Zum 75. Jahrestag der Gründung von Bundesrepublik und DDR hat das Deutschland Archiv der bpb die Open-Air-Ausstellung „Gründungsgeschichten“ konzipiert, die seit Mai 2024 in Berlin und Bonn, später auch in Leipzig und Görlitz gezeigt wird. Eine mehrteilige Serie im Deutschland Archiv greift die wesentlichen Themen der Ausstellung auf und vertieft sie.
Die Aufgaben, mit denen sich die Besatzungsmächte in Deutschland nach dem 8. Mai 1945 konfrontiert sehen, sind kaum überschaubar: Nicht nur ist die Infrastruktur in vielen Teilen Deutschlands stark beschädigt und haben Millionen Menschen ihr Zuhause verloren. Zudem müssen möglichst rasch Verwaltungs- und Rechtsstrukturen aufgebaut werden, die das Zusammenleben der Menschen organisieren. Dies ist auch deshalb schwierig, weil viele der früheren Funktionsträger sich durch ihr Tun im Nationalsozialismus disqualifiziert haben. Angesichts des unfassbaren Ausmaßes der Verbrechen, so sind sich die Alliierten einig, müssen wenigstens die Hauptverantwortlichen für diese vor ein internationales Gericht gestellt werden. Grundzüge für den Umgang mit Deutschland sind auf den Konferenzen in Jalta und Teheran gesetzt worden. Auf der Potsdamer Konferenz im Juli und August 1945 bekräftigen die Regierungschefs der USA, der Sowjetunion und Großbritanniens ihre Absicht, Deutschland als Ausgangspunkt von Kriegsgefahr dauerhaft auszuschalten.
Recht bald wird klar, dass die politischen Vorstellungen der Sowjetunion auf der einen und der USA und Großbritannien auf der anderen Seite auseinanderdriften: Der Kalte Krieg zeichnet sich ab und beide Seiten versuchen, einen möglichst großen Teil Deutschlands nach ihren Vorstellungen zu gestalten. Einigkeit besteht weiterhin darin, dass Deutschland umfassend entnazifiziert werden muss – aber schon darüber, wie dies zu bewerkstelligen sei, herrscht Dissens. Wirtschafts- und sozialpolitisch entwickeln sich die
Sowjetische Besatzungszone (SBZ) und die westlichen Besatzungszonen auseinander. Zeitweise – am deutlichsten während der Berlin-Blockade von Juni 1948 bis Mai 1949 – spitzt sich der Konflikt sogar so dramatisch zu, dass die Gefahr einer Eskalation bis hin zu einem neuen Krieg besteht.
Die sowjetische Besatzungsmacht behauptet gemeinsam mit der von ihr protegierten Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), die Einheit Deutschlands wahren zu wollen. Die westdeutschen Politikerinnen und Politiker wollen hingegen in erster Linie eine handlungsfähige und länderübergreifende Verwaltung einrichten und sind bereit, diese (notgedrungen) zunächst auf den Machtbereich der westlichen Besatzungszonen zu begrenzen. Vor allem die von Konrad Adenauer geführte CDU ist sich sicher, dass die von der Sowjetunion angebotene Lösung – staatliche Einheit Deutschlands bei Wahrung der Neutralität (nach dem Vorbild Österreichs) – letztlich dazu führen würde, dass ganz Deutschland in den sowjetischen Machtbereich fallen würde.
Am 1. September 1948 findet im vom Krieg verschonten Lichthof des Bonner Naturkundemuseums Alexander König der Festakt zur Konstituierung des Parlamentarischen Rates statt. Zuvor hat im August ein Expertengremium auf Herrenchiemsee in Bayern einen Verfassungsentwurf als Verhandlungsbasis ausgearbeitet. 65 von den Länderparlamenten delegierte Politikerinnen und Politiker sollen in den kommenden Monaten eine Verfassung für den westlichen Teil Deutschlands entwickeln. Vor ihnen liegen Monate mit zähen Verhandlungen in einem nur rudimentär ausgestatteten Umfeld – es fehlt an Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, an einer wissenschaftlichen Bibliothek und an geeigneten Räumen –, immer wieder unterbrochen von aufwendigen Heimreisen in die abordnenden Länderparlamente, denn die Verfassungsarbeit erfolgt in Teilzeitarbeit.
Knapp drei Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges ist die Infrastruktur vielerorts weiterhin lückenhaft, Schienen- und Straßennetz sind schwer beschädigt, viele Brücken zertrümmert. Immerhin liegt Bonn verkehrsmäßig einigermaßen günstig, verfügt im Gegensatz zu anderen Städten über genügend intakte Unterkünfte und besitzt mit der Pädagogischen Akademie einen geeigneten Versammlungsort. Hier, am heutigen Platz der Vereinten Nationen, finden – von der Bonner Bevölkerung neugierig verfolgt – die öffentlichen Debatten über die Grundzüge der Verfassung statt. Hitzig wird etwa über das Für und Wider der Todesstrafe und über die Aufnahme des Paragrafen gestritten, der Asyl für alle politisch Verfolgten gewährt.
Kontinuitäten zu nationalsozialistisch geprägten Denkmustern werden in den Debatten mehrfach deutlich, etwa wenn es um Artikel 11 Grundgesetz – die Freizügigkeit – geht. So wird über Sinti und Roma im Parlamentarischen Rat gleichermaßen abwertend gesprochen wie in den zwölf Jahren des NS-Regimes. Am 8. Mai 1949 stimmen die Abgeordneten im großen Saal mehrheitlich für das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, das anschließend zur Ratifizierung an die elf Länderparlamente geht (Bayern, Hessen, Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Hamburg, Bremen, Schleswig-Holstein, Württemberg-Hohenzollern, Württemberg-Baden und Baden – aus den drei letztgenannten entsteht 1952 ein Bundesland). Am 23. Mai wird die Verfassung in Bonn von den Mitgliedern des Parlamentarischen Rates unterzeichnet. Schon in der Präambel wird der provisorische Charakter des Gesetzeswerks betont – schließlich gilt die Verfassung nur in den Grenzen der Bundesrepublik Deutschland, die aus der amerikanischen, der britischen und der französischen Besatzungszone hervorgeht. Gleich im ersten Artikel wird die Unverletzlichkeit der Menschenwürde festgehalten und als „Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“ beschrieben. In Artikel 23a ist ausdrücklich festgelegt, dass der Geltungsbereich auf andere Teile Deutschlands ausgedehnt werden könne. Das Saarland tritt dem Bundesgebiet am 1. Januar 1957 nach diesem Artikel bei. Und diesem Beispiel folgt am 3. Oktober 1990 auch die DDR.
Parallel zum Geschehen in Bonn ist die Bevölkerung in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) dazu aufgerufen, die Delegierten für den „Volkskongreß“ zu „wählen“. Auf den „Wahlzetteln“ für dieses Gremium steht: „Ich bin für die Einheit Deutschlands und einen gerechten Friedensvertrag. Ich stimme darum für die nachstehende Kandidatenliste zum Dritten Deutschen Volkskongreß.“ Die Abstimmung ist begleitet von der Propagandaparole „Deutsche an einen Tisch!“. Das Neue Deutschland macht konkrete Vorschläge dafür, wie Wahlveranstaltungen in Betrieben, Städten und Schulen aussehen sollen. In den westlichen Besatzungszonen dürfen die „Wahlzettel“ nicht verbreitet werden, Werbung für den Volkskongress haben die drei dortigen Besatzungsmächte untersagt. Aber auch in der SBZ sind die Ergebnisse angesichts der massiven Stimmungsmache enttäuschend – mehr als vier Millionen Menschen haben mit „Nein“ gestimmt. Nichtsdestotrotz betrachtet sich der III. Volkskongress als demokratisch legitimiertes Gremium. Über 2.000 Delegierte (610 aus den Westzonen) verabschieden am 30. Mai im Ost-Berliner Admiralspalast fast einstimmig einen Verfassungsentwurf und bestimmen den Zweiten Deutschen Volksrat: Dieser tritt am 7. Oktober 1949 im ehemaligen Reichsluftfahrtministerium, dem heutigen Finanzministerium, zusammen und formiert sich zur ersten Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik (DDR). In den kommenden Jahrzehnten werden die Menschen in der DDR bei den Volkskammerwahlen nur über geschlossene Listen abstimmen dürfen – freie, geheime Wahlen gehören zu den wichtigsten Forderungen auf den Demonstrationen am 17. Juni 1953 und während der friedlichen Revolution des Jahres 1989.
Am 19. Februar 1949 wird im schwäbischen Tübingen der Raubmörder Richard Schuh hingerichtet. Schuh hat ein Jahr zuvor einen Lkw-Fahrer erschossen, um dessen Fahrzeug zu stehlen. Beim Versuch, die Reifen zu verkaufen, ist er verhaftet worden. Das Gericht stellt bei dem jungen Mann eine besondere Gefühlskälte fest, die sich auch durch die Zeitumstände nicht erklären lasse. Die Hinrichtung ist deshalb bemerkenswert, weil weiter nördlich, in Bonn, zur gleichen Zeit über die Aufhebung der Todesstrafe verhandelt wird. Es ist insbesondere der aus Württemberg stammende Sozialdemokrat und spätere Bundesminister für Angelegenheiten des Bundesrates und der Länder im Kabinett Kiesinger Carlo Schmid (1896-1979), der sich – mit Blick auf die zahlreichen Todesurteile im Nationalsozialismus – für diesen Schritt stark macht. Bei der Abstimmung im Parlamentarischen Rat schließen sich indes zahlreiche Christdemokraten diesem Votum an, obschon die Fraktion als solche ihm ablehnend gegenübersteht.
Nach der Verabschiedung im Parlamentarischen Rat am 8. Mai sind nach Art. 102 Grundgesetz demnach in der Bundesrepublik keine Hinrichtungen mehr zulässig. Noch aber gilt dies nicht für West-Berlin: Dort wird am 11. Mai 1949 der 24-jährige Raubmörder Berthold Wehmeyer hingerichtet, nachdem die Proteste seines Rechtsanwalts abgewiesen worden sind. Erst am 1. September 1950 – mit der Verabschiedung der Verfassung von Berlin – sind alle Gesetze und Regelungen der Bundesrepublik auch für Berlin bindend. Bis Juni 1951 werden darüber hinaus von den alliierten Gerichten verhängte Todesurteile gegen NS-Kriegsverbrecher in der Bundesrepublik ausgeführt. Das Recht der Alliierten sah die Todesstrafe weiterhin vor, durch West-Berliner Gerichte konnte sie allerdings nicht mehr verhängt werden. Allerdings machten die West-Berliner Besatzungsmächte davon keinen Gebrauch. In der DDR werden bis in die 1980er-Jahre hinein Todesurteile ausgesprochen und vollstreckt – letztmalig am 26. Juni 1981. 1987 wird die Todesstrafe auch dort abgeschafft.
Von ganz anderem Format sind die Prozesse im Nürnberger Justizpalast: Seit Herbst 1945 stehen dort zunächst die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof und dann weitere hohe Funktionsträger des „Dritten Reichs“ vor einem amerikanischen Militärgericht. Insgesamt werden 806 Todesurteile verhängt und 486 Verurteilte hingerichtet. Seit 1947 läuft der „Wilhelmstraßenprozess“, benannt nach dem Sitz des Reichsaußenministeriums, dessen langjähriger Staatssekretär Ernst von Weizsäcker (1882-1951) zu den Angeklagten gehört. Mit ihm auf der Anklagebank sitzen hohe Beamte und NS-Funktionäre. Bei der Prozesseröffnung bezeichnen sich alle Angeklagten als „nicht schuldig“ oder behaupten gar: „Ich bin unschuldig.“ Das Gericht kommt im April 1949 zu einem anderen Urteil. Die Angeklagten werden zu Haftstrafen von bis zu 25 Jahren verurteilt. Ernst von Weizsäcker, dem unter anderem die Beteiligung an der Deportation von französischen Jüdinnen und Juden nach Auschwitz angelastet wird, erhält eine Strafe von sieben Jahren. Obschon die Verfahrenswiederaufnahme grundsätzlich nicht vorgesehen ist, werden die Urteile in diesem letzten Nürnberger Prozess revidiert. Weizsäckers Strafmaß wird auf fünf Jahre reduziert. Die deutsche Öffentlichkeit reagiert empört: Man ist sich sicher, dass dies „Siegerjustiz“ sei. Gerade von Weizsäcker werden seine Verbindungen zum deutschen Widerstand um Stauffenberg gutgeschrieben – er habe lediglich versucht, von seiner gehobenen Position aus Schlimmeres zu verhindern. Die Wochenzeitung Die Zeit schließt ihre Verteidigung mit den Worten: „Wer die Luft einer Diktatur nicht geatmet hat, wem das Klima des totalen Staates kein Begriff ist, der wird all dies schwer begreifen können.“
Sind sich Presse und Bevölkerung im Falle Weizsäckers weitgehend einig, so gehen die Meinungen in einem anderen Prozess weit auseinander. Der Regisseur Veit Harlan muss sich mehrfach vor dem Landgericht Hamburg verantworten. Vorgeworfen wird ihm seine Arbeit für das NS-Propagandaministerium, namentlich im Zusammenhang mit dem antisemitischen Hetzfilm „Jud Süß“. Harlan argumentiert, dass er sich dieser Aufgabe nicht habe entziehen können – eine Aussage, der vor Gericht von mehreren Regisseuren widersprochen wird. Doch auch wenn klar ist, dass „Jud Süß“ von den Nazis gezielt eingesetzt wurde, um die nichtjüdische Bevölkerung gegen Jüdinnen und Juden aufzuhetzen, kommt das Gericht zu dem Schluss, dass Harlan ein direkter Zusammenhang zwischen seinem Film und dem Völkermord an den Juden nicht nachzuweisen sei.
Der vorsitzende Richter Walter Tyrolf, der sich vor 1945 als Staatsanwalt beim NS-Sondergericht für zahlreiche Todesurteile eingesetzt hatte, erklärt gar, der Film selbst sei deutlich weniger antisemitisch als die für ihn verbreitete Werbung. Zeugen, die Harlan belasten, werden als nicht glaubwürdig hingestellt. Der Filmemacher wird freigesprochen und schon im Gericht von begeisterten Anhängerinnen und Anhängern gefeiert. Auch der Revisionsprozess, der wiederum am Hamburger Landgericht unter dem Vorsitz desselben Richters stattfindet, endet im April 1950 mit einem Freispruch. Veit Harlan, der auch für andere NS-Propagandafilme verantwortlich ist, von denen einige bis heute nur unter besonderen Bedingungen gezeigt werden dürfen, und der von seiner Nähe zum NS-Regime zweifellos profitiert hat, wird deswegen nie belangt.
Die alliierten Truppen befreiten bei ihrem Vormarsch in allen Teilen Deutschlands Konzentrationslager, in denen die Nationalsozialisten ihre Opfer zusammengepfercht hatten. Die Soldaten stießen auf Menschen, die nach oft jahrelanger Misshandlung kaum noch lebensfähig und dauerhaft traumatisiert waren. Viele dieser Überlebenden waren im Zuge des Vormarsches der deutschen Wehrmacht aus ihrer Heimat verschleppt worden, sie waren aus ihren Familien gerissen worden und wussten meist nicht, ob und wo sie noch überlebende Angehörige hatten. Als Anlaufstelle wird von der amerikanischen Besatzungsmacht schon 1946 eine Suchagentur ins Leben gerufen, aus der der ITS, der International Tracing Service, hervorgeht. Es sind überwiegend selbst KZ-Überlebende, die sich dieser Aufgabe im hessischen Arolsen widmen und aus NS-Archiven Informationen sammeln, um den Weg von Menschen durch den Verfolgungs- und Terrorapparat nachzuvollziehen. Im Laufe der Jahre kann so der Verbleib von Millionen Menschen geklärt werden, können viele Familien wieder zusammenfinden.
Hunderttausende „Displaced Persons“ (DP), KZ-Überlebende und Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter, leben ohne echte Bleibe in den vier Besatzungszonen und sind zum Überleben auf die Hilfe der Besatzungsmächte angewiesen. Ganz überwiegend wollen sie in ihre Heimatländer zurückkehren, in die USA oder nach Palästina auswandern. Hinzu kommen viele Jüdinnen und Juden, die nach ihrer Befreiung in Polen hatten leben wollen, dann aber vor gewalttätigen Pogromen geflüchtet sind. Bevor diese Menschen emigrieren können, leben sie zunächst in Deutschland – in Notunterkünften (teils in den gerade erst befreiten Konzentrationslagern), aber auch in von den Besatzungsmächten zu diesem Zweck requirierten Wohnungen und Häusern. Von den Anwohnerinnen und Anwohnern werden sie meist missgünstig, nicht selten auch feindselig betrachtet. Auf Kritik stößt vor allem, dass viele DPs Waren, die sie durch die bevorzugte Versorgung durch die Besatzungsmächte – insbesondere die USA – erhalten, auf dem Schwarzmarkt weiterverkaufen. Dass andere Bevölkerungsgruppen – wie etwa Landwirte oder Personen, die für die Alliierten arbeiten – in weit größerem Umfang Waren auf dem Schwarzmarkt feilbieten und Käuferinnen und Käufer deutlich übervorteilen, wird in der zeitgenössischen Wahrnehmung deutlich weniger negativ eingeordnet. Als ein Zentrum desillegalen Handels gilt die Möhlstraße in München: Auch nach der Währungsreform im Juni 1948 gibt es hier viele Händler, die Waren billiger anbieten als die Geschäftsleute in der näheren Umgebung. Dies sei, so behaupten die Neider, nur deshalb möglich, weil es sich um Hehlerware handele. Aufgrund der Klagen aus der Nachbarschaft sieht sich die Münchner Polizei angeblich zum Handeln gezwungen: Am 1. Juli 1949 sperren Hunderte Polizisten den Bereich um die Möhlstraße großräumig ab und durchsuchen zahlreiche Häuser und Wohnungen. Bemerkenswert sind weniger die Ergebnisse dieser Razzia als vielmehr die Brutalität, mit der die Beamten vorgehen. In den kommenden Wochen wird diese in der Presse diskutiert. In der Süddeutschen Zeitung (SZ) nimmt ein Leserbriefschreiber die Vorfälle zum Anlass für antisemitische Diffamierungen und behauptet, dass die Amerikaner es bereuen würden, dass die Nationalsozialisten nicht alle Juden umgebracht hätten. Die Redaktion der SZ versteckt sich hinter der geltenden Presse- und Meinungsfreiheit, die auch den Druck solch volksverhetzender Zeilen vorschreibe. Hunderte Menschen demonstrieren Anfang August 1949 gegen ihre Diffamierung und gegen die polizeilichen Übergriffe; die Polizei geht erneut mit völlig unangemessener Härte vor.
Eine andere Opfergruppe erfährt noch weniger Empathie seitens der deutschen Mehrheitsbevölkerung: die sogenannten Asozialen. Mitte März 1948 befasst sich der Konstanzer Südkurier mit einem Mann, der sechs Jahre im Konzentrationslager Buchenwald überlebt hatte. Die NS-Behörden hätten ihn wegen fortgesetzten Betrugs als „Asozialen“ inhaftiert. Nach der Befreiung habe dieser Mann sich als „politischer Märtyrer“ ausgegeben und als „mächtiger Mann“ aufgespielt. Die Trierer Strafkammer habe dem, so der Südkurier, ein Ende bereitet und den Betrüger als Rückfalltäter zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt.
Andernorts diskutieren gar Parlamentarier über die angeblichen Gefahren, die von „Asozialen“ und „Arbeitsscheuen“ ausgehen. Im Bayerischen Landtag schlägt der CSU-Abgeordnete Hans Hagn im Januar 1948 vor, das ehemalige KZ Dachau zu nutzen, um dort „arbeitsscheue Elemente“ zu „erziehen“. Auch die oppositionellen Sozialdemokraten unterstützen diesen Antrag. Auf einer Gewerkschaftskundgebung in München steht auf zahlreichen Schildern: „Nur wer arbeitet, soll auch essen“. Hagns Antrag scheitert letztlich nur daran, dass das Lagergelände in Dachau zur Unterbringung von Flüchtlingen und Vertriebenen aus den Gebieten jenseits von Oder und Neiße beziehungsweise aus der Sowjetischen Besatzungszone benötigt wird. Bis ins 21. Jahrhundert gilt, dass während des NS-Regimes als „asozial“ kategorisierte und verfolgte Menschen kaum Chancen auf Wiedergutmachung des ihnen angetanen Unrechts haben.
Die Verfolgung von NS-Straftätern hat in der SBZ eine hohe Priorität. Gerade in den ersten Monaten nach Kriegsende bemüht sich die Sowjetische Besatzungsmacht, unbescholtenes, häufig nicht-kommunistisches Personal zu finden, das Positionen auf lokaler Ebene einnehmen kann. Zur Strategie gehört es außerdem, breite antifaschistische Bündnisse zu schmieden, in denen in aller Regel aber zuverlässige Parteigenossen den Ton angeben. So ist etwa die Freie Deutsche Jugend (FDJ) in ihren Anfängen als überparteiliche Jugendorganisation konzipiert. Bemüht man sich also um aufbauwillige, möglichst unbelastete Menschen, sollen zugleich all jene „unschädlich“ gemacht werden, von denen eine Gefahr für den antifaschistischen Wiederaufbau droht. Menschen, die das NS-Regime (teils maßgeblich) unterstützt haben, sollen möglichst vollständig aus den Verwaltungen entfernt werden. Insbesondere der Polizei-, Bildungs- und Justizapparat werden gründlich entnazifiziert – wesentlich gründlicher, als dies in den Westzonen und in der Bundesrepublik der Fall ist. Verschiedene Fälle belegen indes, dass auch in der DDR der vollständige Ausschluss von belastetem Personal nicht gelingt: So kann etwa Gerhard Pchalek, der im Zweiten Weltkrieg als Richter mindestens 20 Todesurteile wegen geringer Vergehen verhängt hat, nach 1945 bis zum stellvertretenden Thüringer Generalstaatsanwalt aufsteigen. Dennoch: Anfangs ist das Ziel, möglichst alle NS-Belasteten aus verantwortlichen Positionen zu drängen. Aber schon 1946 setzt sich eine Politik durch, die Nachsicht gegenüber den sogenannten bloßen Mitläufern fordert. Die SED, so heißt es nun, „sei der große Freund der kleinen Nazis.“
Tatsächlich werden in der gleichen Zeit Hunderte Jugendliche mit dem Verweis auf angebliche „Werwolf“-Tätigkeit verschleppt und in den sogenannten Speziallagern interniert. Speziallager Nr. 1 (bis 1948 Nr. 7) befindet sich auf dem Gelände des ehemaligen KZ Sachsenhausen, Speziallager Nr. 2 auf jenem des KZ Buchenwald. In beiden Lagern sind neben NS-Verbrechern unbescholtene Menschen inhaftiert, neben angeblichen „Werwölfen“ auch Menschen, die Kritik an der sowjetischen Militäradministration geäußert haben. Sie alle sind hier unter erbärmlichen Zuständen eingepfercht – Versorgung und Hygiene sind so schlecht, dass ein Viertel der Internierten die Lagerzeit nicht überlebt. Als die Lager Anfang Januar 1950 aufgelöst werden, wird nur ein Teil der Inhaftierten in die Freiheit entlassen – viele kommen in Haftanstalten der DDR oder werden in die Sowjetunion deportiert. Wie brutal der Staat gegen kritische Stimmen vorgeht, muss auch eine Gruppe von Jugendlichen im thüringischen Altenburg erfahren. Ihr Unmut richtet sich insbesondere gegen den Kult um den sowjetischen Diktator Josef Stalin, der zu dessen 70. Geburtstag am 21. Dezember 1949 einen Höhepunkt erreicht. Schon zuvor haben die Schüler regimekritische Flugblätter verteilt, nun aber planen sie eine weiterreichende Aktion: Sie wollen die via Rundfunk verbreitete Ansprache von DDR-Staatspräsident Wilhelm Pieck mit einem selbst gebauten Störsender sabotieren. Es gelingt den Jugendlichen, im näheren Umkreis ihres Wohnortes tatsächlich die Ausstrahlung für eine knappe Stunde zu stören, dann glauben sie sich entdeckt und brechen ab. Der sowjetische Geheimdienst aber hat die Aktion dokumentiert und macht sich auf die Suche nach den Verantwortlichen. Schon im März 1950 werden 17 Beschuldigte verhaftet. Wegen vager Kontakte zur westdeutschen, antikommunistischen „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit“ verhängt das Sowjetische Militärtribunal grausame Strafen: Zwei junge Lehrer und ein Schüler werden im Dezember 1950 in Moskau hingerichtet, ein weiterer Schüler im April 1951.
Ganz anders gelagert ist das Vergehen, das den Eheleuten Käthe und Werner Türk in Hönow bei Berlin angelastet wird: Die Landwirte sollen Mitte Oktober 1948 versucht haben, erhebliche Mengen Kartoffeln über die grüne Grenze nach West-Berlin zu schmuggeln – das macht sie in den Augen der Berliner Zeitung zu „Volksschädlingen“. Das Tribunal gegen die beiden findet im Dorfgasthaus statt, die Strafe ist drakonisch. Ihr gesamtes Hab und Gut, darunter der gut bewirtschaftete und mit Landmaschinen ausgestattete Hof, wird enteignet, und sie werden zu je zweieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt. Käthe Türk wird die Haft nicht überleben, ihr Mann verlässt nach seiner Freilassung die DDR Richtung Westen. Der enteignete Hof wird Volksgut.
So wie Werner Türk handeln bis zum Mauerbau 1961 viele Menschen, um (weiteren) Konflikten mit dem SED-Regime zu entgehen; darunter sind viele Landwirte wie er, aber auch Lehrerinnen und Lehrer, Ärztinnen und Ärzte, Unternehmerinnen und Unternehmer und andere. Sie flüchten vor politischem Druck, beruflicher und wirtschaftlicher Reglementierung. In der Bundesrepublik und West-Berlin können sie – nach anfänglichen Schwierigkeiten bis etwa 1953 – meist gut Fuß fassen.
Fazit
Das Tempo, in dem sich die bis zur deutschen Kapitulation vereinten Mächte auseinanderentwickeln und sich in einem kalten Krieg unversöhnlich gegenüberstehen, ist rasant. Dass in kaum einer Frage Einigkeit besteht, zeigt sich schon in den ersten Monaten nach Kriegsende. Unter anderem wird es deutlich im Umgang mit den deutschen Tätern und ihren Opfern. Nicht wenige der letzteren geraten, kaum, dass sie der Verfolgung durch die Nationalsozialisten entgangen sind, zwischen die Fronten des Kalten Krieges, werden etwa als Gegner der sowjetischen Besatzungsmacht und der SED-Politik verfolgt.
In allen Besatzungszonen werden Menschen diffamiert, deren Misshandlung im Nationalsozialismus angeblich nachvollziehbare Gründe gehabt habe. Dies betrifft insbesondere sogenannte Asoziale: Für viele von ihnen kommt eine Anerkennung ihrer Leiden spät oder gar zu spät. Jüdinnen und Juden erleben im Westen häufig, dass ihnen keine Gerechtigkeit widerfährt, da sie häufig keine Nachweise für ihre Verfolgung und Internierung oder geleistete Zwangsarbeit vorlegen können. Die sogenannte Wiedergutmachung bleibt fadenscheinig. Darüber schreiben sowohl die Holocaustüberlebende, Sozialdemokratin und West-Berliner Bundestagsabgeordnete Jeanette Wolff als auch die in Berlin während der Nazizeit untergetauchte spätere Journalistin und Autorin Inge Deutschkron. Die Verantwortlichen in der SBZ/DDR hingegen lehnen Individuelle Restitutionen grundsätzlich ab. Während in den Westzonen und der Bundesrepublik die anfänglich intensive Verfolgung aller NS-Belasteten schnell aufgegeben wird, um den Wiederaufbau von Wirtschaft und Verwaltung voranzutreiben, achten sowjetische und deutsche Stellen in der sowjetischen Besatzungszone darauf, keine Nazis an entscheidende Stellen kommen zu lassen. Den sogenannten Mitläufern gegenüber aber zeigt sich die SED großzügig: Ihre gelungene Integration – der in vielen, aber nicht allen Fällen die Kriegsgefangenschaft in der Sowjetunion vorausgegangen ist – ist für den Wiederaufbau in der DDR unabdingbar. Sie ist deshalb umso leichter, als man von diesen Genossinnen und Genossen kaum Protest und Widerstand gegen das sozialistische Regime befürchten muss. Dass es nicht um die Schwere einer vermeintlichen „Schuld“ geht, belegt etwa die Verfolgung von nicht angepassten Jugendlichen.
Zitierweise: Elke Kimmel, "1949: Staatsgründung, Justiz und Verwaltung", in: Deutschland Archiv, 2.7.2024, Link: www.bpb.de/550289.
ist promovierte Historikerin, Autorin und Kuratorin. Zusammen mit dem Grafiker und Fotografen Alexander Kupsch und Anja Linnekugel (bpb) hat sie die Ausstellung "Gründungsgeschichten" entwickelt und wissenschaftlich begleitet.
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