Barackenlagers zu lesen.
Mit den dörflichen Fachwerkhäusern, den Barackenlagern der NS-Zeit und den Wohnvierteln der Nachkriegszeit sind in der 1960 entstandenen Bild-Chronik von Stadtallendorf drei für den Ort prägende Siedlungsarten präsent. Besondere Sichtbarkeit im Wortsinn jedoch wurde nur jenen Gebäuden gewährt, die nach 1950 entstanden waren.
Dominant sind in dieser „Bild-Geschichte“ Stadtallendorfs aus Anlass der Verleihung der Stadtrechte an den Ort verständlicherweise jene Baulichkeiten, die das eigentlich Städtische repräsentieren und einen unmittelbaren Anteil daran haben, dass sich die Gemeinde Allendorf zu „Stadt Allendorf“ entfaltet hatte. Die Schaffung von Arbeitsplätzen durch Niederlassungen von Industrieunternehmen, das mit dem Wohnungsbau für die Arbeitskräfte des neuen Industriestandortes verbundene Wachstum des Ortes und die durch all das nötig und möglich gewordenen Kultur- und Konsumangebote sind die eigentliche Botschaft der Bilder dieser Festschrift zur Nobilitierung einer Gemeinde zur Stadt.
Moderne Dominanz
Umso größeres Interesse wecken in diesem Zusammenhang die Versuche, der Entwicklungsgeschichte des Ortes einen inneren historischen Sinn zu geben und den Erfolg mit einer gesellschaftspolitischen Logik zu erklären. Der Erinnerung an die Etappen der Besiedlung und des Wohnungsbaus in Stadtallendorf kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. In der Bild-Chronik von 1960 stoßen dabei zwei verschiedenartige Deutungen aufeinander. So vermittelt die Doppelseite über Dorf und Stadt eine Kontinuität der Stadtgeschichte im Sinne eines Ausbaus oder Wachstums des Kernortes vom Mittelalter bis 1960. Die Doppelseite mit den Fotografien über die Zeit von 1933 bis 1950 jedoch lässt die Geschichte von Stadtallendorf im Wald und auf unbebautem Terrain beginnen. In dem einen Fall wird eine Entwicklung suggeriert, die der Ort aus sich selbst heraus zustande gebracht hatte und die daher zutiefst in der Geschichte und den Traditionen des Ortes verwurzelt ist. Mit den Wäldern und den Baracken hingegen verbindet sich die Erzählung eines Ursprungs von Stadtallendorf, der ebenso traditionslos ist wie unpolitisch.
Scheinbar löst sich dieser Widerspruch unterschiedlicher stadtgeschichtlicher Narrative von Stadtallendorf durch die genaue Position jener Siedlungen, die in der Bild-Chronik von 1960 als Ausdruck der „Harmonie zwischen Natur und neuzeitlicher Wohnkultur“ gepriesen wurden. Tatsächlich erscheint der Wohnungsbau der 1950er Jahre in Stadtallendorf wie ein städtebauliches Bindeglied zwischen dem „alten“ Allendorf und dem im Wald gelegenen Industriegebiet, das einmal ein Sprengstoffwerk des Hitler-Regimes gewesen war. Zusammen mit den dreizehn Lagern und Siedlungen für die ca. 17.000-20.000 Zwangsarbeiter*innen des Sprengstoffwerkes, dessen Angestellte und Wachmannschaften war das Werk mit seinen verschiedenen Werksteilen auf etwa 1000 ha Grundfläche weit verteilt und verstreut. Wie in den meisten anderen der ca. dreißig Sprengstoffwerke und hunderten von Munitionsanstalten der NS-Rüstungsindustrie waren auch die Sprengstoffwerke Allendorf sehr weit von dem für sie namensgebenden Ort entfernt.
Von Belang für die Gründung dieser Werke war ohnehin nicht dieser Ort, sondern der in der Region befindliche weiträumige „Herrenwald“ zur Tarnung und reichhaltige Wasservorkommen. Die während des Kriegs faktisch von den umgebenden Orten unabhängig durch die zur IG Farben gehörigen Montan GmbH geführten Werke stellten nach Kriegsende einen gewaltigen, von politischen und ökologischen Altlasten stark kontaminierten Fremdkörper dar. Lediglich durch die Zwangslage des starken Wohnungsmangels nach 1945 infolge des massenhaften Zuzugs von Vertriebenen und Geflüchteten, die in den unzerstörten Bunkern, Fabrikhallen und Baracken eine Notunterkunft gefunden hatten, kam das ehemalige Sprengstoffwerk für die Siedlungspolitik der Nachkriegszeit überhaupt in Betracht.
Vom Werk zur Stadt
Die erste Etappe dieser Besiedlung des Werkes und seiner Konversion von Kriegswirtschaft zur Friedenswirtschaft waren Wohnbauten für Vertriebene durch eine dafür von den Vertriebenen bereits 1947 gegründete „Siedlungsgenossenschaft Herrenwald“. Der Name dieser Genossenschaft deutet auch den Ort dieser Siedlungen an. Sie waren in größerer Distanz vom Kernort Allendorf in der Nähe des Bahnhofs gelegen, zugleich aber auch weit entfernt von den eigentlichen Sprengstoff-Produktionsstätten an einer solchen Stelle des Werksgeländes errichtet worden, das unbebaut und daher noch fast vollständig bewaldet gewesen war.
Die Siedlungen der Vertriebenen im Herrenwald konnten daher in der historischen Wahrnehmung als Ausbau oder Erweiterung des Kernortes Allendorf und zugleich als voraussetzungsloser Neubau und Urbarmachung oder Erschließung unberührten Bodens erscheinen. Weil die „Herrenwald-Siedlung“ jene Vertriebenen aufnehmen sollte, die nach 1945 provisorisch in den ehemaligen Zwangsarbeiter*innen-Barackenlagern untergebracht waren, wurde durch diesen Umzug von den Lagern in die Massivbauten die Gegend am Bahnhof nach und nach zum neuen bevölkerungsreichen und daher auch kulturell ausgebauten Zentrum von Allendorf.
Staatliche Förderungen in Form von Wohnungsbauprogrammen seit 1950 und die Gründung einer „Aufbaugesellschaft“ 1954 mit der Aufgabe der wirtschaftspolitischen Lenkung industrieller Investitionen zur Schaffung von Arbeitsplätzen sind regionalpolitische Faktoren der erfolgreichen Ortsentwicklung, die 1960 zur Verleihung der Stadtrechte an Allendorf führte. Ohne die Rüstungsindustrie der NS-Zeit und die Zwangslage, wegen der Wohnungsnot der Geflüchteten und Vertriebenen auch im Grunde unbewohnbare Orte wie ein ehemaliges Sprengstoffwerk aus- und umzubauen, hätte es Stadtallendorf nicht geben können.
Doch trotz dieser äußerst nüchternen realpolitischen Sachverhalte finden sich in der Festschrift von 1960 aus Anlass der Nobilitierung des Dorfes zur Stadt unterschiedliche Deutungen der Entstehungsgeschichte von Stadt Allendorf. „Ausgangspunkt der jungen Stadt“ war nicht das „alte Allendorf“. Dass es dennoch in der Festschrift von 1960 kolportiert wurde, lenkt den Blick auf den Kontext und die Kontinuität von kultursoziologischen identitätspolitischen Überlegungen, die zugleich mit der Konversion in Allendorf über Allendorf ab 1950 einsetzen und als „Geist“ der Siedlungspolitik an dem Ort angesehen werden können.
Demokratische Lebensweise
„Bauherrin“ ist die Demokratie erst dann, wenn jegliche Art der architektonischen Uniformität verschwunden ist – auch und gerade jene des Identitären und der Identitätspolitik des Bauens. Für die kritische Auseinandersetzung mit Identitätspolitik sind Rückblicke auf die Siedlungen in so genannten „Flüchtlingsstädten“ oder „Vertriebenengemeinden“ in der frühen Bundesrepublik der 1950er Jahre eine hilfreiche Bild- und Ideengeschichte. Ein Rüstungsaltstandort wie das hessische Stadtallendorf, das nach 1945 im soziopolitischen Spannungsfeld von Einheimischen, Vertriebenen und ehemaligen Zwangsarbeiter*innen zur Industriestadt umgebaut wurde, ist für das Problem der Identitätspolitik durch Siedlungsbau in der frühen Bundesrepublik ein noch zu selten beachtetes Fallbeispiel.
Als Adolf Arndt in seiner weithin bekannten und sofort stark beachteten Rede über die „Demokratie als Bauherr“ 1960 das „Bauen politisch von den Prinzipien der Demokratie her“ ins Auge fasste und dabei den „Gesichtsverlust menschlichen Siedelns“ beklagte,1 setzte sich diese Kritik bekanntlich primär mit der Architektur der Moderne auseinander. Bauten von Werner Düttmann, Hugo Häring, Ludwig Mies van der Rohe, Hans Scharoun, Hans Schwippert oder Henry van de Velde bildeten den Hintergrund für Arndts Gedanken über Architektur in der Demokratie als „politische Lebensweise“, die „auf den mündigen Menschen angewiesen ist.“
Mit dieser demokratischen „politischen Lebensweise“ verband sich für Arndt nicht Homogenität und Volksgemeinschaft, sondern Divergenz, Vielfalt und die Pluralität der individuellen Selbstbestimmung. Bauen sollte dieser Pluralität entsprechen und die Mündigkeit fördern. „Die demokratische Aufgabe des Bauens ist es, dass ein jeder Mensch sich als Mensch für sich und Mensch im Gefüge gewahrt“. Diese „politische Lebensweise“ der demokratischen Einheit durch Differenz und Pluralität widersprach die alles politisierende „totalitäre“ Architektur in Diktaturen ebenso wie jene sich autonom gebärdende Baukunst, für die „die Form der Funktion zu folgen hatte“ und daher die Bewohner*innen als politische Subjekte außer Acht ließ.
Als Ermahnung aus dem Geist der Demokratietheorie gegen den NS-Klassizismus und gegen den Funktionalismus des Bauhauses war die Einlassung von 1960 über „Demokratie als Bauherr“ auch ein Rückblick auf die Nachkriegszeit und die 1950er Jahre. Als solcher hätte das Plädoyer für eine Baukunst der demokratischen „Veränderlichkeit“ und des „Offenseins“ der Demokratie jedoch auch eine Kritik an Siedlungen in den „Flüchtlingsstädten“ und den „Vertriebenengemeinden“ der frühen Bundesrepublik einschließen können.
Als Neubauten sind Siedlungen von Vertriebenen und Geflüchteten nach 1949 in der Bundesrepublik aus mehrfacher Hinsicht ein Faktor demokratischer Baukultur. Immer wieder erstaunt und befremdet jedoch, dass demokratische Pluralität auch an solchen Orten nicht zum Maßstab der Stadtentwicklung gemacht wurde, an denen aufgrund der Planungspolitik Menschen unterschiedlicher Herkunft aufeinandertrafen. Divergenz ist in diesen Fällen nicht als Chance, sondern als Bedrohung, Pluralität nicht als Perspektive, sondern als Krise wahrgenommen worden.
Identitätspolitik in Vertriebenengemeinden
Belege dafür sind Schriften, in denen Allendorf und seine Entwicklung seit 1950 als eine Art Experimentierfeld identitätspolitischer Kultursoziologie diskutiert worden war. Fraglich ist, in welchem Maße dieses identitäre Denken und die damit verbundene Architekturtheorie in die Entwicklungsplanung von Allendorf unmittelbar eingeflossen ist und zur Grundlage von städtebaulichen Entscheidungen wurde. Das ab 1956 erscheinende und die Leistung von Vertriebenen beim „Aufbau“ von Allendorf beinahe propagandistisch herausstreichende Stadtmagazin „Hallo Allendorf“ kann als Dokument für Architektur und Stadtentwicklung als Identitätspolitik angesehen werden.
Wiederkehrendes Argument dieser Identitätspolitik ist die Notwendigkeit innerer Harmonie und Zusammengehörigkeit der Bevölkerung, wenn das Zusammenleben an einem Ort und in einem Land gelingen soll. Stichworte dafür mochte die identitätspolitische Kultursoziologie am Beispiel Allendorfs in dem Band „Die Entstehung eines neuen Volkes aus Binnendeutschen und Ostvertriebenen“ von Eugen Lemberg und Lothar Krecker gegeben haben. „Völkerwanderungen unerhörten Ausmaßes vollziehen sich vor unseren Augen“, heißt es in der Einleitung zu dieser Veröffentlichung von 1950 über die Vertriebenen- und Flüchtendenströme der deutschen Nachkriegszeit. „Auf- und Untergang von Völkern, Verschmelzung von Stämmen, Neubildung volkstümlicher Traditionen geschieht täglich um uns und ist an Ort und Stelle zu beobachten“.
Für Allendorf tat das in diesem Band von 1950 Kurt Völk in einem Beitrag über „Allendorf, Kreis Marburg, ein neues Industriezentrum“. Dass die hier gesammelten Beobachtungen noch 1960 bei Gelegenheit der Verleihung der Stadtrechte an Allendorf nachgeklungen haben, mag ein Satz über die „Auswirkungen des Strukturwandels“ in dem Ort belegen. „Die Gemeinde Allendorf, wie sie seit 1945 besteht, bildet keine Dorfgemeinschaft im guten Sinne.“ In der Festschrift von 1960 wird dem mit der Versicherung, „das Verhältnis zwischen Alt- und Neubürgern“ sei „ein gutes“ widersprochen, als wäre der Einwand eben erst vorgetragen worden.
Noch deutlicher wird die identitätspolitische, die Homogenität der Bevölkerung als Grundlage gelingenden Zusammenlebens deklarierende Kultursoziologie in dem Sonderheft „Allendorf“ der von 1953-56 erscheinenden Zeitschrift Gemeinschaft und Politik. Die hier zu findenden Schlagworte über die „instinktlose moderne Massengesellschaft“ durch „in den Industrieraum eingeschleuste Arbeitermassen“ und die „Zerrissenheit der heutigen Lebenswelt“ hallen noch 1960 in der Festschrift zur Verleihung der Stadtrechte an Allendorf nach. Dass der hier veröffentlichten Bild-Chronik gemäß durch die Herrenwald-Siedlung in Stadtallendorf „Harmonie zwischen Natur und neuzeitlicher Wohnkultur bestünde“ und „in unserer überhasteten Zeit, im Lärm und Verkehr der Großstädte […] Stadt Allendorf wie eine Oase der Ruhe anmutet“, ist als identitätspolitische Adresse mehr als nur Modernekritik. Sie verschwindet erst durch die Modernisierung, die gerade der Industrialisierung zu verdanken ist. Erst durch das weitere Wachstum von Stadtallendorf als Industriestandort und die internationale Arbeitsmigration nach 1960 wird auch in Stadtallendorf die Demokratie Herrin im eigenen Haus.
Zitierweise: Jörg Probst, Orte des Ankommens (VI): Identitätspolitik als Architektur und Stadtentwicklung. Siedlungsbau nach 1945 im Rüstungsaltstandort Stadtallendorf, in: Deutschland Archiv, 17.07.2024, Link: www.bpb.de/550518. Der Beitrag ist Teil einer Serie "Orte des Ankommens", erstellt in Kooperation des Fachgebietes Städtebauliche Denkmalpflege und Urbanes Kulturerbe der Technischen Universität Berlin, dem Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung Erkner und der Stiftung Berliner Mauer 2023/24, herausgegeben von Stephanie Herold und Małgorzata Popiołek-Roßkamp. Anlass war eine Tagung zum 70. Jahrestag der Gründung des Externer Link: Berliner Notaufnahmelagers Marienfelde am 14. April 1953. Alle Beiträge im Deutschland Archiv sind Recherchen und Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar und dienen als Mosaikstein zur Erschließung von Zeitgeschichte. (hk)
Zu weiteren Beiträgen in dieser Serie über Interner Link: Orte des Ankommens nach 1945.