Bereits Mitte der 1970er-Jahre schloss die DDR mit ihren sogenannten sozialistischen Bruderstaaten wie Mosambik, Kuba und später Vietnam Staatsverträge ab, die den Arbeitskräftemangel der DDR decken sollten. Im Folgenden werden die Migrationsgeschichte der ehemaligen Vertragsarbeiter*innen in Deutschland, ihre Erfahrungen als „Arbeitsmaschinen“
1. Historischer Überblick
Die meisten ehemaligen vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen kamen kurz vor der Wende in den Jahren 1987/88 in die DDR. Mit 60.000 Personen machten sie einen Großteil der Vertragsarbeiter*innen in der damaligen Zeit aus. Aufgenommen wurden Menschen, die in Vietnam als politisch zuverlässig galten. Ehemalige Soldat*innen und Widerstandskämpfer*innen oder deren Hinterbliebene konnten sich für die Vertragsarbeit in den sozialistischen „Bruderstaaten“ bewerben und wurden bei der Auswahl bevorzugt. Mitunter spielten wohl auch Kontakte und Bestechung eine Rolle. Die DDR nahm nur Personen im Alter zwischen 18 und 40 Jahren auf, im „besten arbeitsfähigen Alter“ also. Nach der Wende immigrierten vermehrt auch Vietnames*innen aus dem Hochschul-, Bildungs- oder Kulturbereich nach Deutschland. Die vietnamesischen Abschlüsse der vor der Wende Eingereisten wurden in der DDR nicht anerkannt. Bis zur Wiedervereinigung machten Männer den Großteil der vietnamesischen Vertragsarbeiter aus, während der späteren Migrationsbewegung zwischen 1991 und 1995 kamen hingegen überwiegend Frauen nach Deutschland, was auch mit Familiennachzug und neuen Formen der Arbeitsmigration zu tun hatte.
Die ersten vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen immigrierten im April 1980 in die DDR und kamen, wie viele andere Nachfolgende, mit der Absicht, ihre wirtschaftliche Situation zu verbessern und ihre Familien in Vietnam zu unterstützen. Ebenfalls hofften einige auf eine Bleibemöglichkeit im „Traumland“,
2. Fremdbestimmung durch den „Bruderstaat“ DDR
2.1. Arbeitsbedingungen
Die DDR setzte die Vietnames*innen vor allem im Niedriglohnsektor der Textil- und Lebensmittelindustrie, dem Maschinenbau und der Leicht- und Schwerindustrie ein, um dort den Arbeitskräftemangel zu decken und die Wirtschaft anzukurbeln. Diese Arbeitsbereiche setzten keine besonderen Kenntnisse voraus, und die Tätigkeiten wurden daher schlecht bezahlt. Viele Frauen wurden in „leichter“ auszuübenden Berufe eingesetzt, zum Beispiel in Nähnadelfabriken. Meistens arbeiteten aber Vietnames*innen aller Geschlechter zusammen, wenn auch in unterschiedlichen Abteilungen und mit verschiedenen Aufgaben und körperlichem Anstrengungsgrad. Vor allem in Ost-Berlin, Chemnitz (Karl-Marx-Stadt), Leipzig, Dresden, Erfurt und Jena waren die Vertragsarbeiter*innen in rund 1.000 Betriebsstätten angestellt.
Die Aussicht auf eine berufsqualifizierte Ausbildung erwies sich schnell als leeres Versprechen, denn die ehemaligen Vertragsarbeiter*innen mussten oft schmutzige, schwere und gefährliche Arbeiten erledigen, wofür sie keinerlei Berufsvorerfahrung mitbringen mussten. Den vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen stand zwar ein Deutschkurs zu, dieser dauerte aber höchstens zwei Monate und vermittelte ausschließlich arbeitsrelevante Vokabeln, wodurch eine außerbetriebliche Kontaktaufnahme gezielt erschwert wurde. Der Kontakt zu DDR-Bürger*innen in der Freizeit war aber ohnehin ungern gesehen, wie Stasi-Akten belegen.
Der Arbeitslohn betrug im Schnitt etwa 400 DDR-Mark und entsprach damit dem damaligen Mindestlohn. Von diesem Geld mussten monatlich etwa 30 Mark Miete gezahlt werden. Häufig waren die Arbeiter*innen isoliert von DDR-Bürger*innen gruppenweise in firmeneigenen Wohnheimen untergebracht. Ihre Hin- und Rückreise wurde von ihren Betrieben gezahlt, die neben ihrem Lohn und sonstigen Prämien auch eine Trennungspauschale von vier DDR-Mark pro Tag an die Vertragsarbeiter*innen zahlten. Von ihrem bereits geringen Lohn wurden automatisch zwölf Prozent nach Vietnam für die „Hilfe zum Wiederaufbau und Schutz des Landes“ abgeführt. Allerdings gab es Sonderregelungen, die die finanzielle Unterstützung der Familie in Vietnam erleichterten. So durften die Vertragsarbeiter*innen insgesamt zwölf Pakete im Jahr, die jeweils den Wert von 100 Mark nicht überschreiten durften, zollfrei nach Vietnam verschicken. Weitere Sonderregelungen machten es möglich, auch größere und wertvollere Pakete zu versenden.
Die „Endausreisekiste“, die jeder/jedem Vertragsarbeiter*in bei Vertragsende und Rückreise nach Vietnam zustand, umfasste eine maximale Füllkapazität von bis zu zwei Tonnen. Auch hier gab es Beschränkungen von beispielsweise maximal fünf Fahrrädern, zwei Mopeds, zwei Nähmaschinen und 150 Quadratmetern Stoff. Um Wertverluste bei Geldtransfer und Währungsumrechnung zu vermeiden, war dies eine gängige Strategie, um Waren nach Hause zu schicken, mit denen die Familie Geld erwirtschaften konnte. Wegen dieser Sonderregelung bei gleichzeitiger Knappheit in der DDR entstanden unter den DDR-Bürger*innen Gerüchte und Ressentiments gegenüber den Vertragsarbeiter*innen, die angeblich die Waren aus der DDR „leerkauften.“
2.2 . Lebensbedingungen: Community-Räume, wirtschaftliche Strategien und Liebesbeziehungen
Abgesehen davon, dass ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter*innen schlechten und ausbeuterischen Arbeitsbedingungen ausgesetzt waren, gab es im Privatleben der Vietnames*innen ebenfalls strikte Reglementierungen und Vorschriften und damit einhergehende Rahmenbedingungen für ihren Aufenthalt im „Bruderland“. Untergebracht wurden die Vertragsarbeiter*innen meist, wie bereits erwähnt, in firmeneigenen Wohnheimen, die speziell für sie vorgesehen und oftmals abgeschottet und entfernt von den Wohnvierteln der DDR-Bevölkerung waren.
Gesellschaftliche Teilhabe und Integration waren daher nur schwer möglich. Allerdings wuchsen die Vietnames*innen dadurch zusammen und bewältigten ihren Alltag fernab von zuhause gemeinsam. Weit entfernt von der gewohnten Umgebung, der Familie und der Heimat entstand eine Gemeinschaft in den Wohnheimen, die mit der Zeit Strukturen ausbildete, die die Community stärkten und bis nach der deutsch-deutschen Vereinigung nachwirkte.
Jeder Person stand eine Wohnfläche von fünf Quadratmetern zu, die nicht nur zum Schlafen, sondern zum Teil auch zum gemeinsamen Kochen, Waschen, aber auch als Warenlager genutzt wurde. Jedes Zimmer wurde von bis zu vier Mitbewohner*innen bezogen, die entweder in Doppel- oder Einzelbetten schliefen. Teilweise waren die Wohnheime aber auch überbelegt. Besonders in den Jahren 1987/88, in denen viele vietnamesische Vertragsarbeiter*innen gleichzeitig ankamen, waren die Behörden mit der Unterbringung überfordert. Innerhalb der Wohnheime herrschten strenge Hausordnungen. Verstöße wurden an die vietnamesische Botschaft weitergeleitet und konnten zur Ausweisung nach Vietnam führen.
Männer und Frauen wurden strikt voneinander getrennt – das galt auch für Ehepartner*innen, die durch ihre neuen Lebens- und Arbeitsbedingungen ihre Lebensentwürfe anpassen mussten. Es galt eine Ausgangssperre für die späten Abendstunden und ein generelles Besuchsverbot für Deutsche. Tag und Nacht herrschten Einlasskontrollen, bei denen Besucher*innen ihre Ausweise an der Pforte hinterlegen mussten.
Mit der steigenden Zahl von Vertragsarbeiter*innen in der DDR und der somit auch steigenden Bewohner*innenzahl innerhalb der Unterkünfte war die Einhaltung der Regeln und Restriktionen immer schwerer durchzusetzen. Es gab schlichtweg zu wenig Personal, um etwa die Durchsetzung der Ausgangssperre oder der Hausordnung inklusive der strengen Geschlechtertrennung zu kontrollieren.
Die weniger strikte Durchsetzung der Regeln ermöglichte außerdem neue wirtschaftliche Wege, mit denen die Vertragsarbeiter*innen ihr geringes Einkommen aufstocken konnten. Nach ihrer Schicht in den jeweiligen Betrieben machten sich viele Vietnames*innen auch im Wohnheim an die Arbeit und stellten in ihren Zimmern, manchmal auch in selbst so bezeichneten Wohnheimwerkstätten, Kleidungsstücke her. Besonders Jeansjacken und -hosen waren in der DDR begehrt und konnten von den Vietnames*innen, gerade im Vergleich zum DDR-Handel, schnell und günstig hergestellt werden.
Es entstanden vermehrt Liebesbeziehungen innerhalb der Wohnheime. Da in Vietnam wenig über Sexualität und Verhütung aufgeklärt und das Thema meist tabuisiert wurde, kam es zu vielen Schwangerschaften – nicht überraschend bei jungen Menschen, die auf engem Raum lebten, miteinander verkehrten und sich eine Gemeinschaft aufbauten. Natürlich entstanden trotz der Einschränkungen und des Unmuts seitens der Regierung auch (Liebes)-Beziehungen zwischen Ostdeutschen und Vietnames*innen.
Eine Eheschließung zwischen Deutschen und Vietnames*innen war eher unüblich und mit vielen Hürden verbunden. Beispielsweise musste der/die ausländische Vertragsarbeiter*in die Kosten zurückzahlen, die durch den Aufenthalt in der DDR entstanden waren. Zugleich hatte die Eheschließung jedoch nicht immer einen gesicherten DDR-Aufenthalt und die Entkopplung des Arbeitsabkommens zur Folge. Willkürliche Entscheidungen von Botschaft und Behörden und Bestechungen der entscheidenden Stellen waren aus Sicht der Betroffenen nötig und üblich. Das langwierige Prozedere bis zur Erlaubnis einer Eheschließung (oder deren Ablehnung) führte oftmals auch zur dauerhaften Trennung der Paare.
3. Körperliche Fremdbestimmung
All die aufgelisteten Reglementierungen sind entmündigend, anmaßend und im Kern auch infantilisierend – wieso sollten erwachsene Menschen nicht darüber entscheiden können, wen sie lieben und gegebenenfalls heiraten sollen? Wann sie nach Hause kommen sollen oder welchen Besuch sie empfangen dürfen?
Der wohl größte Eingriff in die Rechte und das Selbstbestimmungsrecht der Vertragsarbeiterinnen bestand jedoch im „Verbot“ von Schwangerschaften. Bis 1987 waren Schwangerschaften strikt untersagt, sodass schwangere Frauen vor der Entscheidung standen, ihre Schwangerschaft entweder zugunsten ihrer Arbeitsstelle und den Aufenthalt in der DDR durch Abtreibung zu beenden oder frühzeitig mit unehelichem Kind nach Vietnam zurückzukehren. Bei Rückkehr wurden viele Frauen oftmals als „Rückkehrerinnen“ stigmatisiert. Häufig wurden sie wegen ihrer Schwangerschaft bezichtigt, der Familie „Schande“ zugefügt zu haben. Die Frauen scheiterten so einerseits mit dem Plan, ihre Familie zuhause finanziell zu unterstützen, und mussten andererseits der DDR die Kosten für ihren Aufenthalt zurückzahlen.
Die Frauen trieben oft mehrmals ab, auch eigenständig in ihren Wohnheimzimmern. Ihnen war zum Teil nicht bewusst, was dieses Handeln für ihre Gesundheit bedeutete. Um Abtreibungen zukünftig zu verhindern, wurden den vietnamesischen Frauen präventiv Verhütungspillen verschrieben. Wegen der fehlenden Aufklärung und der Sprachbarriere wurden die Frauen aber nicht über Nebenwirkungen und Gefahren in Kenntnis gesetzt. Erst später realisierten viele von ihnen, wie menschenunwürdig mit ihnen umgegangen wurde.
Dass die beschriebenen potenziellen „Regelverstöße“ eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses nach sich ziehen konnten, ist unverhältnismäßig, ausbeuterisch und zeigt den institutionellen Rassismus und die Machtungleichheiten, die sich hinter dem „Bruderstaaten“-Abkommen verbargen.
4. Deutsche Einheit
Die sogenannte Wende stellte für viele DDR-Bürger*innen zunächst einen befreienden Umbruch dar. Ehemalige Vertragsarbeiter*innen standen aber vor einer ungewissen Zukunft und vor dem baldigen Ende ihrer Arbeitsabkommen. Im Juni 1990 wurde der Arbeitskräfte-Kooperationsvertrag zwischen Vietnam und Deutschland abgeändert. Beschlossen wurde, dass gültige Verträge auslaufen sollten. Die Vietnames*innen standen nun vor der Wahl zwischen freiwilliger Rückkehr – inklusive Rückreiseprämie von 3.000 DM – oder den ungewissen, aber wirtschaftlich vielversprechenden Möglichkeiten im vereinigten Deutschland.
Die neu geschaffene Möglichkeit des Familiennachzugs ab 1990 stellte eine große Chance dar, um ein Leben mit vermeintlich besseren Voraussetzungen zu starten. Viele Vietnames*innen hatten für ihre Vertragsarbeit ihre zum Teil sehr jungen Kinder zurückgelassen. Die Kinder wuchsen meist bei Verwandten, etwa den Großeltern, auf und hatten dadurch eine jahrelange Trennung und ihre Sozialisation in Vietnam erlebt. Gerade wenn die Kinder älter sind und ihr gewohntes Umfeld nicht verlassen wollen, kann dies eine Familienzusammenführung erheblich erschweren.
Eine weitere, oft genutzte „Migrationsstrategie“ waren damals arrangierte Scheinvaterschaften mit einem/einer Partner*in mit unbefristetem Aufenthaltstitel oder deutschem Pass. Im Falle von Familiennachzug besaß das nachgeholte Kind in dieser Konstellation ein unbefristetes Bleiberecht beziehungsweise eine deutsche Staatsbürgerschaft.
Ausblick
Im Prozess der Aufarbeitung der Geschichte werden ehemalige Vertragsarbeiter*innen immer noch als Objekte ihrer Migrationsgeschichte gelesen. Zu kritisieren sind also die bestehenden strukturellen und institutionellen Ungleichheiten sowie der Rassismus vor und nach der sogenannten Wende. Der Schriftsteller Max Frisch schrieb bereits 1965 im Kontext der Gastarbeiter*innenbewegung in Westdeutschland: „Wir riefen Arbeitskräfte und es kamen Menschen“, um die Komplexität der und die Schwierigkeiten mit der Migration zu beschreiben. Oft wird vergessen, dass die jungen Vietnames*innen nicht nur mit einem Auftrag in die sozialistischen „Bruderstaaten“ gingen, sondern auch Abenteuerlust verspürten. Viele von ihnen wollten reisen und die Welt sehen, zum ersten Mal Eigenständigkeit erleben und sich selbst ein Bild vom „Paradies“
Oral History, Ansätze der Selbstermächtigung, der Aneignung und der Mitbestimmung können durch ihre Fokussierung auf die Zeitzeug*innenperspektive solche Geschichten rekonstruieren, erzählen und Sichtbarkeit schaffen.
Zitierweise: Vũ Vân Phạm, "Vertragsarbeiterinnen in der DDR – Frauen aus Vietnam im Blick“, in: Deutschland Archiv, 17.052024, Link: www.bpb.de/548449.
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