In der nach 35 Jahren Einheit beginnenden "Posttransformationsphase" scheint eine wieder erstarkte ostdeutsche Identität "alive and kicking". Woran liegt das? Ein Essay des Berliner Soziologen Steffen Mau, der konstatiert: Wer auf eine Verähnlichung von Ost und West setzt, der wird noch lange warten müssen. Deutschland ist ungleich vereint und wird es bleiben. Nicht nur, was die Wahlergebnisse für die rechtsextreme AfD betrifft.
Der Beziehungsstatus zwischen Ost und West ist kompliziert, aber so schlecht nun auch wieder nicht. Scheidung zumindest ist kein Thema. Wie auch? »You cant’t unscramble scrambled eggs«, heißt es im Amerikanischen. Das Rührei lässt sich nicht mehr in Eiweiß und Dotter trennen. Innerdeutsche Wanderungen haben die beiden Gesellschaften durchmischt, in vielen Familien und Freundschaften ist die Ost-West-Zugehörigkeit in den Hintergrund getreten. Auch mit Blick auf statistische Kennzahlen hat sich der Osten recht gut entwickelt. Die Kluft in der Arbeitslosenquote ist kleiner geworden, die Rentenangleichung wird 2025 vollzogen sein. Private wie öffentliche Investitionen und die Ansiedlung technologieintensiver Industrien machen Hoffnung, dass sich mittelfristig auch die Produktivitätslücke schließt. Einerseits.
Andererseits gibt es immer noch und immer wieder atmosphärische Störungen zwischen Ost und West, West und Ost. Die einen fühlen sich kolonialisiert, die anderen ausgenutzt. Die Tagesthemen-Moderatorin Jessy Wellmer spricht im Titel eines aktuellen Sachbuches sogar von einer „neuen Entfremdung“. Stecken in der vereinten Gesellschaft immer noch zwei Teilgesellschaften?
Tatsächlich zeigen sich hartnäckige Unterschiede: Wer sich eine Vielzahl unterschiedlichster Indikatoren anschaut – die Kirchenbindung, die Vereinsdichte, die Parteimitgliedschaften, das Vertrauen in Institutionen allgemein, die Wahlerfolge der AfD, den Anteil junger Menschen und jener von Menschen mit Migrationsbiografie, die Exportorientierung der Wirtschaft, die Hauptsitze großer Firmen, die Patentanmeldungen, die Produktivität, die Erwerbsquoten, die Größe des Niedriglohnsektors, die Kaufkraft, die Ausstattung der Haushalte, den Wert des Immobilieneigentums, das Erbschaftsteueraufkommen, die durchschnittliche Größe der landwirtschaftlichen Betriebe und, ja, auch die Zahl der Tennisplätze – der kommt immer wieder zu dem gleichen Ergebnis: Eine Phantomgrenze durchzieht das geeinte Land.
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Das Angleichungsziel, an dem sich die Politik lange Zeit orientierte, trägt immer weniger. Zumal mit ihm ein Problem einher geht: Wer den Westen zur Norm macht, begreift den Osten vor allem als Abweichung, nicht in seinen Eigenheiten.
Natürlich, wenn es um die ungleichen ökonomischen Lebensbedingungen geht, kann man sich schnell einig werden. Bei vielen anderen Aspekten sieht es komplizierter aus. Wo wünschen wir uns denn wirklich ein Verschwinden von Unterschieden und ein Aufschließen des Ostens zum Westen? Bei den Vermögen und den Einkommen ja, aber bei den Mieten, der Schulqualität oder dem Gender-Pay-Gap bitte nicht. Bei der Produktivität, den Spitzenjobs und den Vermögen ja, aber nicht bei der Beschäftigungsquote von Frauen, der Kita-Abdeckung oder der Theaterdichte, die im Osten höher sind. Die Nivellierung von Unterschieden lässt sich als Maßstab kaum aufrechterhalten, wenn man sie nicht hinreichend konkretisiert. Wir erwarten von Bayern oder dem Saarland ja auch keine Angleichung an den Rest der Republik.
35 Jahre nach der Friedlichen Revolution ist die ostdeutsche Transformationsphase zu einem Ende gekommen, die Dynamiken von Aufholen, Nachahmen und Angleichen flachen merklich ab.
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Wir sind in die Posttransformationsphase übergegangen, die uns klarer als bisher vor Augen führt: Der Osten wird sich dem Westen nicht weiter anverwandeln, zu stark wirken die Prägungen der DDR, die Weichenstellungen der Wiedervereinigung und die Lasten der Transformationsjahre.
Denn mit der Einheit fanden nicht nur zwei sehr unterschiedliche, Gesellschaften zusammen, sie setzte Ost und West in ein ungleiches Verhältnis. Der Osten wurde zur Anpassungsgesellschaft, ohne die Blaupause West je zu erreichen. Es blieben eigene Strukturen erhalten, eigene Mentalitäten, eigene politische Bewusstseinsformen; einige formten sich im Einigungsgeschehen auch neu. Wer auf eine „Vollendung der Deutschen Einheit“ wartet, im Sinne einer Verähnlichung von Ost und West, der wird noch lange warten müssen. Deutschland ist ungleich vereint – und wird das auch bleiben.
Einige Beispiele: Westdeutschland ist recht mittelschichtig, Ostdeutschland hingegen eine einfache Arbeitnehmergesellschaft, ja ein „Land der kleinen Leute“. Eine Schicht der Wohlhabenden hat sich nur in Ansätzen etabliert, die innerdeutsche „Vermögensmauer“ steht stabil. Das Vermögen der Haushalte ist in Westdeutschland doppelt so hoch, nur zwei Prozent der gesamtdeutschen Erbschaftsteuer werden in Ostdeutschland (ohne Berlin) gezahlt. Zudem leidet der Osten unter einer dramatischen Elitenschwäche – nur wenige steigen in die Führungsriege des Landes auf. Der Anteil der Ostdeutschen in Spitzenjobs in der Wirtschaft, in der Wissenschaft, der Kultur, im Justizwesen und in den Medien liegt bis heute weit unter ihrem Bevölkerungsanteil, in Wissenschaft und Justiz ist er sogar von einem niedrigen Niveau aus rückläufig.
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Die Annahme, dass die ostdeutsche Unterrepräsentation mit der Zeit auswachsen würde, hat sich nicht erfüllt. Ungleiche strukturelle Gegebenheiten, fehlender familiärer Rückenwind und schwache Netzwerke dürften hier entscheidend sein.
Ungleich sind auch die demografischen Verhältnisse. Die ostdeutsche Teilgesellschaft schrumpft, während Westdeutschland unaufhörlich wächst. Nach dem Mauerfall wanderten jedes Jahr mehrere hunderttausend Menschen in die alten Bundesländer ab. Es gab zudem einen beispiellosen Geburteneinbruch zu Beginn der Neunzigerjahre, der mit dem allmählichen Ableben der stärkeren Jahrgänge immer mehr durchschlägt. Schon von 1947 bis 1989 verringerte sich die auf dem Territorium der DDR lebende Bevölkerung um 14 Prozent, im selben Zeitraum nahm die der Bundesrepublik um etwa 30 Prozent zu. Aus der DDR reiste man aus, Zuwanderung spielte für die Bevölkerungsentwicklung de facto keine Rolle und ist bis heute überschaubar.
Ohne Berlin ist die Bevölkerung im Osten seit 1989/90 von knapp 15 Millionen auf 12,6 Millionen Menschen geschrumpft (zum Vergleich: in Bayern leben über 13 Millionen Menschen, in Nordrhein-Westfalen über 18 Millionen). Im Westen ist sie im gleichen Zeitraum um weitere 10 Prozent gewachsen.
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Von Schrumpfgesellschaften wissen wir, dass sie oft traditionsbewahrende und defensive Haltungen einnehmen.
Drittens ist ein Ostbewusstsein entstanden, das noch vor Jahren undenkbar erschien. Die ostdeutsche Identität ist alive and kicking. Sie galt lange Zeit als Problemfall, als mögliche Bremse im Prozess hin zur „inneren Einheit“ und als Ausdruck von Ostalgie. Heute finden ostdeutsche Identitätsdiskurse nicht mehr nur im Trümmerfeld der Partei Die Linke, in den Wärmestuben der Volkssolidarität und auf Ostrock-Partys statt, sondern ebenso in den Räumlichkeiten von Stiftungen, auf Theaterbühnen, bei Literaturfestivals, auf den Heckscheiben PS-starker Fahrzeuge im Brandenburger Land, als Thema in Führungskräfteseminaren und in Fußballstadien. Selbst in der Nachwendegeneration verstehen sich viele als Ostdeutsche, sie bemerken Unterschiede zwischen Ost und West, die durch Westdeutsche kaum noch wahrgenommen werden.
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Ostdeutschland bleibt als sozialer und kultureller Erfahrungsraum durch reale Unterschiede, aber auch durch Familiennarrative und mediale Diskurse präsent. Anders als in den zwei Jahrzehnten nach der Wende, wird das Ostdeutsche nicht mehr versteckt. Es kann als Opfererzählung und Osttrotz daherkommen, als neuer Oststolz oder auch einfach als Zugehörigkeitsgefühl.
Womöglich gibt es sogar Parallelen zu Phänomenen der Rekulturalisierung wie wir sie von Angehörigen der zweiten und dritten Migrantengeneration kennen. Sie sind sensibler für Diskriminierungen als ihre Eltern und Großeltern, sie treten gleichzeitig selbstbewusster auf. Dazu passen die aktuellen Bemühungen, das Merkmal „ostdeutsch“ in die Register der Identitätspolitik einzutragen und daraus Forderung nach Gleichstellung und Anerkennung abzuleiten.
Schließlich sehen wir gravierende Unterschiede der politischen Kultur: Das Vertrauen in die Institutionen, die Unterstützung der parlamentarischen Demokratie und die Parteienbindung sind im Osten weniger ausgeprägt. Das hat mit der kürzeren Demokratiegeschichte zu tun, aber auch damit, dass der Einheitsprozess nach 1989 die gerade erst begonnene Demokratisierung der Ostdeutschen schnell wieder ausgebremst hat. Das politisch-administrative System der BRD bemühte sich, basisdemokratische Experimente und unkonventionelle Formen der Partizipation zurückzudrängen. Sie galten als nicht kompatibel und dysfunktional, störende Fremdkörper. Der Aufbau Ost schien nur als Nachbau West denkbar. Weniger als ein Prozent der Ostdeutschen ist heute Mitglied einer der im Bundestag vertretenen Parteien.
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Mit den drei bevorstehenden Landtagswahlen in Ostdeutschland könnte ein neuer Kipppunkt bevorstehen. Die AfD ist zwar keine Ostpartei, aber sie tut dort viel dafür, ein spezifisch ostdeutsches Gefühl für sich zu instrumentalisieren.
In manchen Gegenden ist sie auf dem Weg zur Volkspartei. Das Bündnis Sahra Wagenknecht setzt sich sogar für eine Förderung Ostdeutscher im Öffentlichen Dienst, in Verwaltung, Kultur und Wissenschaft ein. Dazu kommt die schrumpfende Linke, die im Osten traditionell noch stärker ist als im Westen. Alle drei Parteien gehen in die Lücken, die sich entlang von Anerkennungsdefiziten und Deklassierungen geöffnet haben.
Politisch könnte es im Herbst turbulent werden. FDP und Grüne könnten im Osten zunehmend unter die Räder geraten, auch der SPD droht die Verzwergung. Je nach Wahlergebnis könnte Ostdeutschland zum Experimentierraum neuer Koalitionen werden, um die AfD von der Macht fernzuhalten. Auch weitere Minderheitsregierungen sind denkbar, was die politische Stabilität und Handlungsfähigkeit schwächen würde. Womöglich werden mit den Wahlergebnissen neue Verhältnisse etabliert, durch die sich die Parteienstrukturen in Ost und West weiter voneinander entfernen. Das würde die Reibeflächen noch einmal vergrößern.
Ostdeutschland ist kein Katalonien 2.0, das Bekenntnis zur Deutschen Einheit ist ungebrochen. Aber Ost und West sind in Deutschland mehr als zwei Himmelsrichtungen – und werden das auf absehbare Zeit auch bleiben.
Zitierweise: Steffen Mau, „Eine Phantomgrenze durchzieht das Land", in: Deutschland Archiv, 19.06.2024 Link: www.bpb.de/549435. Die Erstveröffentlichung einer kürzeren Fassung erfolgte am 10.06.2024 in Spiegel Online. Alle Beiträge im Deutschland Archiv sind Recherchen und Sichtweisen der jeweiligen Autoren und Autorinnen, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar. (hk)
Steffen Mau, 55, ist in der Rostocker Plattenbausiedlung Lütten Klein aufgewachsen. Heute ist er einer der renommiertesten deutschen Soziologen, ausgezeichnet mit dem Leibniz-Preis. Er lehrt an der Berliner Humboldt-Universität. Der Text basiert auf seinem neuen Buch „Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt“, das am 17. Juni 2024 im Suhrkamp Verlag erscheint.
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