Im Mittelpunkt der DDR-Auslandsspionage stand seit den Fünfzigerjahren bis zum Ende der DDR 1989 die Bundesrepublik Deutschland. Die umfangreiche nachrichtendienstliche »Arbeit im und nach dem Operationsgebiet« – wie die Bundesrepublik im Stasi-Jargon hieß – oblag in erster Linie der berühmt-berüchtigten »Hauptverwaltung Aufklärung« (HVA). Leiter war der legendäre HVA-Chef Generaloberst Markus Wolf. Unter seiner persönlichen Anleitung arbeitete die Abteilung X an sogenannten »Aktiven Maßnahmen«, die unter anderem darauf ausgerichtet waren, »den Feind bzw. einzelne feindliche Kräfte und Institutionen zu entlarven, zu kompromittieren bzw. zu desorganisieren und zu zersetzen«. Konkret waren das neben den Spitzenpolitikern der Bonner Republik auch die Bundespräsidenten.
75 Jahre nach der Gründung der Bundesrepublik und der DDR und 35 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer bringt der Blick auf die Ausspähung der Bundespräsidenten durch die Staatssicherheit unerwartete Erkenntnisse über die ersten 40 Jahre der beiden deutschen Staaten. Recherchen im Bundesarchiv, im Freiburger Militärarchiv und den Landesarchiven Sachsen-Anhalt in den Abteilungen Dessau und Magdeburg sowie das Studium der einschlägigen Stasi-Akten geben nicht nur Aufschluss über das Vorgehen und die Ziele des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), sondern fördern auch bislang unbekannte Aspekte über das Tun und Lassen, über verschwiegene oder wohlverborgene Verstrickungen der Staatsoberhäupter in der NS-Zeit und in der Zeit des Kalten Krieges zutage – Ergebnisse, die an zentralen Punkten der jüngsten Vergangenheit unvermittelt eine andere Geschichte der Bonner Republik sichtbar werden lassen.
An Theodor Heuss (FDP), erster Bundespräsident von 1949 bis 1959, schienen die »Schlapphüte« aus Ost-Berlin auf den ersten Blick nur geringes Interesse gehabt zu haben. Seine Vita bot keinerlei Anhaltspunkte für Verstrickungen in der Zeit des Nationalsozialismus. Belastendes Material über Lebensführung und berufliche Tätigkeit existierte nicht. Daher konnte das Stasi-Unterlagen-Archiv in Berlin – heute Bundesarchiv – nur 110 Blatt als Stasi-Akte des ersten Bundespräsidenten zutage fördern. Doch darin befand sich brisantes Material. Es war kein Geringerer als der damalige FDP-Bundesvorsitzende und spätere Bundespräsident Theodor Heuss, der den ausgewerteten Dokumenten nach von Bonn aus ab 1948 ein Spionagenetz in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) initiiert, kontrolliert und für dessen Finanzierung gesorgt hatte. Wenn das MfS das alles veröffentlicht hätte, wäre Theodor Heuss wohl kaum zum Bundespräsidenten gewählt worden. Hier das Kapitel über ihn, eingeordnet in die Gründungsphase von Bundesrepublik und DDR vor 75 Jahren (Text bitte durch Anklicken aufklappen):
Ausführliches BeispielDie Stasi und Theodor Heuss
Am 8. Mai 1945 war der Krieg zu Ende. Die deutsche Wehrmacht hatte bedingungslos kapituliert. Dem totalen Krieg war die totale Niederlage gefolgt. Deutschland als Staat und Nation, die Deutschen als Volk schienen im Sommer 1945 am Ende. Auch wenn es in der Geschichte des deutschen Volkes keine »Stunde Null« gibt, den Zeitgenossen erschien die Stunde der Kapitulation als diese Stunde Null, Ende und Anfang zugleich: das Ende des Sterbens, der Bombennächte in feuchten Luftschutzkellern, der Standgerichte. Für viele das Ende einer Illusion, für Zehntausende Überlebende in den Konzentrationslagern das Ende ihrer Qualen – sie zumindest fühlten sich befreit. Und es war der Anfang des Improvisierens, des Überlebens, der Trümmerfrauen, der Schwarzmarktzeit, der Zigaretten- und Schokoladenwährung, der Kippensammler und der Hoffnung auf eine bessere Zeit. Wohin man auch blickte, überall bot sich das gleiche Bild: Trümmerhaufen, aus denen nicht selten noch der Leichengeruch emporstieg: vier Millionen deutsche Soldaten waren gefallen, fast ebenso viele Zivilpersonen umgekommen. Viele Städte lagen in Schutt und Asche, ihre Zentren waren zu 60, 70 oder sogar 80 Prozent zerstört. Einige hatten besonders schwere Angriffe erlebt.
Zehn Millionen Zwangsarbeiter (Displaced Persons) aus allen Teilen Europas wollten zurück in ihre Heimat; viele von ihnen nahmen nach ihrer Befreiung Rache an den Deutschen, zogen plündernd durchs Land; die Rückführung in ihre Heimatländer wurde zu einem zusätzlichen Problem für die Sieger. Soziale Bindungen waren vielfach zerstört; Millionen Soldaten befanden sich in Gefangenschaft, eine Million wurde vermisst; beim Roten Kreuz stapelten sich die Suchanträge, im Oktober 1946 waren es zehn Millionen, und die Menschen hungerten schon bald, mit Ausnahme der Landbevölkerung, der es nach wie vor relativ gut ging.
Anfang Juli 1945 verließen die anglo-amerikanischen Truppen zur Überraschung der Sowjets und zum Entsetzen der Einwohner Thüringen, Sachsen und Mecklenburg. Im Abstand von drei bis fünf Ki-lometern rückte die Rote Armee nach. Gleichzeitig begaben sich die Westalliierten in ihre Sektoren in Berlin. Dieser Vorgang wurde in der gesamten Weltpresse mit großer Aufmerksamkeit registriert. Auf der Konferenz von Potsdam im Juli 1945 einigten sich Sowjets, Amerikaner und Briten schnell auf bestimmte Grundsätze, nach denen Deutschland zu behandeln war. Dazu gehörten Entwaffnung und Entmilitarisierung, Entnazifizierung, Demokratisierung, Kontrolle der Wirtschaft und Dezentralisierung, das hieß Verzicht auf eine Zentralregierung. Deutschland sollte allerdings als wirtschaftliche Einheit behandelt werden.
Der 6. September 1946 wurde zum historischen Tag – zumindest für die Deutschen in der amerikanischen und britischen Zone. Der amerikanische Außenminister James F. Byrnes kam nach Stuttgart, um die endgültige Abkehr der USA von der Morgenthau-Politik öffentlich zu verkünden. Ende 1944 hatte der damalige amerikanische Finanzminister vorgeschlagen, das deutsche Volk nach dem Ende des Nationalsozialismus streng zu bestrafen, seinen Lebensstandard drastisch zu senken und Deutschland in ein Ackerland zurückzuführen. Byrnes zeigte den Deutschen in seiner »Hoffnungsrede« zum ersten Mal eine Perspektive auf, einen Weg aus dem Elend. Er machte zudem klar, dass amerikanische Truppen, anders als nach dem Ersten Weltkrieg, so lange wie nötig in Deutschland und Europa bleiben würden.
IIm März und April 1947 berieten in Moskau die Außenminister der vier Siegermächte erneut über Deutschland. Die Erfolgsaussichten waren gering. Wieder forderte die Sowjetunion zehn Milliarden US-Dollar an Reparationen, Kriegsentschädigungen. Die Sowjets wollten außerdem an einer Vier-Mächte-Kontrolle des Ruhrgebietes beteiligt werden. Die USA vertrat ein neuer Mann, George C. Mar-shall, General und ehemaliger Stabschef der US-Armee. Er und sein britischer Kollege Ernest Bevin lehnten ab. Sie wollten sowjetischen Einfluss auf die Bizone verhindern. Die französische Forderung nach einer Internationalisierung des Ruhrgebietes stieß auf sowjetischen, amerikanischen und britischen Widerstand. Noch in Moskau beschlossen Bevin und Marshall einen weiteren Schritt auf dem Weg zur Konsolidierung der Bizone.
Das Chaos in Deutschland wurde nach dem furchtbaren Winter 1946/47 noch schlimmer. Die amerikanische Regierung befürchete kommunistische Umstürze in Frankreich und Italien. Nun aber mussten die kommunistischen Minister die Regierungen in Paris und Rom verlassen. Was Präsident Truman angekündigt hatte, konkretisierte sein Außenminister Marshall am 5. Juni 1947: das Angebot umfassender Hilfe für Europa, heute unter dem Namen Marshallplan bekannt. 16 westeuropäische Staaten nahmen das Angebot an und baten um rund 16 Milliarden Dollar Unterstützung, verteilt auf vier Jahre. Die Sowjetunion lehnte die für sie wohl kaum ernst gemeinte Hilfe ab. Stalin zwang die osteuropäischen Staaten ebenfalls zum Verzicht, auch die Tschechoslowakei, deren Regierung die Teilnahme bereits beschlossen hatte. Mit der Unterschrift Trumans unter das entsprechende Gesetz begann die umfassendste Offensive der USA in Europa, der Marshallplan als wirtschaftspolitische Ergänzung der Truman-Doktrin. Truman hatte die Entschlossenheit der USA unterstrichen, alle freien Völker zu unterstützen.
Unterdessen konkretisierten sich die Pläne bei Amerikanern und Briten, einen deutschen Weststaat zu errichten, wirtschaftlich und politisch in sich gefestigt und der Sowjetischen Besatzungszone überlegen, was auch immer die Sowjets dort erreichen würden.
Die Gründung eines Provisoriums
Am 1. Juli 1948 übergaben die Militärgouverneure der USA, Großbritanniens und Frankreichs in Frankfurt am Main den west-deutschen Ministerpräsidenten die sogenannten »Frankfurter Do-kumente«. Den Regierungschefs wurde aufgetragen, zu einem Besatzungsstatut Stellung zu nehmen, das die Beziehungen zwischen den Westalliierten und dem neu zu gründenden Staat regeln sollte. Vor allem aber wurden die Ministerpräsidenten verpflichtet, eine »verfassungsgebende Versammlung« ins Leben zu rufen, die eine Grundordnung ausarbeiten sollte. Einige Ministerpräsidenten zögerten zunächst, denn sie wussten: Was von ihnen verlangt wurde, lief auf die Anerkennung der Teilung Deutschlands hinaus. Die Regierungschefs trösteten sich mit dem Gedanken, dass mit der Gründung des deutschen Weststaates lediglich ein Provisorium geschaffen würde. Für die Westdeutschen gab es zu diesem Zeitpunkt zur Politik der Alliierten keine ernst zu nehmende Alternative. Sie vollzogen lediglich den Willen der Besatzungsmächte.
Wenige Tage vor den Beschlüssen in Frankfurt wurde ein entscheidendes Hemmnis für den wirtschaftlichen Wiederaufstieg Westdeutschlands beseitigt. Am 20. Juni 1948 wurde die lange vor-bereitete Währungsreform durchgeführt. Für diesen Tag X waren Waren gehortet worden. Über Nacht gab es fast alles wieder zu kaufen. Volksvermögen und Geldmenge wurden ins Gleichgewicht ge-bracht. Die im Umlauf befindlichen 300 Milliarden Reichsmark, denen fast keine Warenangebote gegenübergestanden und die das Arbeiten und Verkaufen zur Farce gemacht hatten, verschwanden im Papierwolf. Jeder Bürger in den Westzonen erhielt jene legendären 40 D-Mark »Kopfgeld«.
Am 24. Juni 1948, vier Tage nach der Währungsreform in den Westzonen, zog die sowjetische Militärregierung nach. In der Sowjetischen Besatzungszone und in Ost-Berlin galt von nun an eine neue Währung. Reichsmark oder Rentenmark alten Musters wurden mit Spezialcoupons beklebt. Die westlichen Stadtkommandanten in Berlin verboten diese Währung in ihren Sektoren und verfügten die Einführung von D-Mark-West. Damit hörte auch Berlin auf, ein einheitliches Währungsgebiet zu sein. Vom Sommer 1948 an gab es zwei unterschiedliche Währungen in Deutschland.
Vergebliche Blockade West-Berlins
Die faktische wirtschaftliche und die damit vorgedachte endgültige politische Teilung Deutschlands wollten die Sowjets allerdings nicht hinnehmen. In der Nacht vom 23. auf den 24. Juni 1948 begann die totale Blockade West-Berlins. Die Sowjets sperrten – angeblich aus technischen Gründen – den gesamten Personen- und Güterverkehr nach West-Berlin ab. Stromlieferungen aus dem Ostsektor wurden – vorgeblich wegen Kohlemangels – ebenso eingestellt wie Lebensmittellieferungen. Grund für diese Maßnahmen: Die Sowjetunion forderte auch den Westteil der ehemaligen Reichshauptstadt.
Die Westmächte waren hingegen entschlossen, ihre Deutschlandpolitik fortzusetzen. Die Anglo-Amerikaner organisierten die Luftbrücke. Fast ein Jahr lang wurde Berlin vollständig aus der Luft versorgt. Mit der Blockade West-Berlins versuchte Stalin vergebens, Einfluss auf die Deutschlandpolitik der Westalliierten zu nehmen und sie zu neuen Verhandlungen zu zwingen; auch West-Berlin konnte er nicht kassieren. Im Mai 1949 hoben die Sowjets die Blockade auf. Ihr Ziel, die Westmächte aus Berlin hinauszudrängen und zusätzlich die politische Entwicklung in den Westzonen aufzuhalten, hatten sie nicht erreicht.
Die Gründung der Bundesrepublik
Während die Anglo-Amerikaner Berlin weiter aus der Luft versorgten, versammelte sich in Bonn der Parlamentarische Rat. Er bestand aus 65 Abgeordneten, die von den Fraktionen der westdeutchen Landtage bestimmt worden waren. Sie hatten den Auftrag, die Verfassung für den künftigen neuen Weststaat auszuarbeiten. Die Arbeit des Parlamentarischen Rates wurde von den Mehrheits-verhältnissen bestimmt. Die Sozialdemokraten waren gegenüber den christdemokratischen und liberalen Abgeordneten in der Minderheit. Die Besatzungsmächte achteten peinlich darauf, dass ihre Vorstellungen berücksichtigt wurden. In den monatelangen Verhandlungen wurde weniger gesellschaftspolitisch als staatsrechtlich argumentiert. Die alles entscheidende Frage lautete: Wie einflussreich soll die Regierung des neuen Staates gegenüber den Ländern sein? Die Alliierten lenkten schließlich ein und akzeptierten die deutschen Vorstellungen. In der Endphase der Beratungen des Parlamentarischen Rates standen sie unter Zeitdruck.
Nachdem die »Väter und Mütter des Grundgesetzes« – die 65 Mitglieder des Parlamentarischen Rates – am 23. Mai 1949 in einer feierlichchen Sitzung das Grundgesetz ausgefertigt und verkündet hatten, trat es mit Ablauf dieses Tages in Kraft. Damit war die Bundesrepublik Deutschland gegründet. In einer Ansprache nach der Unterzeichnung sagte Konrad Adenauer: »Heute, am 23. Mai 1949, beginnt ein neuer Abschnitt in der wechselvollen Geschichte unseres Volkes: Heute wird die Bundesrepublik Deutschland in die Geschichte eintreten. Wer die Jahre seit 1933 bewusst erlebt hat, der denkt beweg-ten Herzens daran, dass heute das neue Deutschland entsteht.«
Dann ging es Schlag auf Schlag: Am 14. August 1949 fand die Bundestagswahl, die erste freie Wahl auf deutschem Boden seit der Reichstagswahl vom November 1932, statt. Mit der Wahl Konrad Adenauers zum Bundeskanzler und dessen Amtsantritt am 7. September 1949 war die Bundesrepublik Deutschland Wirklichkeit. Was noch fehlte, war das Staatsoberhaupt, das protokollarisch an der Spitze des Staates steht. Schon am 12. September 1949 wählte die Bundesversammlung in Bonn Theodor Heuss zum ersten Bundespräsidenten. Der FDP-Politiker erreichte im zweiten Wahlgang mit 416 Stimmen und 51,7 Prozent der Wählerinnen und Wähler aus der Bundesversamm-lung die erforderliche Mehrheit. Fortan repräsentierte der angesehene Liberale die junge Bundesrepublik nach innen und nach außen.
Auf der Victoriahöhe in Bonn-Bad Godesberg, in einem Eisenbahner-Erholungsheim, fand der erste Bundespräsident 1949 seinen improvisierten Amtssitz. Zwar hatte die Bundesregierung am 5. April 1950 eine repräsentative Villa in Bonn erworben, aber Heuss scheute den Abstieg ins Rheintal, wie der FDP-Politiker Erich Mende über-liefert haben soll. Schließlich zog Theodor Heuss doch um in die Villa Hammerschmidt, die seit 1950 als Amts- und Wohnsitz des Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland diente. Im Gegensatz zu manchen späteren Amtsinhabern nutzte er die Villa Hammerschmidt auch als Wohnsitz. Sein Nachfolger Heinrich Lübke bewohnte die Villa nicht. Gustav Heinemann entschied sich für den Bau eines überdachten Schwimmbeckens am südlichen Rande des Grundstücks. Walter Scheel ließ vor seinem Einzug Renovierungs- und Umbauarbeiten durchführen sowie während seiner Amtszeit einen Raum im Dachgeschoss für Kinovorführungen ausrüsten. Karl Carstens bewohnte die Villa wiederum nicht. Während der Amtszeit Richard von Weizsäckers (1984–1994) wurde im Dachgeschoss Platz für eine Tischtennisplatte geschaffen. Über Geschichte und Räumlichkeiten der Villa Hammerschmidt ließe sich eine Menge erzählen. Doch dies interessierte die Späher aus Ost-Berlin ebenso wenig wie die vielen Staatsgäste, die hier empfangen und bewirtet wurden.
Aber sogar mit Richtmikrofonen und anderen Werkzeugen und Mitteln und Methoden der Spionage versuchten die »Kundschafter des Friedens« – wie sie im Stasi-Jargon hießen – herauszubekommen, wer die Hausherren der Villa Hammerschmidt waren und welche Bedeutung sie für das politische System der Bundesrepublik Deutschland hatten. Die höchsten Repräsentanten der Bonner Republik standen 40 Jahre lang im besonderen Fokus der DDR-Spionage.
Die Gründung der DDR knapp fünf Monate später
Parallel zur Gründung der Bundesrepublik Deutschland 1949 lief in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) alles auf die Schaffung eines zweiten deutschen Staates hinaus. Der 7. Oktober 1949 ging als Staatsgründung der Deutschen Demokratischen Republik in die Geschichte ein. Nach der Zwangsvereinigung von SPD und KPD zur SED war nun das Politbüro das Machtzentrum der DDR. Dieses Machtzentrum fasste Ende Januar 1950 den Beschluss zur Bildung des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). Die am 15. Oktober gewählte Volkskammer der DDR bestätigte einstimmig das Gesetz über die Bildung eines solchen Ministeriums. Bis Ende des Jahres 1950 beschäftigte die neu gegründete Institution bereits rund 2.700 Mitarbeiter. In den zahlreichen Forschungsarbeiten über die Geschichte der DDR und vor allem über die Geschichte des DDR-Geheimdienstes ist nachzulesen, wie sehr das MfS bei der Früherkennung und Unterdrückung des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953 aus der Sicht des Politbüros versagt hatte und wie es daraufhin dem Innenministerium unterstellt wurde. Erst am 24. November 1955 erhielt das MfS wieder Ministeriumsrang und bekam schon bald den Auslandsnachrichtendienst, die Hauptverwaltung Aufklärung 3(HVA), zugeordnet. Bereits ihre Vorläufer hatten die Bundesre-publik Deutschland fest im Blick und praktizierten umfangreiche nachrichtendienstliche »Arbeit im und nach dem Operationsgebiet«.
Eine gefledderte Akte
Die Stasi-Akte des Bundespräsidenten Theodor Heuss wurde erst am 21. Oktober 1957 angelegt. Dies geht aus der sogenannten Personenkartei F-16, einem Formblatt des MfS, hervor. Sie enthält unter anderem Name, Vorname, Geburtsort, Geburtsdatum, Arbeitsstelle und verantwortliche Diensteinheit des Ministeriums für Staatssicherheit. Verzeichnet werden umfangreiche Recherchen über den Lebenslauf des am 31. Januar 1884 in Brackenheim/Württemberg geborenen Politikers und zeugen vom Interesse des DDR-Geheimdienstes.
Der Leser erfährt bis ins kleinste Detail, dass Heuss das Humanistische Gymnasium in Heilbronn besuchte und Volkswirtschaft und Kunstgeschichte an den Universitäten München und Berlin studierte. Er erfährt, dass er 1905 zum Dr. rer. pol. in München als Schüler von Lujo Brentano promovierte und im selben Jahr Redakteur der von Friedrich Naumann begründeten Wochenschrift Die Hilfe in Berlin, 1912 Chefredakteur der Neckar-Zeitung in Heilbronn und 1918 der Halbmonatsschrift März wurde. Weiter wird gelistet: 1918 Rückkehr nach Berlin in die Leitung des »Deutschen Werkbundes« und der Wochenschrift Deutsche Politik. Von 1920 bis 1933 an der Deutschen Hochschule für Politik. 1933 Entlassung aus dem Lehramt. Von 1933 bis 1936 Herausgeber der Hilfe. Von 1924 bis 1928 und von 1930 bis 1933 Mitglied des Reichstages (Deutsche Demokratische Partei). Freier Mitarbeiter der Frankfurter Zeitung. Nach 1945 Lizenzträger der Rhein-Neckar-Zeitung in Heidelberg. Von 1945 bis Ende 1946 Kultusminister in Württemberg-Baden, Mitglied des Württemberg-Badischen Landtages. Heuss war Vorsitzender der Freien Demokratischen Partei in den Westzonen und Berlin und wurde dann Mitglied des Parlamentarischen Rates.
Am 12. September 1949 wurde er zum Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland gewählt. An dieser Stelle bricht der in wenigen Sätzen beschriebene weitere Lebenslauf des »Schriftstellers und Journalisten« Theodor Heuss in der Stasi-Akte ab. In der Personenkartei F-16 befindet sich noch der Hinweis auf weitere Quellen wie das Reichstagshandbuch von 1932 und das MdR Handbuch der Reichstage (1965), die ebenfalls für den Lebenslauf herangezogen wurden. Als die wichtigste und am häufigsten zitierte Quelle wird das Buch von Erich Stockhorst angegeben: "Fünftausend Köpfe. Wer war was im 3. Reich". Es ist ein biografisches Nachschlagewerk zum Nationalsozialismus, das 1967 erschien und auf 461 Seiten ohne Anspruch auf Vollständigkeit stichpunktartig rund »5000 Kurzbiografien des Personenkreises vorlegt, der die Epoche des Dritten Reiches bestimmt hat«.
Auch in diesem Werk waren Belege für eine braune Vergangenheit von Heuss nicht zu finden. Seine Vita bot keinerlei Anhaltspunkte für Verstrickungen in der Zeit des Nationalsozialismus. Belastendes Material über Lebensführung und berufliche Tätigkeit existiert nicht.
Ob es im Amtssitz des späteren Bundespräsidenten, der Bonner Villa Hammerschmidt, Spitzel gab wie beispielsweise im Kanzleramt und in den Bonner Ministerien, ist nicht mehr zu erforschen. In der Stasi-Akte von Theodor Heuss befindet sich kein einziger Beleg, der auf eine aktive Spionagetätigkeit gegen den ersten Bundespräsidenten hinweist. Möglich ist allerdings, dass mehrere Aktenbände im Herbst 1989 vernichtet worden sind. Schwerpunkt der Aktenvernichtung waren vor allem große Bestände geheimdienstlicher Aktionen aus dem Operationsgebiet, die von der H VA über viele Jahre aus der Bundesrepublik gesammelt worden waren.
Aus der Stasi-Akte von Theodor Heuss geht eindeutig hervor, dass ein umfangreiches Aktenkonvolut bestanden haben muss und fehlt. Aus welchen Gründen gerade die Stasi-Akte des ersten Bundespräsidenten derart gefleddert wurde, kann niemand erklären.
Ein Spionagethriller. Ausgangspunkt: Der Fall William Borm
In den nur 110 Blatt, die die magere Stasi-Akte des ersten Bundespräsidenten umfasst, befindet sich allerdings hochbrisantes Dokumentationsmaterial. Damit hätte das gerade im Aufbau befindliche Ost-Berliner Ministerium für Staatssicherheit zusammen mit der regierungsamtlichen SED-Propagandaabteilung die Wahl von Theodor Heuss zum Bundespräsidenten 1949 verhindern können. Die Gründe dafür lesen sich wie ein guter Krimi: In einem monatelangen Ermittlungsverfahren der DDR gegen den West-Berliner FDP-Funktionär William Borm wurde ein besonderes Geheimnis zutage gefördert. Kein Geringerer als der ehemalige FDP-Bundesvorsitzende und erste Bundespräsident Theodor Heuss war Initiator und Auftraggeber für eine klug angelegte Spionage in der SBZ und späteren DDR.
Dieser Spionagethriller begann am 20. September 1950 mit der Verhaftung des stellvertretenden Vorsitzenden der West-Berliner FDP William Borm. Der 1895 in Hamburg geborene Berliner Fabrikant wurde am Grenzübergang Eisenach-Wartha auf der Transitautobahn von der DDR-Volkspolizei verhaftet. Nach einem fast zweijährigen Ermittlungsverfahren wurde William Borm vom Landgericht Greifswald am 21. Juli 1952 zu zehn Jahren Strafhaft verurteilt. Dieses strafrechtliche Ermittlungsverfahren der Hauptabteilung IX des Ministeriums für Staatssicherheit (Strafverfolgung) ist in der Stasi-Akte von Theodor Heuss komplett dokumentiert.
Dazu gehören unter anderem 14 Vernehmungsprotokolle vom November 1950 bis Mai 1951. Es sind insgesamt 70 eng beschriebene Seiten, von denen jedes einzelne Blatt von William Borm mit dem Vermerk »selbst gelesen, genehmigt, unterschrieben« abgezeichnet worden war. Unterschrieben sind sie vom Vernehmenden, »Referatsleiter i. d. Abtlg. IX des Ministeriums f. Staatssicherheit Oberrat Wunsche«. Die Abteilung IX hatte Befugnisse eines Untersuchungsorgans, das heißt einer kriminalpolizeilichen Ermittlungs-behörde. Aus dem Konvolut geht nicht hervor, ob psychische Gewalt bei den Verhören angewendet wurde. William Borm war geständig, gab sich außerordentlich auskunftsbereit und informierte umfassend und bis ins kleinste Detail, wie es nach welchen Kriterien zur Spionage in der SBZ und späteren DDR für die FDP-Spitze in Bonn gekommen war.
Auf diesen Vernehmungen mit dem umfassenden Geständnis William Borms basiert die Geschichte der von der Bonner FDP-Spitze um Theodor Heuss initiierten, konzipierten und finanzierten Spionagetätigkeit in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und späteren DDR. Hinzu kommen noch die Aussagen nach Verhaftungen von zwei Spionen, die aktiv beteiligt waren. Auch ihnen war der Prozess gemacht worden.
Und so fing alles an: Im Landesverband der Berliner FDP bekleidete William Borm von 1947 bis 1949 das Amt des ersten Schatzmeisters und des stellvertretenden Vorsitzenden des wirtschaftspolitischen Ausschusses. Außerdem war er Vorsitzender der Ortsgruppe Dahlem und Vorstandsmitglied des FDP-Bezirkes Zehlendorf. Im Juni 1949 wurde er zum stellvertretenden Vorsitzenden der Berliner FDP gewählt und auf dem Parteitag im April 1950 als stellvertretender Vorsitzender wiedergewählt. Im Frühjahr 1947 hatte der Berliner Vorsitzende der »Liberal-De-mokratischen-Partei Deutschlands« (LDP) Carl-Hubert Schwennicke William Borm kontaktiert, lange vor der endgültigen Spaltung der Partei, die in der Sowjetischen Besatzungszone weiterhin LDP und fortan in West-Berlin FDP hieß. Bei einem Treffen – so die Angaben von Borm – teilte Schwennicke Borm mit, dass er bei Jugendlichen in der Sowjetischen Besatzungszone mit dem Aufbau einer illegalen Spionageorganisation begonnen habe. Besonders starke Stützpunkte sollten sich an den Universitäten Halle, Jena und Rostock gebildet haben. Als leitender Angestellter des Siemens-Konzerns verfügte Schwennicke nach eigenen Angaben über Informations- und Spionagequellen in den ehemaligen Betrieben dieses Konzerns in der Sowjetischen Besatzungszone, so unter anderem in Arnstadt, Annaberg, Chemnitz und Falkenstein sowie Rostock und Wismar. Nach wie vor werde er von Ingenieuren besucht und informiert.
Die ersten Auftraggeber für die interessante Spionagetätigkeit der FDP an Schwennicke sollen der FDP-Vorsitzende Theodor Heuss, sein Nachfolger Franz Blücher und der FDP-Landesvorsit-zende von Hessen August Martin Euler gewesen sein.
Den ersten Vernehmungen Borms zufolge ging es so weiter: Weil Schwennicke der Umfang der Aufträge, die er alleine durchführte, für die Zukunft zu groß war, bat er Borm, einen Teil dieser Auf-träge in der Umgebung von Dresden zu übernehmen. Nachdem Schwennicke Borms Einverständnis zur Mithilfe bei dieser Art der Spionagetätigkeit bekommen hatte, übergab er ihm einen Teil sei-ner Agenten, über die Borm in der Folge Spionagemitteilungen aus dem Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone sammelte. Die Namen der Borm zugewiesenen vier Agenten sind im Vernehmungspro-tokoll geschwärzt. Die von den Agenten erhaltenen Informationen übergab William Borm regelmäßig an den eigens zu diesem Zweck aus Westdeutschland kommenden Dr. Victor-Emmanuel Preusker.
Der Politiker Preusker war Bundestagsabgeordneter der Liberalen und Mitglied der »Kommission für Volkswirtschaftsfragen« im Vorstand der FDP. Nach Borms Angaben hatte der Volkswirt und Bank-beamte offiziell die Funktion des Sekretärs der FDP-Landesleitung des Landes Hessen inne. In Wirklichkeit aber betrieb Preusker im Auftrag von Theodor Heuss und dem Vorsitzenden der Landesleitung der FDP in Hessen, August Euler, ausschließlich Spionagearbeit gegen die SBZ und spätere Deutsche Demokratische Republik. Er unterhielt die ständige persönliche Verbindung zwischen Berlin und Westdeutschland. Bei ihrem ersten Treffen in Berlin übergab Preusker Borm drei Fragebögen, die Angaben über die durchzuführende Spionagetätigkeit nach drei Gesichtspunkten enthielten:
1. militärische Spionage:
Truppentransporte, Truppenübungen, Truppenbewegungen auf Schienen und Straßen, Art der Fahrzeuge, Fahrzeugnummern, Art der Waffen, Stärke der Formationen.
2. wirtschaftliche Spionage:
Behandlung, Rechtsstellung der Privatunternehmerbetriebe egenüber den volkseigenen. Über die Produktionspläne – Art der Fabrikation und Lieferung. Reparationsleistungen – Art der Reparationsberechnung. Etwaige unmittelbare oder mittelbare Rüstungsindustrie und organisatorischer Aufbauplan (sächsisches Industriekontor). Personelle Besetzung der Schlüsselstellungen.
3. politische Spionage:
Politische Haltung und Stimmung der Bevölkerung in der damaligen Ostzone. Überwachung der Partei- und Massenorganisationen wie Gewerkschaften, Frauenbund, FDJ in personeller und propagandistischer Hinsicht.
Im Vernehmungsprotokoll, in dem »HEUSS« ebenso wie alle anderen Namen grundsätzlich in Großbuchstaben geschrieben steht, erläuterte William Borm, Preusker habe ihm erklärt, dass der Ver-fasser dieser Fragebögen Heuss sei. Etwa Mitte Dezember 1947 stattete der DPD-Vorsitzende der Berliner Organisation einen Besuch anlässlich einer Weihnachtsfeier in einem Lokal in der Belle-Alli-ance-Straße ab. Heuss habe ihm gesagt, er freue sich, dass er, Borm, mit Schwennicke einig geworden sei. Auf die Frage des Vernehmers, was Heuss mit dieser Redewendung gemeint habe, antwortete Borm wörtlich: »Ich war der festen Überzeugung, dass Heuss damit nur die von Schwennicke und mir durchgeführte Spionagetätigkeit meinte.« Borm weiter: »Im Mai 1948 rief mich Preusker aus Frankfurt an, berief sich auf Heuss und forderte mich auf, in dessen Namen die Wiederwahl Schwennickes zum 1. Vorsitzenden der LDP Landesverband Berlin, die zweifelhaft erschien, mit allen Kräften zu unterstützen. Heuss ließ mir sagen, wie wichtig Schwennicke gerade jetzt sei.« Auf die Frage des Vernehmers nach dem Warum antwortete Borm, in dieser Zeit (immerhin 1948) sei seine mit Schwennicke gemeinsam durchgeführte Spionagetätigkeit in vollem Gange gewesen. Heuss habe damit die Wichtigkeit der Spionagetätigkeit durch den von ihm veranlassten Anruf betont.
Im Laufe seiner Vernehmungen informierte Borm darüber, wie er seine Spionageaufträge durchführte. Wie bereits erwähnt, waren es meist Kontaktpersonen, die der LDP in der Sowjetischen Besatzungszone und späteren DDR angehörten und zu einer Agententätigkeit bereit waren. Hierzu gewannen Schwennicke und Borm Agenten aus dem politischen Bekanntenkreis ebenso wie aus langjährigen geschäftlichen Beziehungen. So zählten zu Borms Agentennetz unter anderem ein früherer Hauptmann, ein Rundfunktechniker, ein Elektromeister, Agenten aus Warnemünde oder der Kreise Luckau und Calau. Diese willigen Personen lieferten Erkenntnisse zu Fragen wirtschaftlicher, politischer und militärischer Art, die in das Raster des Fragebogens von Theodor Heuss passten.
Alle Berichte sammelte Borm, um sie Preusker zu übergeben, der das gesamte Berliner Spionagematerial persönlich per Flugzeug in die amerikanische Zone nach Wiesbaden zum FDP-Vorsitzenden von Hessen Gustav Euler brachte. Euler war von Beruf Rechtsanwalt und hatte in Wiesbaden sein Anwaltsbüro, das faktisch der Sammelpunkt für die aus der SBZ und später der DDR eingehenden Informationen war. Hier erfolgte auch die Sortierung dieser Materialien und die Weitergabe. Mit Ausnahme des militärischen Materials wurden die Spionagemeldungen im Büro der FDP-Leitung im Bundesgebiet in der Bonner Moltkestraße 5 für Theodor Heuss zusammengestellt.
Zu Theodor Heuss konnte Borm umfassend Auskunft geben. Dass er der erste Vorsitzende des Bundesvorstandes der FDP in Westdeutschland und bis 1947 Kultusminister in Württemberg-Baden und seit 1949 Bundespräsident in Westdeutschland – wie Borm formulierte – war, musste der Stasi weitestgehend bekannt sein. Was der DDR-Geheimdienst nicht wusste, war, dass der Schriftsteller und Kulturhistoriker Heuss der geistige Urheber dieser im »Dienste des westlichen Imperialismus« stehenden Spionageorganisation war. Aus grundsätzlicher Gegnerschaft gegen die Sowjetunion und die Neuordnung des gesellschaftlichen Lebens in der DDR und in Abhängigkeit vom »deutschen Monopolkapital sowie der feudalen Aristokratie« – wie sich Borm ausdrückte –, versuchte er, durch Gründung des Spionageapparates innerhalb der FDP den Neuaufbau in der DDR zu stören und die Spaltung zu vertiefen.
Heuss soll nach Sichtung des Spionagematerials durch Euler beziehungsweise Blücher dieses Material an die maßgeblichen Kreise und Spionagezentren der Westalliierten sowie der rheinisch-westfälischen Schwerindustrie übergeben haben. Nach Einschätzung von Borm hatte Heuss persönliche Bindungen zu Hohen Kommissaren der Alliierten wie Lucius D. Clay, John McCloy, Brian Robertson, Ivone Kirkpatrick und André François-Poncet, die er durch den englischen politischen Verbindungsoffizier Pearsh mit dem Spionagematerial versorgte. Über diesen Mittelsmann gelangte es zu den alliierten Kommissaren auf dem Petersberg bei Godesberg. Enge persönliche Beziehungen unterhielt Heuss zu den Industriellen Robert Bosch und zu maßgeblichen Kreisen des rheinisch-westfälischen Kapitals. Erneut unterstrich Borm, dass sämtliche Anweisungen zur Spionage von Heuss selbst ausgearbeitet wurden und in Form von Fragebögen an die einzelnen Stützpunkte durch den Mittelsmann Preusker ausgegeben wurden.
Das wirtschaftliche Material ging an den Bundesminister für Angelegenheiten des Marshallplanes Franz Blücher, der es zur Kenntnis nahm und dienstlich in seinem Ministerium verwertete. Blücher war auch Nachfolger des frisch zum Bundespräsidenten gewählten Theodor Heuss im Amt des FDP-Bundesvorsitzenden. Außerdem erhielt der Vorsitzende des FDP-Landesverbandes Nordrhein-West-falen Friedrich Middelhauve das Material. Er war zugleich Bundes-tagsabgeordneter und Vorstandsmitglied im FDP-Bundesvorstand in Bonn. Der Verleger aus dem Ruhrgebiet unterhielt enge Beziehungen zur rheinisch-westfälischen Schwerindustrie, die er mit dem zugeleiteten Spionagematerial aus der DDR versorgte.
Die interessierten Industrie-, Handels- und Finanzkreise des deutschen Industriegebietes leisteten dafür entsprechende Zuschüsse an die Parteikasse. Die erheblichen Beträge gingen an den FDP-Bundesvorstand in Bonn. Mit diesen Geldern konnte auch die Berliner Spionagetätigkeit finanziert werden. Mehrfach erhielt der Agentenführer Borm über Preusker aus dieser gut sprudelnden Finanzquelle für sich und seine Informanten größere Geldbeträge. So habe er einmal 3.000 Reichsmark vor der Währungsreform bekommen und nach der Währungsreform von Preusker persönlich durch die Post 1.100 D-Mark West.
Außerdem gab Borm im Verhör an, achtmal je 300 D-Mark West für jeweils geliefertes Spionagematerial kassiert zu haben, das er an seine Agenten aushändigte. Weiterhin erhielten die Rechercheure in der SBZ und der späteren DDR immer wieder Naturalien in der Form von dringend benötigten Lebensmitteln. Unter den namenlosen Borm-Agenten befand sich ein ganz besonders eifriger Spion, der aus Warnemünde und Umgebung brisantes Material lieferte. Dabei handelte es sich um Informationen aller Art. So zum Beispiel Angaben über Ausfuhren von Schiffen und deren Ladung, über Truppenbewegungen und militärische Übungen, über einen Fliegerhorst bei Warnemünde, über Pioniere und einen Sechstausender-Truppentransport, über Materialausladungen, beispielsweise schwerer und leichter Artillerie, über die Lage einer sowjetischen Tankstelle etwa sieben Kilometer von Warnemünde entfernt.
Die militärischen Fragen des Bogens, die nach Borms Aussagen aus der Feder von Theodor Heuss stammten, waren auf die Generalstäbe der drei westlichen Alliierten zurückzuführen. In ihrem Auf-trag gelangte das gesamte Spionagematerial zur gemeinsamen Auswertung an den früheren »Nazi-General« Franz Halder. Halder war bis 1942 an allen strategischen Planungen der Wehrmacht beteiligt. Hierzu gehörten der Überfall auf Polen, der Westfeldzug und das Unternehmen Barbarossa. Unklar blieb die Rolle Halders im Widerstand gegen Hitler. Aufgrund von Auseinandersetzungen mit Hitler wurde Halder im September 1942 als Generalstabschef abgesetzt. Als Folge des gescheiterten Attentats auf Hitler im Juli 1944 kam es zu umfangreichen Verhaftungen, dabei geriet auch Halder als möglicher Teil einer Widerstandsbewegung vor Kriegsbeginn in den Fokus. Zusammen mit seiner Frau und ältesten Tochter wurde er verhaftet, zunächst im Konzentrationslager Flossenbürg interniert und später von der SS nach Südtirol verschleppt.
Nach der Befreiung durch Wehrmachtssoldaten kam Halder in amerikanische Kriegsgefangenschaft in Italien und wurde im Sommer 1945 entlassen. Im Nürnberger Nachfolgeprozess gegen das Oberkommando der Wehrmacht wurde Halder als Zeuge der Anklage vernommen. Von 1946 bis 1961 arbeitete er als Leiter der deutschen Abteilung der kriegsgeschichtlichen Forschungsgruppe der United States Army, der Operational History (German) Section der Historical Division, in Königstein im Taunus. Der Einfluss, den er von dort auf die Kriegsgeschichtsschreibung des Zweiten Weltkrieges ausübte, wird von Militärhistorikern äußerst kritisch beurteilt. Schließlich waren es Halder und andere Mitarbeiter, die trotz stichhaltiger und umfangreicher Gegenbeweise das Bild der »sauberen Wehrmacht« in der Öffentlichkeit zeichneten.
Preusker, der innerhalb der Spionageorganisation die Funktion innehatte, die Verbindung zwischen Heuss und Euler einerseits sowie den Landesverbänden andererseits – und insbesondere nach Berlin – aufrechtzuerhalten, überbrachte in vielen Fällen das militärische Material direkt an den ehemaligen General Halder zur Auswertung. Nach Preuskers Angaben hatte der frühere Generalstabschef Halder eine Anzahl früherer Offiziere aller Dienstgrade um sich versammelt, mit denen er sich seit Jahren bereithielt, um im gegebenen Moment wieder eine deutsche Wehrmacht mit Einverständnis der westlichen Besatzungsmächte aufstellen zu können. Dieser Kreis um Halder hatte Verbindung zu früheren Nazi-Offizieren, von denen einer Preusker war. So Borm im Verlauf der Stasi-Verhöre.
Preusker hatte nach eigenen Angaben von Mitte 1948 enge und gute Beziehungen zur amerikanischen und britischen Besatzungsmacht. Er nannte dabei beispielhaft James R. Newman, USA, seinerzeit Militär-Gouverneur von Großhessen. Preusker galt nach Borms Aussagen als rührig und geschickt, sodass er das besondere Vertrauen von Heuss, Blücher und Euler genoss. Außerdem hatte Preusker er starke berufliche Bindungen zur Hochfinanz und zur Dresdner Bank, deren Interessen er ja auch als Politiker vertrat.
Borm selbst räumte bei seinen Verhören öfters ein, in Berlin gute Kontakte zu je einem Vertreter des französischen und englischen Geheimdienstes gepflegt zu haben. Ihnen lieferte er ebenfalls von ihm gesammeltes Spionagematerial über die SBZ/DDR ab. Obwohl das MfS im eigenen Haus über direkten Zugang zur NSDAP-Zentralkartei verfügte und bei sämtlichen Bonner Politikern nach einer NSDAP-Mitgliedschaft forschte und sie anprangerte, schien das MfS Preuskers Aufnahme in die NSDAP am 1. Mai 1937 unter der Mitgliedsnummer 5 372 632 nicht zu interessieren. Jedenfalls wurde in zahlreichen anderen Fällen eine »Aktive Maßnahme« eingeleitet, indem der NSDAP-Parteigänger im Operationsgebiet öffentlich gebrandmarkt wurde. Warum Victor Preusker als enger Heuss-Vertrauter »geschont« wurde, ist nicht zu klären.
Flüchtlingsbüros der FDP
In einer späteren Vernehmung berichtete William Borm, dass auf Anweisung von Heuss bei den Vorständen der FDP in Berlin und den Ländern Westdeutschlands sogenannte »Flüchtlingsbüros« ge-schaffen wurden. Unter dem Vorwand der Betreuung von »Flüchtlingen« seien in diesen Büros Informationen aus der SBZ/DDR in der Form von ausführlichen Vernehmungen dieser »Flüchtlinge« anhand von eigens zu diesem Zwecke erstellten Fragebögen gesammelt worden.
Die Flüchtlingsbüros seien organisatorisch von den Landesvorständen unabhängig gewesen und direkt vom Zentralvorstand der FDP in Bonn finanziert worden. In Berlin wurde dieses Büro unter der Leitung des geflohenen ehemaligen leitenden Mitarbeiters des LDP-Landesverbandes Mecklenburg Felix Scheffler in Berlin-Charlottenburg, Schlüterstraße 41 eingerichtet. Unter dem Deckmantel der Flüchtlingsstelle sammelte er hier im Auftrage Schwennickes in besonders reichlichem Maße Spionagematerial aller Art aus und über die DDR, das ihm von den Besuchern der Flüchtlingsstelle teils freiwillig, teils auf seine beziehungsweise Schwennickes Anweisung hin zugetragen wurde. Die von Scheffler geleitete Flüchtlingsstelle in den Räumen des Landesverbandes der FDP Berlin war auch Treffpunkt der von hier ausgesandten Agenten, und er war es auch, der regelmäßig zur Übergabe des gesammelten Spionagematerials nach Bonn reiste.
Flüchtlinge, die sich in der Flüchtlingsstelle meldeten, weil sie in die DDR zurückkehren wollten, wurden nach ihrem Einverständnis mit Spionageaufträgen versehen. Die Art der Aufträge wechselte je nach den Anforderungen, die die Bonner Auftraggeber stellten. Neben dem wichtigsten Agentenführer Schwennicke und seinen eigenen Bemühungen um Spionagematerial über die Führung von seinen drei Agenten nannte William Borm einen weiteren erfolgreichen Agentenführer, den er persönlich gut kannte: Herbert Geissler, der frühere Jugendsekretär des Landesverbandes Berlin und Vor-standsmitglied des Landesverbandes sowie Stadtverordneter der FDP-Fraktion. Von Beruf war er Verleger und vertrieb die von ihm herausgegebene und redigierte Zeitschrift Der Wegweiser von West-Berlin aus mithilfe seiner Vertrauensleute innerhalb der LDP-Jugend in der DDR, insbesondere an der Universität Halle. Geissler unterhielt im Auftrag von Schwennicke ein umfangreiches Agentennetz in der DDR, um ebenfalls Spionagematerial zu sammeln. Er arbeitete ebenso wie Borm nach dem von Heuss entwickelten Fragenkatalog. Und seine Arbeitsergebnisse gingen über Preusker nach Bonn in die FDP-Zentrale, womit auch sie auf den Schreibtisch von Theo-dor Heuss gelangten.
Auf mehrmaliges Befragen seines Vernehmers sagte William Borm wörtlich, »dass der Bundespräsident HEUSS von meiner Spionagetätigkeit wusste und dies billigte«. Im Ermittlungsverfahren gegen Borm fiel der Name Heuss 54 Mal.
Nach Borms Bezeugungen per Unterschrift gelangte das gesamte Spionagematerial auch im ersten Amtsjahr des Bundespräsidenten auf dessen Schreibtisch. Und auch seine Weitergabe an die Vertreter der Alliierten auf dem Petersberg bei Bonn durch den bereits erwähnten britischen Verbindungsoffizier soll weiterhin erfolgt sein.
Im zehnseitigen Abschlussbericht vom 26. April 1952 wurden alle wichtigen Erkenntnisse aus den Borm-Befragungen zusammengefasst. Darüber hinaus sind hier Details des Spionagematerials von zwei anonymisierten Agenten aufgeführt, die bereits in einem gesonderten Verfahren abgeurteilt worden waren. So suchte einer dieser Agenten – dessen Name geschwärzt ist – im Januar 1948 Borm das erste Mal auf. Dabei übergab er ihm den von Heuss ausgearbeiteten Fragebogen zur Anleitung für die von ihm durchzuführenden Spionageaufträge. Der Anonymus lieferte in der Zeit von Januar bis Juli 1948 mehrfach Spionagematerial, das er Borm grundsätzlich in dessen Fabrik in West-Berlin, Feurigstraße, übergab.
Im Einzelnen handelte es sich um »Truppenbewegungen, Truppenübungen, Truppenübungs- und Flugplätze, Truppenerkennungszeichen, Zusammensetzung der Truppen und über den Aufbau einer Rüstungsindustrie. Zusammensetzung der Reparationsleistungen, organisatorischer und personeller Aufbau der Industrieverwaltungen und des sächsischen Industrie-Kontors, Haushaltsplan des Landes Sachsen. Stimmung der Bevölkerung, Aufbau der Parteien und Massen-organisationen in personeller Hinsicht, Aufgaben und Stellung die-ser Organisation, personelle Besetzung der öffentlichen Verwaltung, der Justiz und der Volkspolizei«.
Weiter hieß es im Abschlussbericht, »solches Material lieferte ihm der Agent in dreifacher Ausfertigung«. Die brauchte er, um weitere Interessenten zu versorgen. Im Januar 1948 hatte Borm die Verbindung zum französischen Major De Mrazovich aufgenommen, der an Spionagematerial aus der Sowjetischen Besatzungszone außerordentlich interessiert war. Man kam überein, ihm auch in Zukunft alles aus der Sowjetischen Besatzungszone stammende Spionagematerial in Durchschrift aus-zuhändigen, so wie es nach Bonn zu Heuss gelangte.
Bei späteren Treffen mit dem Agenten im Beisein von Borm sprach sich der Franzose anerkennend über das bisher gelieferte Spionagematerial aus und gab ihm neue Richtlinien für seine weitere Spionagetätigkeit auf dem Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone für die französische Besatzungsmacht mit auf den Weg. Insbesondere verlangte De Mrazovich unter anderem Material über Garnisonsstärke, Truppenverschiebungen, Fahrzeugkennzeichen, Ausbau und Belegung der Truppenübungs- und Flugplätze der Sowjetarmee und Reparationslieferungen an die Sowjetunion. Der französische Major versprach Borm und seinem Agenten, die Spionagetätigkeit durch den französischen Geheimdienst finanzieren zu wollen.
Außerdem war im Abschlussbericht über Borms Verhöre zu lesen, dass er im Januar 1948 mit einem Minister – Name geschwärzt – von der britischen Kommandantur im Lancaster House in Berlin Ver-bindung aufgenommen hatte. Bei seinem dortigen Besuch berichtete Borm, dass er aus Kreisen der LDP in der damaligen Sowjetischen Besatzungszone Spionageinformationen erhalte, die auch für die Briten von Bedeutung sein könnten. Außerdem informierte er, dass er Spionagematerial für seine Auftraggeber Heuss und Preusker erhalte. Daraufhin beauftragte ihn der Anonymus von der bri-tischen Kommandantur in Berlin, auch ihm unbedingt dieses Material zukommen zu lassen. Der ehemalige Offizier und Fachmann für Militärspionage zeigte sich über die ersten Lieferungen sehr zufrieden und bewertete sie als wertvolles Material. Im März 1948 kamen Borm und der Vertreter der britischen Kommandantur in Berlin überein, dass der Borm-Agent seine Spionageberichte direkt ins Lancaster House bringen sollte. Hierbei handelte es sich um das gleiche Material, das Borm an Heuss und an den Franzosen De Mrazovich lieferte.
Allein, die Offenherzigkeit Borms oder aber womöglich ange-drohte oder ausgeübte Gewalt im Strafverfahren nutzten dem Geständigen nichts. Zum Abschluss des zehnseitigen Schlussberichts über Borms Strafverfahren heißt es:
»Der Beschuldigte hat als einer der Vertreter des deutschen Großkapitals in gemeingefährlicher Weise diese politischen Verbrechen begangen in der Absicht, der antifaschistisch-demokratischen Ordnung in der sowjetischen Besatzungszone erheblichen Schaden zuzufügen und die Kriegsvorbereitungen der Feinde des deutschen Volkes zu unterstützen. Durch die verbrecherische Tätigkeit des Beschuldigten gelangten wichtige vertrauliche Dokumente und Informationen in die Hände der imperialistischen Geheimdienste. Der Beschuldigte hat diese verbrecherischen Handlungen als Gegner der antifaschistisch-demokratischen Ordnung begangen und muss dafür hart bestraft werden.«
Unterschrieben ist dieses Dokument vom Volkspolizei-Kommandeur Munche. Dann folgt umfangreiches Beweismaterial zum »Vorgang U 47/50 Borm, William«: 89 Fotokopien an Mitglieder des Bundestages mit persönlichen Angaben, 55 Fotografien an Bundes-tagsmitglieder, 303 Fotokopien von Spionageberichten sowie eine »Hetzbroschüre« zu angeblichen »Wahlfälschungen, Wahlbehinderungen, Wahlbeeinflussungen«. Darauf folgt in der Heuss’schen Stasi-Akte eine Seite mit sechs Schwarz-Weiß-Fotos der Bonner Empfänger des Spionagematerials, von Theodor Heuss bis Thomas Dehler. Schließlich befindet sich auch das sechsseitige Urteil vom 21. Juli 1952 in der Akte. »Im Namen des Volkes« hatte die 1. große Strafkammer des Landgerichts Greifswald in der Strafsache gegen den Fabrikbesitzer William Borm für Recht erkannt:
»Der Angeklagte wird wegen Verbrechens gem. Artikel III A III der Kontrollratsdirektive 38 unter Anrechnung der Untersu- chungshaft zu 10 – zehn – Jahren Gefängnis und den Kosten des Verfahrens verurteilt. Sein Vermögen wird eingezogen.«
Die Kontrollratsdirektive 38, auf die sich das Greifswalder Landgericht berief, regelte im Oktober 1946 die konkrete Ausgestaltung der im Potsdamer Abkommen geforderten Entnazifizierung Deutsch-lands. William Borm war kein Mitglied der NSDAP oder einer ihrer Unterorganisationen gewesen. In Artikel III der Direktive ging es um »Kriegsverbrecher und Personen, die möglicherweise gefährlich werden können«. Zu Letzteren zählte offenbar William Borm.
In einem Brief an den Staatsanwalt in Schwerin von 1956 – ein Teil der Heuss-Akte – unterstützte Thomas Dehler das Gesuch der Ehefrau Borms um den »gnadenweisen Erlass seiner Reststrafe«. Dehler, in dieser Zeit Vorsitzender der FDP-Bundestagsfraktion in Bonn, formulierte, er halte Borm angesichts seines Alters und seiner Persönlichkeit der Gnade für würdig und würde diesen Akt im Zeichen der erhofften allgemeinen Entspannung besonders begrüßen. Nach einem Vierteljahr bekam der FDP-Spitzenpolitiker von einem DDR-Staatsanwalt einen ausführlichen Brief, in dem Borms vorzeitige Entlassung aus der Strafhaft abgelehnt wurde. Dem beigezogenen Bericht der Haftanstalt sei zu entnehmen, dass Borm den gestellten Anforderungen nicht gerecht wurde, was an äußerst mangelhafter Disziplin, schlechter Führung und Arbeitsleistung zu erkennen sei.
Mit dieser Korrespondenz schließt die Akte zu Theodor Heuss. Verständlicherweise wurde in ihr an keiner Stelle die langjährige Agententätigkeit William Borms für das Ministerium für Staatssicherheit nach seiner Haftentlassung 1959 bis zu seinem Tod 1987 im Alter von 92 Jahren erwähnt. Den Schaden, den der Berliner Ehrenbürger vor allem der FDP in Bonn zufügte, ist unermesslich.
Das mehrbändige brisante Verratsmaterial von William Borm unter dem Decknamen IM »Olaf« ist heute im Bundesarchiv einsehbar. Ein Hinweis auf seine Agententätigkeit in der SBZ und späteren DDR im Auftrag von Theodor Heuss ist in der Arbeitsakte des Inoffiziellen Mitarbeiters »Olaf« alias William Borm wiederum nicht zu finden.
Die Aussagen Borms boten der DDR-Auslandsspionage unter der Leitung von Markus Wolf dennoch viel Stoff, um gegen die Bundesrepublik und ihren höchsten Repräsentanten mit sogenannten »Aktiven Maßnahmen« vorzugehen. Zwar befand sich das Mielke-Ministerium bei Amtsantritt von Theodor Heuss erst in der Gründungsphase und verfügte noch nicht über genügend Personal für ausgeklügelte propagandistische Angriffe auf Spitzenpolitiker im »Operationsgebiet«. Allerdings zeigen die Stasi-Akten von Konrad Adenauer und seiner Kabinettsmitglieder, dass es ab Mitte der Fünfzigerjahre dem Ost-Berliner Geheimdienst möglich war, in das Machtzentrum der Bundesrepublik einzudringen, um dort brisante Informationen zu erlangen. Die Versuche, unmittelbare Einflussnahme beim Klassenfeind – besonders in der Politik – zu erreichen, erwiesen sich allerdings als unterschiedlich erfolgreich.
Anlässe für »Aktive Maßnahmen« des DDR-Geheimdienstes, wie sie gegen Heuss’ Nachfolger Heinrich Lübke über Jahre inszeniert wurden, hätte es sehr wohl gegeben. Doch die Ost-Berliner Geheimdienstzentrale verzichtete darauf, den FDP-Bundesvorsitzenden und späteren Bundespräsidenten Theodor Heuss als Initiator, Ideengeber und Mit-Finanzierer eines Spionagenetzes mit gezielten Aktionen in der Bundesrepublik an den Pranger zu stellen. Spätestens vor seiner Wiederwahl zum Bundespräsidenten 1954 hätten lancierte Informationen über diese Tätigkeit eine zweite Amtszeit in Bonn eindeutig verhindert.
Dunkle Flecken
Auch in seiner Vita vor 1945 gab es dunkle Flecken, die Politikern anderer Parteien in vergleichbaren Fällen von den MfS-Agitatoren angelastet wurden. So stimmte Heuss als Reichstagsabgeordneter der »Deutschen Staatspartei« am 23. März 1933 dem Ermächtigungsgesetz zu. Dieses »Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich« sah vor, der Exekutive für einen Zeitraum von vier Jahren das Ge-setzgebungsrecht ohne Mitwirkung von Reichstag und Reichsrat einzuräumen. Außerdem durften auch Gesetze verabschiedet werden, die von der Verfassung abwichen. Mit Ausnahme der SPD nahmen alle Parteien im Reichstag das Gesetz an. In einschlägigen Heuss-Biografien ist zwar nachzulesen, dass er sich in seiner Fraktion zunächst für eine Ablehnung oder zumindest Enthaltung ausgesprochen hatte, weil er sich aber nicht durchsetzen konnte, schloss er sich der Mehrheitsmeinung an. Dieses Abstimmungsverhalten empfand Heuss nach 1945 selbst als Belastung in seiner Biografie. Überhaupt waren die Reaktionen Heuss’ auf die nationalsozialistische Machtübernahme und die Maßnahmen der NS-Regierung recht ambivalent und zeugten vor allem von – wie sein Biograf Ernst Wolfgang Becker schreibt – einer Unterschätzung des totalitären Charakters des Regimes. Zu einer ähnlichen Bewertung kommt auch der Journalist Reiner Burger in seiner Dissertation über Theodor Heuss als Journalist. Für all das hat sich der Auslandsnachrichtendienst der DDR allerdings wenig interessiert.
Für die Ost-Berliner Tschekisten – so wurden die hauptamtlichen Stasi-Mitarbeiter innerhalb des MfS nach dem vom sowjetischen Geheimdienst KGB übernommenen Begriff genannt – hätten sowohl Heuss’ Abstimmungsverhalten als auch seine journalistische Tätigkeit vor 1945 zu einer riesigen Propagandaaktion führen können. Kein Wort darüber in Heuss’ zerfledderter Stasi-Akte. Oder wurde sie gar »bereinigt«? Auffallend auch, dass kein einziger Mitarbeiter der Führungsmannschaft des Präsidialamtes unter Theodor Heuss auf seine Vergangenheit überprüft wurde, wie es in ähnlichen Fällen üblich war.
2019 hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier das Forschungsprojekt »Das Bundespräsidialamt und der Nationalsozialismus« ausgeschrieben. Das Forscherteam unter Leitung des Historikers Norbert Frei nahm 2020 die Arbeit auf und präsentierte Ende 2023 der Öffentlichkeit seine Ergebnisse. Im Namen der Deutschen – Die Bundespräsidenten und die NS-Vergangenheit 1949–1994 hieß das Buch, das brisante Ergebnisse zutage förderte. Darunter auch über leitende Beamte des Amtes, die einst der NSDAP angehört hatten. So zum Beispiel der erste Chef des Bundespräsidialamtes Dr. Manfred Klaiber. Er war 1934 NSDAP-Mitglied geworden, hatte aber in seinem Entnazifizierungsverfahren 1936 als Jahr des Parteieintritts angegeben. Im beschleunigten Verfahren 1947 wurde er nach Recherchen des Historikers Norbert Frei als »Entlasteter« eingestuft und galt daher als geeignet für den Staatsdienst. Eigentlich wäre die Beamtenkarriere dieses Mannes ein gefundenes Fressen für Propagandaaktionen des DDR-Geheimdienstes gewesen. In vergleichbaren Fällen stellte er NSDAP-Mitglieder an den Pranger, wie noch dokumentiert wird. Warum, das bleibt unklar.
Ein Geistesverwandter der Amerikaner
Nachdem am 5. Mai 1955 die Pariser Verträge in Kraft getreten waren, die Bundesrepublik der Westeuropäischen Union beigetreten war und NATO-Mitglied wurde, galt sie damit politisch als gleichberechtigter Staat im westlichen Bündnis. Unter gewissen Vorbehalten war die Bundesrepublik souverän geworden. Ab diesem Zeitpunkt konnte auch der Bundespräsident offizielle Auslandsreisen durch-führen. Und Heuss machte davon regen Gebrauch. Von 1956 bis 1958 absolvierte er sieben Reisen: Griechenland, Türkei, Italien, Vatikanstadt, Kanada, Vereinigte Staaten und Vereinigtes Königreich. Das Interesse an den außenpolitischen Beziehungen Bonns war allerdings beim MfS offenbar noch nicht geweckt. In Heuss’ Stasi-Akte befindet sich kein einziger Spitzelbericht über die Reisen des ersten Bundespräsidenten. Das sollte sich bei seinen Nachfolgern merklich ändern.
Und noch etwas findet kaum Beachtung in den Resten der Stasi-Akte, obwohl es doch zentral gewesen sein dürfte: Heuss’ Verbindungen zum amerikanischen Geheimdienst. Im Jahr 2020 erschien in der Zeitschrift Studies in Intellígence ein zwölfseitiger Aufsatz des amerikanischen Historikers Thomas Boghardt unter dem Titel »Der amerikanische Kandidat. Die US-Geheimdienste, Theodor Heuss und der Weg zum ersten Bundespräsidenten«.
In diesem Beitrag beschreibt Boghardt die enge Verbindung zwischen dem FDP-Politiker Heuss und der amerikanischen Besatzungsmacht. Nachdem Heidelberg Ende März 1945 von der 63. Infanteriedivision der US Army besetzt worden war, stattete der Oberleutnant John H. Boxer von der Einheit für psychologische Kriegsführung Heuss einen Besuch ab. Es ging um den Aufbau einer freien Presse. Der Auftrag bestand darin – so Boghardt –, Heuss auf seine Eignung hin zu überprüfen. In der Zwischenzeit hatte Boxer seinem Vorgesetzten Shepard Stone Heuss als Zeitungsredakteur empfohlen. Im Krieg hatte er für den US-Militärgeheimdienst gearbeitet.
Nach Boghardts Angaben kam er im Sommer 1945 dann als Geheimdienstchef des »District Information Services Control Command« (DISCC), einer Abteilung der »Psychological Warfare Division« mit Sitz in der Nähe von Frankfurt, zurück. Deren Aufgabe bestand darin, »eine neue, demokratische Presse und Rundfunk sowie Bücher- und Zeitschriftenverlage frei von nationalsozialistischem Einfluss für die kommen-den Jahre aufzubauen«. Nach intensiven Prüfungen sprach für die Geheimdienstler nichts wirklich gegen Heuss, und so wurde Heuss und seinen Partnern für die Rhein-Neckar-Zeitung die Lizenz erteilt.
Die Amerikaner unterstützten Heuss’ Rückkehr auf die politische Bühne nach 1945 kräftig. Im Sommer 1945 ernannten sie Reinhold Maier zum ersten deutschen Ministerpräsidenten Württemberg-Badens. Theodor Heuss übernahm auf Vorschlag der US-Vertreter das Kultministerium. So schaffte er den Sprung von der Lokal- in die Landespolitik. Einem Dokument zufolge, das heute im Berliner Bundesarchiv liegt, hat die Ernennung möglicherweise aber auch für intensivere Beziehungen zwischen Heuss und den US-Nachrichtendiensten gesorgt. Im Januar 1961 schickten die sowjetischen Geheimdienste ihren Kollegen in der DDR eine angebliche Aussage einer nicht näher benannten Person zu, die offenbar genaue Kenntnisse über den US-Militärgeheimdienst Counter Intelligence Corps (CIC) im Nachkriegsdeutschland besaß. Das Dokument und sein Zusammenhang deuten dabei auf einen amerikanischen Überläufer als Quelle hin. Aufgrund seines exklusiven Inhalts empfiehlt es sich, die Aussage hier in voller Länge zu zitieren. Nach der deutschen Übersetzung des russischen Ausgangstextes machte die sowjetische Quelle die folgende Aussage:
»Im Dezember 1948 war der zivile (CIC)-Angestellte John Seitz in Stuttgart (Westdeutschland) für die Unterabteilung Spionageabwehr tätig. Seitz arbeitete bereits seit Juni oder Juli 1945 für das CIC in Stuttgart. Seitz ist in Deutschland geboren und besuchte dort die Volksschule. Später war er in die Vereinigten Staaten ausgewandert. Seitz war als bester Mitarbeiter bekannt, den wir in der Spionageabwehr in der Region Stuttgart je hatten. Einmal gingen Seitz und ich zu einem Abendempfang. Als die Feier zu Ende ging, schlug Seitz einen Besuch in einem Nachtklub auf dem Weg zur ›Reiter-Kaserne‹, dem örtlichen CIC-Hauptsitz, vor. Seitz war eigentlich sehr schweigsam und sprach kaum über seine Arbeit. Doch an diesem Abend hatte er zu viel getrunken. Er erzählte mir, dass Theodor Heuss ein Informant sei, den er 1946 angeworben hatte. Heuss habe ihm zwischen 1946 und 1947 zahlreiche Berichte zur politischen Lage in den Bezirken Stuttgart und Heidelberg vorgelegt. Seitz berichtete weiter, dass der operative Arm des CIC die Informationen von Heuss zwar interessant gefunden habe, diese für die Zentrale aber nur von geringem Wert gewesen seien. Diese Einschätzung geht auf das Jahr 1947 zurück. In der Folge seien die Zahlungen an Heuss im Austausch für dessen Informationen eingestellt worden. Ich muss mich korrigieren: Seitz berichtete mir dies im Dezember 1949, nicht im Dezember 1948. Anlass war Heuss’ Wahl zum Bundespräsidenten. Seitz gab an, dass Heuss’ unterschriebene Berichte bei uns archiviert worden seien und wir sie verwenden könnten, falls wir Druck auf Heuss ausüben wollten. Für seine Tätigkeit als CIC-Informant sei er bezahlt worden.«
Wenn sich auch die Identität des Überläufers nicht klären lässt, so ist das Dokument doch mit Blick auf die ursprüngliche Quelle zu Heuss’ Verbindung zum US-Nachrichtendienst eindeutig: Es han-delt sich nach den Erkenntnissen des Historikers Boghardt um ein CIC-Mitglied namens »John Seitz«. Und tatsächlich arbeitete in der Nachkriegszeit ein John H. Seitz beim CIC in Südwestdeutschland. Boghardt stellt weiterhin fest, dass die verfügbaren Beweise jedoch nicht ausreichen, um die sowjetische Behauptung einer Anwerbung von Heuss durch das CIC zu untermauern oder zu widerlegen.
Das DDR-Dokument passt zu den engen und freundschaftlichen Beziehungen, die der spätere Bundespräsident zu Vertretern der US-Militärregierung und den amerikanischen Nachrichtendiens-ten pflegte. Boghardt wörtlich: »Heuss traf sich regelmäßig mit US-Vertretern, erteilte bereitwillig politische Ratschläge und erhielt um-fangreiche Unterstützung von den Amerikanern. Ob er tatsächlich ein ›amerikanischer Spion‹ war, ist, historisch betrachtet, weitaus weniger relevant als seine gut dokumentierte Verbindung zu Ver-tretern der Besatzungsmacht.« Drei Tage nach seiner Wahl erstellte das CIC einen Persönlichkeitsbericht zu Heuss. Zwar sei Professor Heuss selbst nicht Gegenstand der Spionageabwehr. Dennoch sollte aufgrund seiner herausgehobenen Stellung im öffentlichen Leben ein vollständiger Überblick über seinen persönlichen Werdegang in der Zentrale abgelegt werden.
Thomas Boghardt kommt am Ende seiner Veröffentlichung zu dem Schluss:
»Obwohl Heuss sich immer treu blieb, wäre sein kometenhafter Aufstieg ohne die Unterstützung der USA undenkbar gewesen. Diese Unterstützung erhielt er, weil die Amerikaner in ihm einen Geistesverwandten sahen, dem sie zutrauten, den noch jungen Staat zu einer freiheitlichen, fest im westlichen Bündnis verankerten Demokratie zu machen. Ob ihre Bemühungen Früchte tragen würden, sollte sich jedoch erst nach dem Ende der Besatzungszeit herausstellen.«
Ohne Frage: Heuss’ Zusammenarbeit mit der amerikanischen Besatzungsmacht hat ihn in sein Amt gebracht. Ohne deren massiven Einsatz wäre Theodor Heuss kaum Bundespräsident geworden.
Heribert Schwan
Weiter im Überblick: Gefälschte Akten über Bundespräsident Heinrich Lübke
Das umfangreiche Aktenkonvolut des MfS über den zweiten Bundespräsidenten, den CDU-Politiker Heinrich Lübke, der sein Amt von 1959 bis 1969 ausübte, ist als Geheimdienst-Machwerk aus tatsächlichen und erlogenen Informationen nicht zu überbieten. Mit gefälschten Dokumenten wurde Lübke zum angeblichen »KZ-Baumeister« gemacht. Das war er sicherlich nicht. Der gelernte Vermessungsingenieur und stellvertretende Leiter der sogenannten »Baugruppe Schlempp« spielte aber eine herausragende Rolle bei sämtlichen Bauaufträgen im Dienste der NS-Rüstungsindustrie. Er hatte intensive Kenntnis vom Umgang mit KZ-Häftlingen – Männern und Frauen –, Zwangsarbeitern und Gefängnisinsassen. Bei zahllosen Bauvorhaben erlebte er hautnah den Einsatz dieser Menschen, ihre menschenunwürdige Behandlung, ihre Ausbeutung bis zur Erschöpfung und schließlich bis zum Tod. All das war Lübke über Jahre bekannt. Darüber hat der spätere Bundespräsident ein Leben lang geschwiegen.
Von der Stasi geschont: Heinemann und Scheel
Das Interesse des Ost-Berliner Ministeriums für Staatssicherheit am dritten Bundespräsidenten, dem Sozialdemokraten Gustav Heinemann (1969 bis 1974), war nicht besonders ausgeprägt. Bei Heinemann, einem der führenden Männer der Bekennenden Kirche in der NS-Zeit, kamen die Spione zu dem Befund, dass der neue Mann an der Spitze der Bundesrepublik Deutschland lange Zeit eine »fortschrittliche Rolle« gespielt habe, etwa durch seinen Kampf gegen die Wiederaufrüstung und für die Verständigung mit der DDR.
Die Stasi-Akte des vierten Bundespräsidenten, des FDP-Politikers Walter Scheel (1974 bis 1979), wurde bereits in den Fünfzigerjahren angelegt. Bei ihren Recherchen förderten die Stasi-Schnüffler unter anderem zutage, dass Scheel seit 1941 Mitglied der NSDAP gewesen war. Anders als in anderen Fällen nutzte der DDR-Geheimdienst ein Herrschaftswissen über Scheels NSDAP-Mitgliedschaft nicht, um Aktionen gegen ihn zu unternehmen. Der ehemalige Bundesaußenminister und Mitarchitekt der Bonner Ostpolitik wurde spürbar geschont.
Genauer im Blick: Karl Carstens
Nachfolger Walter Scheels wurde Karl Carstens, fünfter Bundespräsident von 1979 bis 1984. Ins Fadenkreuz des Ministeriums für Staatssicherheit geriet der CDU-Politiker bereits Mitte der Sechzigerjahre. Seine Vita wurde ausführlich erforscht und in seiner Stasi-Akte dokumentiert. Unter anderem fanden die Stasi-Rechercheure auch belastendes Material aus der Zeit des Nationalsozialismus, das sich bei heutigen Recherchen bestätigen lässt. Danach hatte Carstens im November 1937 die NSDAP-Mitgliedschaft beantragt. Detailliert beschäftigte sich das Ministerium für Staatssicherheit mit Carstens’ Militärkarriere. Schon wegen seiner steilen politischen Laufbahn als hoher Beamter in den Bonner Ministerien wie auch als Oppositionsführer der CDU/CSU-Fraktion und als Präsident des Deutschen Bundestages stand Karl Carstens unter ständiger Kontrolle der Berliner Schnüffler. In seine Amtszeit als Bundespräsident fiel die Perfektionierung der Funkaufklärung: das tausendfache Abhören und Abgreifen der Telefon- und Telex-Verbindungen zwischen BRD und DDR sowie BRD und West-Berlin.
Schonend behandelt: Richard von Weizsäcker
Richard von Weizsäcker, der sechste Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland (1984 bis 1994), hatte schon als Regierender Bürgermeister von Berlin ab 1981 die Stasi-Spitzel an seinen Fersen. Weizsäckers Leben wurde ebenso ausgeleuchtet wie seine politischen Aktivitäten – ob als Regierender Bürgermeister oder als Bundespräsident.
Der nebenstehend abgedruckte Text ist mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Wilhelm Heyne Verlags dem Buch entnommen: Heribert Schwan, »Heuss weiß es und billigt es«. Die erstaunliche Geschichte der Bundespräsidenten und ihrer Ausspähung durch die DDR-Staatssicherheit, München 2024.
Der nebenstehend abgedruckte Text ist mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Wilhelm Heyne Verlags dem Buch entnommen: Heribert Schwan, »Heuss weiß es und billigt es«. Die erstaunliche Geschichte der Bundespräsidenten und ihrer Ausspähung durch die DDR-Staatssicherheit, München 2024.
Die Mittel und Methoden des DDR-Geheimdienstes lassen sich am Beispiel des umfangreichen Aktenkonvoluts zu Richard von Weizsäcker besonders gut dokumentieren. Seine Gespräche mit Vertretern der Kirche in der DDR, mit Künstlern und SED-Spitzenfunktionären wurden minutiös dokumentiert. Auffallend war allerdings, dass in den Stasi-Auskunftsberichten über die Familie die Verstrickungen seines Vaters in der NS-Zeit als Staatssekretär im Außenministerium keine Rolle spielten. Dessen NSDAP- und SS-Mitgliedschaft ebenso wie die NSDAP-Mitgliedschaft von Richard von Weizsäckers Mutter fanden keine Erwähnung.
Auch die steile Militärkarriere Richard von Weizsäckers als Hauptmann in der »faschistischen Wehrmacht« wurde im Gegensatz zu belastenden Befunden bei Weizsäckers Vorgängern Heinrich Lübke und Karl Carstens lediglich mit einem einzigen Satz erwähnt. Auch Weizsäckers Doktorvater, ein überzeugter Nationalsozialist mit NSDAP-Mitgliedschaft und einer aktiven Rolle im Nationalsozialismus, fand bei der Ausleuchtung der Familie, des Studien- und Freundeskreises durch den DDR-Geheimdienst keine Erwähnung. Bundespräsident Richard von Weizsäcker erfuhr durch das MfS über Jahre eine bevorzugte Behandlung – nämlich die des Verschweigens und des Verzichts auf unangenehme Veröffentlichungen.
Eine der wichtigsten Quellen im Stasi-Unterlagen-Archiv, die einen Einblick in die MfS-Auslandsspionage gegen die Bundesrepublik Deutschland ermöglicht, ist die 1998 entschlüsselte sogenannte SIRA-Datenbank. In dieser Datenbank erfasste die HVA alle Informationen, die sie mit geheimdienstlichen Mitteln zwischen 1969 und 1989 beschaffen konnte. Dabei handelt es sich beispielsweise um Berichte von »Inoffiziellen Mitarbeitern« (IM) oder um Dokumente, die ein IM lieferte. Die SIRA-Datenbank wurde besonders ausgewertet. Ohne sie wäre diese Recherche nicht möglich gewesen. Sie belegt, wie die Staatssicherheit keine Kosten und Mühen scheute, um die Bundespräsidenten zu Propagandazwecken auszuspähen – und wie sie, wenn es ihrer Sache diente, mitunter sogar fälschend tätig wurde.
Zitierweise: Heribert Schwan, „Die Stasi und die Bundespräsidenten", in: Deutschland Archiv, 25.04.2024 Link: www.bpb.de/547780. Der Text ist dem soeben im Wilhelm Heyne Verlag der Verlagsgruppe Penguin Random House erschienenen Buch entnommen: Heribert Schwan, »Heuss weiß es und billigt es«. Die erstaunliche Geschichte der Bundespräsidenten und ihrer Ausspähung durch die DDR-Staatssicherheit, München 2024, S. 7-11 und 13-41. Alle Beiträge im Deutschland Archiv sind Recherchen und Sichtweisen der jeweiligen Autoren und Autorinnen, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar. (hk)