Im letzten Jahr des SED-Staates gelang dem Bundesnachrichtendienst (BND) der wohl größte Coup seiner Geschichte gegen die DDR. Ein ehemaliger Ost-Berliner Diplomat mit Zugang zum inneren Machtzirkel der SED versorgte den Pullacher Geheimdienst im Revolutionsjahr 1989 mit exklusiven Informationen über die politische und wirtschaftliche Situation Ostdeutschlands. „Er war die mit Abstand beste Quelle im Bereich der politischen Aufklärung, die der BND je im SED-Apparat hatte“, sagt einer der ehemaligen Mitarbeiter des Geheimdienstes, der mit dem Agentenvorgang befasst war. Dies ist die Geschichte des DDR-Diplomaten Erich Hempel, der für den BND als „Enrico“ spionierte.
Der Maulwurf des BND: „Die Karre rast auf die Wand zu“ Wie ein SED-Mann den BND vom nahen Ende der Ära Honecker unterrichtete
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Die Mitarbeiter des Westberliner Verfassungsschutzes reiben sich verwundert die Augen, als sie dem mittelgroßen Besucher aus Ostberlin gegenübertreten. Es ist Februar 1989. Die DDR versinkt in Agonie, Honecker bekräftigt, dass die deutsche Teilung noch 50 oder 100 Jahre dauern könne, und an der Berliner Mauer ist am 5. Februar Chris Gueffroy erschossen worden. Was sich aber wirklich im Zentrum der SED-Macht abspielt, weiß im Westen zu diesem Zeitpunkt niemand. Und da sitzt nun dieser etwas füllige Ostberliner mit Brille und Halbglatze im Besucherbüro des Landesamtes des Verfassungsschutzes und teilt den verdutzten Geheimdienstlern mit, er könne ihnen so einiges erzählen aus dem Politbüro und der DDR-Regierung.
Doch die „Schlapphüte“ sind skeptisch und schicken den Mann erst einmal wieder heim nach Ostberlin. Will der Osten dem Verfassungsschutz eine Falle stellen? Schließlich hat der Besucher angegeben, selbst jahrelang im DDR-Außenministerium und für die Stasi gearbeitet zu haben. Ein SED-Politkader, wie er im Buche steht. Und der nun plötzlich reinen Tisch machen will, aus Enttäuschung, wie er sagt, weil seine Genossen ihm die nötige medizinische Hilfe für seine Herzerkrankung verweigern.
Überraschend kommt der Mann einige Tage später wieder. Als Invalidenrentner darf er nach Westberlin reisen, obwohl er noch keine 65 Jahre alt ist. Diesmal erzählt der Mann, er habe jahrelang als Diplomat an DDR-Botschaften in Lateinamerika gearbeitet. Und er sagt, er könne von aktuellen Diskussionen in der SED-Spitze zur wirtschaftlichen und politischen Lage in der DDR berichten, über Inhalte von Beratungen zwischen Moskau und Ostberlin sowie über Meinungsverschiedenheiten bei der Stasi darüber, wie lange das noch gut gehen kann mit dem Arbeiter-und-Bauern-Staat.
Langsam dämmert es den Verfassungsschützern, dass ihnen offenbar wirklich ein vergleichsweise dicker Fisch an die Angel gekommen ist. Mitte März 1989 wenden sie sich an den BND-Residenten in Westberlin: Man habe da einen Selbstanbieter, der offenbar über exzellente Zugänge in die Spitzen des politischen Machtapparates in Ostberlin verfügt. Wenn der BND es wünsche, könne ein Abgesandter beim nächsten Treffen mit dem Mann in einem Westberliner Hotel dabeisitzen, um zu entscheiden, ob man den Informanten übernehme.
In der Pullacher BND-Zentrale werden daraufhin umgehend zwei erfahrene Agentenführer in Bewegung gesetzt, die am 28. März 1989 in Tegel landen. An diesem und dem nächsten Tag führen sie stundenlange Gespräche mit dem Mann aus Ostberlin, der bis zum Zusammenbruch des SED-Regimes ein gutes halbes Jahr später bei insgesamt mindestens 15 Treffen im Westteil der Stadt eine Fülle hochkarätiger politischer Informationen liefert.
„Er war in dieser Phase, aber auch, wenn man es über die gesamte Zeit des Kalten Krieges hinweg betrachtet, die beste Quelle, die der BND je im politischen Apparat der DDR rekrutieren konnte“, sagt ein ehemaliger Geheimdienstler, der mit dem Vorgang befasst war.
„Enrico“
In den Operativakten bekommt der Informant den Decknamen „Enrico“, seine Berichte werden unter den Bezeichnungen „Leo I“ und „Leo II“ in den Pullacher Apparat eingespeist. Hinter „Enrico“ verbarg sich der 1928 im sudetendeutschen Gablonz, dem heutigen Jablonec, als Sohn eines Malers und einer Hausfrau geborene Erich Hempel. Hempel, der sich nach dem Krieg als Musiker in einer Tanzkapelle auf Rügen durchschlug und 1947 eine Lehre als Vulkaniseur absolvierte, arbeitete zunächst in verschiedenen DDR-Betrieben. 1960 begann er ein Außenpolitikstudium in Potsdam-Babelsberg und ging nach seinem Staatsexamen 1964 ins DDR-Außenministerium.
Zwischen 1966 und 1979 setzte ihn die DDR jeweils mehrere Jahre lang in Leitungsfunktionen an ihren Botschaften in Kuba, Kolumbien und Argentinien ein.
"Ekelige Drecksarbeit"
Seinen BND-Konfidenten erzählte Hempel später, dass er neben seinen politischen Einschätzungen auch noch andere Spezialaufträge für die HVA erledigen musste. So sollte er über jüdische Friedhöfe streifen, um Namen und Biografien zu recherchieren, die Mielkes Auslandsgeheimdienst für Falschidentitäten seiner Agenten verwenden konnte. Eine „ekelige Drecksarbeit“ sei das für ihn gewesen, die er auch viele Jahre danach noch immer als beschämend empfand, erinnert sich einer seiner BND-Kontaktleute.
Nach seiner Rückkehr aus dem Auslandsdienst wurde Hempel Sektorenleiter im Außenministerium für Lateinamerika. Aufgrund eines schweren Herzleidens musste er im Juni 1984 seine Arbeit aufgeben. Doch auch weiterhin ging er im Außenministerium ein und aus, hielt Vorträge und pflegte den Kontakt mit ehemaligen Kollegen und dem DDR-Außenminister Oskar Fischer, der wie er aus dem Sudetenland stammte.
„Wäre man nur nach der Kaderakte gegangen, dann hätte man bei Hempel einen Parteikarrieristen vermuten können, der stromlinienförmig im System funktionierte“, erinnert sich ein BND-Mitarbeiter, der „Enrico“ kennengelernt hatte. „Tatsächlich aber war er ein kritischer, hochsensibler und beeindruckend intelligenter Mensch mit Idealen, der über ausgeprägte analytische Fähigkeiten verfügte und deshalb politische Vorgänge und Entwicklungen erkennen, einordnen und abschätzen konnte.“ Nicht zuletzt hätten diese analytischen Fähigkeiten bei ihm zu der Erkenntnis geführt, dass das sozialistische Experiment in der DDR gescheitert war, weil die SED-Elite durch Machtmissbrauch und Korruption die Ideale des Sozialismus verraten habe.
Der BND ist begeistert über Hempels außergewöhnliche Informationszugänge in Ostberlin. Er pflegt direkte persönliche Kontakte zu wichtigen Personen des SED-Zentralkomitees und gelegentlich sogar zu Angehörigen des Politbüros, wodurch er Einblick hat in aktuelle Geschehnisse und Diskussionen im Partei- und Staatsapparat. Er hält Verbindungen in das direkte Umfeld von Honeckers Kronprinzen Egon Krenz, den er aus früheren Zeiten sogar persönlich kennt. Eng befreundet ist Hempel zudem mit einem Russisch-Dolmetscher, der regelmäßig an Treffen von SED-Funktionären mit hohen sowjetischen Politikern teilnimmt.
Im Westen die DDR für zu stabil gehalten
Für den BND ist der Selbstanbieter „Enrico“ ein wahrer Glücksfall. Bis dahin hatte sich der Dienst selten imstande gezeigt, an seine Bonner Auftraggeber substanzielle und wirklich hilfreiche Einschätzungen und Analysen zur Lage im inneren Machtzirkel der SED und in der DDR zu liefern. Noch zur Jahreswende 1988/89 etwa wurde in diesen Einschätzungen von einem relativ stabilen SED-Regime gesprochen, dessen Fortbestehen trotz der Wirrnisse auf unabsehbare Zeit nicht zur Disposition stehe. Hinzu kam, dass das in der Bundesregierung vorhandene Lagebild über die DDR weniger durch die BND-Analysen als durch die Einschätzungen geprägt wurde, die von der Ständigen Vertretung Bonns in Ostberlin bis in das Jahr 1989 hinein geliefert wurden – die mit der politischen Wirklichkeit in der DDR aber oftmals wenig zu tun hatten.
Da zeichnet „Enrico“ doch ein ganz anderes, weit realistischeres Bild der Lage. So schätzt er in einem seiner ersten Treffen mit dem BND im März 1989 ein, dass die DDR-Führung sich „schon auf mittlere Frist der Notwendigkeit tief greifender Reformen nicht entziehen“ könne, wie sich der mit dem Fall befasste BND-Mitarbeiter erinnert: „Er sagte wörtlich: Die Karre rast auf die Wand zu.“
Von enormer Bedeutung für Pullach und Bonn sind daher auch Hempels Einschätzungen zu der Frage, wie sich Moskau im Falle wachsender Proteste in der DDR verhalten würde und ob die Sowjets bei einer Eskalation der Lage sogar militärisch eingreifen würden. Schon frühzeitig kann „Enrico“ dazu Inhalte aus den Gesprächen wiedergeben, die Honecker im September 1988 während eines Arbeitsbesuches in Moskau geführt hatte.
Demzufolge lehnte Moskau ein Engagement zur Rettung des SED-Regimes ab. Nach Einschätzung „Enricos“, die in einen BND-Bericht eingeflossen ist, hätten die Gespräche zudem gezeigt, „wie problematisch der Umgang beider sozialistischer Länder in Wahrheit (geworden) ist und wie wenig Honecker und Gorbatchev persönlich harmonieren“.
Daneben berichtete Hempel über Hintergründe und Ursachen der dem Westen bis dahin völlig unbekannten Spannungen im Politbüro, im SED-Parteiapparat und zwischen Bezirksparteileitungen und der Ostberliner Führung. So erzählte er im September 1989, dass Honeckers politische Position in der SED-Spitze nicht mehr unumstritten sei. In einem auf seinen Angaben beruhenden BND-Bericht vom 7. September 1989 heißt es dazu, dass sich der SED-Chef „im Politbüro … einem ‚scharfen Gegenwind’ ausgesetzt“ sehe. „Ihm werde angekreidet, nicht schnell genug auf die beginnende Fluchtwelle reagiert und somit noch weitere DDR-Bürger zur Flucht ermuntert zu haben. HONECKER habe geglaubt, dass nach wenigen Tagen ‚der ganze Spuk vorüber‘ sei und keine ernsthaften Probleme entstehen würden. Die nicht erwartete Fluchtwelle habe auch seiner Linie in der Deutschlandpolitik einen Schlag versetzt, die bislang von deren Kritikern - wenn auch murrend - geschluckt worden sei.“
Darüber hinaus lieferte „Enrico“ dem BND Fakten und Zahlen, die Aufschluss lieferten über den Umfang der Fälschung des Kommunalwahlergebnisses im Mai 1989, und er beschrieb die Folgen der zunehmenden Fluchtwelle von DDR-Bürgern im Sommer 1989 für die SED-Führung.
Sogar von einer Geheimrede Erich Mielkes vor leitenden Stasi-Offizieren, in der er die „bewaffneten Organe“ eindringlich auf die Einhaltung ihres Waffeneids einschwor, gleichzeitig aber mahnte, „in Anbetracht der angespannten wirtschaftlichen Situation zukünftig erhebliche finanzielle Mittel einzusparen“, konnte Hempel berichten.
"Zu undemokratisch, zu unflexibel". Gorbatschows Vorwürfe an Honecker
Schließlich lieferte er noch Interna zu Meinungsverschiedenheiten zwischen Moskau und Ostberlin über die Reformpolitik.
Die Schuld für die eingetretene Situation trage „allein die SED-Führung mit ihrem Mangel an Reformbereitschaft“, heißt es in dem auf Aussagen von „Enrico“ verfassten BND-Bericht. „Blieben die erforderlichen Neuerungen aus, so die Warnung GORBACHEVs, werde sich die DDR im Ostblock weiter isolieren, was nicht im Interesse Moskaus liege. Berlin (Ost) könne aber nur dann auf sowjetische Unterstützung zählen, wenn es mehr Demokratie und größere Flexibilität zeige. Für eine Erhaltung der alten Machtstrukturen in der DDR stehe er, GORBACHEV, jedenfalls nicht zur Verfügung.“
Auch während der einsetzenden „Wende“ in der DDR im Herbst 1989 konnte „Enrico“ dem BND wichtige Informationen aus dem inneren Machtzirkel der SED mitteilen. So heißt es in einem auch auf seinen Aussagen basierenden Bericht des BND von Mitte Oktober 1989 unter anderem, dass „der bisherige Konsens innerhalb der Spitze der SED und auf der nachgeordneten Ebene des ZK brüchig geworden ist“.
Insgesamt bahne sich ein Stimmungsumschwung zuungunsten der derzeitigen Führung an. „Die für das Regime verheerenden Begleiterscheinungen zum 40. Jahrestag haben zu einem umfassenden Nachdenken in der SED geführt. (…) Auch in mittleren und höheren Funktionärskreisen des ZK-Apparates gewann in den letzten Tagen vor dem 40. Jahrestag der DDR offenbar die Ansicht an Boden, die Krise der DDR könne nicht ohne einschneidende personelle Maßnahmen an der Spitze der SED gelöst werden. Außerdem müssten auch programmatische Änderungen in die Wege geleitet werden.“ Mit Honecker werde das aber wahrscheinlich nicht umzusetzen sein, heißt es in dem BND-Bericht weiter: „Die Stimmung gegen HONECKER sei der einzige Punkt der Einigkeit in hohen Funktionärskreisen der SED. Man brauche jetzt einen Sündenbock, damit die Partei überleben könne.“
Verschlüsselte Info über Honeckers Absetzung und Hinweise auf "Ljutsch"
Dank „Enrico“ war der BND auch bereits mehrere Stunden vor dem offiziell verkündeten Rücktritt Honeckers am 18. Oktober 1989 über die Demission des SED-Chefs informiert. „Meldung vom 18.10. ca. 9.00 Uhr, (informierter Gesprächspartner aus Berlin (Ost) ruft an)“, beginnt die „zur sofortigen Vorlage bei Pr[äsident BND]“ vorgesehene Nachricht und zitiert den Anrufer: „Heute Abend gibt es etwas zu feiern. Ich meine wirklich alles und ganz gravierend. Ich buchstabiere jetzt mal Führung.“ Nach Einschätzung des BND-Verbindungsführers habe „der Gesprächspartner aus Berlin (Ost) (…) jedes Wort abwägend und wissend (gesprochen); er empfahl dem Gesprächspartner, heute Abend ‚Aktuelle Kamera‘ anzuschauen.“
Von „Enrico“ erhielt der BND schließlich auch Hinweise auf Aktivitäten einer KGB-Gruppierung namens „Ljutsch“, die seit 1988 Kontakt zu diversen DDR-Funktionären aufgenommen hatte. „In diesem Kontext fielen häufiger die Namen Markus Wolf und Hans Modrow, die als bevorzugte Ansprechpartner Moskaus in der DDR galten“, erinnert sich ein früherer BND-Mitarbeiter, der ebenfalls mit der Quelle befasst war. „Für unseren Dienst bestätigten sich damit Gerüchte über sowjetische Einflussnahmen, von der wir schon zu einem früheren Zeitpunkt im Zusammenhang mit Reisen des KGB-Vize Krjutschkows 1987 nach Dresden und Ostberlin erfahren hatten.“
Unter anderem berichtete „Enrico“ darüber, dass sich hohe sowjetische Funktionäre über „gezielte Störmanöver“ der DDR-Führung bei Versuchen beklagt hätten, „Kontakt mit Reformbefürwortern in der SED aufzunehmen. Selbst hochrangige Parteigenossen wie MODROW, SCHABOWSKI, EBERLEIN und LORENZ seien ganz offensichtlich gegen derartige Versuche ‚abgeschirmt‘ worden“, heißt es in einem auf Angaben Hempels basierenden BND-Vermerk vom Oktober 1989. „Entsprechende Gesprächskontakte habe man daher weniger über die Botschaft in Berlin (Ost) als über die dortige sowjetische Handelskammer und das sowjetische Kulturzentrum angeknüpft. Die gewünschten Gesprächspartner seien zu Veranstaltungen dieser Einrichtungen (Ausstellungen, Vorträge, Kulturabende) eingeladen worden. Immer häufiger habe man dorthin auch führende Mitarbeiter von DDR-Betrieben gebeten.“
All diese Mosaiksteinchen versetzten den BND in die Lage, im Laufe des Jahres 1989 einen ziemlich realistischen Eindruck von der Dramatik der politischen und wirtschaftlichen Situation im SED-Staat zu gewinnen. Dennoch wurden nicht alle Informationen Hempels vollinhaltlich an das Kanzleramt weitergeleitet, sondern zum Teil durch die Kombination mit deutlich unkonkreteren und mitunter widersprechenden Einschätzungen aus anderen, weniger ergiebigen Informationsquellen verwässert. So stellte der BND in einem Analysebericht von Ende September 1989 zur innenpolitischen Lage in der DDR noch fest, dass dem „vorliegenden Meinungsbild“ zufolge ein „breite(r) Konsens der Masse der Bevölkerung zu Protestveranstaltungen“ fehle.
„Viele der hier vorliegenden Hinweise enthalten im Gegenteil Äußerungen, wonach man weder den Staat noch die Gesellschaftsform der DDR im Augenblick für generell liquidierbar hält, sondern vielmehr bedauert, dass sich die SED-Führung angesichts der Fluchten [gemeint ist die Fluchtwelle über Ungarn], die zum Teil scharf abgelehnt werden, so wenig diskussions- und reformfähig zeigt“, heißt es in dem BND-Papier weiter.
Zwar könnten den Oppositionsgruppen um den 40. Jahrestag der DDR herum „einzelne begrenzte Demonstrationsveranstaltungen" gelingen, schätzt der Dienst ein. „Es ist aber davon auszugehen, daß sie der Kontrolle der Sicherheitsorgane nicht entgleiten werden.“
Eine vorhergesagte Implosion
Zu dem Zeitpunkt, als diese BND-Meldung für das Bundeskanzleramt in Bonn entstand, lockten die sogenannten Montagsgebete in der Leipziger Nikolaikirche bereits Tausende unzufriedene Bürger an, die dort ihren Forderungen nach demokratischen Reformen Ausdruck verliehen. Auch kursierten seit Mitte September in der gesamten DDR Flugblätter, in denen zum einen die Zulassung der am 10. September gegründeten und umgehend verbotenen Sammlungsbewegung Neues Forum gefordert, zum anderen über die bevorstehende Gründung weiterer oppositioneller Organisationen und Parteien wie der Sozialdemokratischen Partei in der DDR (SDP, ab Januar 1990 SPD), Demokratie jetzt und Demokratischer Aufbruch informiert wurde.
Und auch der wohlinformierte BND-Agent „Enrico“ hatte dem Geheimdienst durch seine konkreten Informationen deutlich gemacht, dass die DDR angesichts der desaströsen ökonomischen Lage und immer weiter schwindender Akzeptanz seiner Bürger in eine stetig sich vertiefende System- beziehungsweise Identitätskrise gerate. „Es kann keine ernsthaften Zweifel (daran) geben, dass das politische System (DDR) schon in absehbarer Zeit implodieren wird“, gab er laut einem BND-Vermerk die Einschätzung führender Mitarbeiter des SED-Zentralkomitees wieder.
Was der Bundesnachrichtendienst erst nach dem Ende von SED und Stasi erfuhr: Das MfS hatte seine Topquelle „Enrico“ bereits ins Visier genommen, bevor es überhaupt zum ersten Treff in Westberlin gekommen war. Aus überlieferten MfS-Unterlagen geht hervor, dass die für Spionageabwehr zuständige Hauptabteilung II schon am 20. März 1989 – also gut eine Woche vor dem ersten Treffen mit dem BND – einen Operativvorgang gegen Hempel eröffnete. In dem Vermerk zu dem Vorgang mit der Deckbezeichnung „Condor“ heißt es, Hempel stehe „im dringenden Verdacht, geheimdienstliche Verbindungen zum BND zu unterhalten“.
"Im dringenden Verdacht..., geheimdienstliche Verbindungen zum BND zu unterhalten....". Stasi-interner Vorschlag vom 1.3.1989 nun einen Sonder-Operativvorgang (SOV) unter dem Codenamen "Condor" gegen Erich Hempel zu starten. Beim BND lautete dessen Deckname wiederum "Enrico" und seine Meldungen wurden unter der Bezeichnung "Leo I" und "Leo II" in die Analyseabteilung des Bundesnachrichtendienstes eingespeist. (© Bundesarchiv / Recherchepaket A. Förster)
Stasi konnte „Enrico“ zunächst nicht identifizieren
Wie Mielkes Männer auf diesen Verdacht kamen, geht aus den von der Stasi-Unterlagenbehörde freigegebenen Akten nicht hervor. Sehr wahrscheinlich ist, dass das MfS von einer bis heute nicht enttarnten Quelle im Westberliner Verfassungsschutz über Hempels Besuch im Landesamt für Verfassungsschutz und seine Weitervermittlung an den Dienst in Pullach erfuhren. Warum die Ostberliner Spionageabwehr aber nicht gegen den Verdächtigen vorging und die Reisen des Invalidenrentners nach Westberlin unterband, bleibt rätselhaft. Unterlag man der Fehleinschätzung, dass der frühere Diplomat keine Staatsgeheimnisse verraten könnte, weshalb man mit repressiven Maßnahmen erst einmal abwartete? Aus den überlieferten Stasi-Akten zum Vorgang „Condor“ geht jedenfalls nicht hervor, dass man die Untersuchung mit großem Elan führte.
Dabei dürften bei der HVA spätestens ab April oder Mai 1989 alle Alarmglocken geschrillt haben. Die Auslandsspionage der Stasi erfuhr zu diesem Zeitpunkt von ihrer langjährigen Spionin Gabriele Gast, die in der Ostblock-Auswertung des BND saß, dass plötzlich Quellenberichte mit der Kennung „Leo I“ und „Leo II“ in Pullach auftauchten, die Details aus dem inneren Führungszirkel der SED enthielten. Der letzte HVA-Chef Werner Großmann bestätigte das später in einem TV-Interview. Dass Hempel dahintersteckte, ahnte man beim MfS aber zunächst nicht – offenbar unterschätzte man dessen Zugangsmöglichkeiten in die Parteispitze, weshalb man ihn mit den „Leo“-Berichten nicht in Verbindung brachte. Zudem dürfte dem BND-Topspion auch entgegengekommen sein, dass die Stasi im fortschreitenden Jahr 1989 zunehmend damit beschäftigt war, die eskalierende politische Lage im Inland und die Ausreisewelle nicht außer Kontrolle geraten zu lassen, zudem brachen nun auch zahlreiche Zerwürfnisse im MfS-Apparat zutage, die den Dienst teilweise lähmten.
Ein Audi 80 zum Dank
Erich Hempel alias „Enrico“ spielte letztlich also die immer rasanter ablaufende Zeit der Stasi und des SED-Regimes in die Hände. Spätestens mit dem Einsetzen der politischen Wende im Herbst ’89 waren dem MfS dann aber auch die Hände gebunden, gegen den BND-Spion konsequent vorzugehen. Der Pullacher Dienst bedankte sich am Ende dieses schicksalsträchtigen Jahres mit einem Geschenk bei seinem Top-Spion, der bis dahin so gut wie keine finanziellen Gegenleistungen für seine Informationen erhalten hatte – Hempel erhielt vom Dienst einen gebrauchten Audi 80.
Passbild Erich Hempels aus der MfS-Akte zu "Condor" (© Bundesarchiv / Recherchepaket A. Förster)
Passbild Erich Hempels aus der MfS-Akte zu "Condor" (© Bundesarchiv / Recherchepaket A. Förster)
Im Dezember 1990 geriet Erich Hempel mit dem Auto vom BND in einen schweren Verkehrsunfall. Ein Lkw prallte auf das Fahrzeug. Ob alte Stasi-Kader bei dieser Aktion ihre Hände im Spiel hatten, um den „Verräter“ zu bestrafen, bleibt Spekulation. Hempel jedenfalls erlitt infolge des Unfalls einen schweren Schlaganfall, von dem er sich nie mehr erholte. Wenige Jahre später verstarb er.
Zitierweise: Andreas Förster, Der Maulwurf des BND: „Die Karre rast auf die Wand zu“, in: Deutschland Archiv, 05.07.2024, Link: www.bpb.de/550192. Belegdokumente liegen vor. Alle Beiträge im Deutschland Archiv sind Recherchen und Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar und dienen als Mosaikstein zur Erschließung von Zeitgeschichte. (hk)
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Jahrgang 1958, ist freier Journalist und Buchautor in Berlin. Er schreibt vor allem über DDR-Aufarbeitung, Terrorismus und politischen Extremismus, Geheimdienste, Zeitgeschichte und Organisierte Kriminalität, vornehmlich für die Berliner Zeitung.
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