Dienstag, der 19. März 2024, drei Tage vor der Leipziger Buchmesse. Buchpremiere in der Berliner Niederlassung der Bundeszentrale für politische Bildung. Vorgestellt wird „Jena Paradies – Die letzte Reise des Matthias Domaschk“ von seinem Autor, dem langjährigen ARD- und Spiegel-Journalisten Peter Wensierski. Sein Rechercheband erschien zunächst 2023 im Berliner Ch. Links Verlag. Auf 365 Seiten rekonstruiert Wensierski akribisch, wie es am 12. April 1981 in der Geraer Stasi-Untersuchungshaftanstalt zum Selbstmord des 23 Jahre alten Matthias Domaschk aus Jena kam.
Mit Peter Rösch, einem guten Freund aus Jena, hatte dieser zu einer Party nach Berlin reisen wollen, ahnte aber nicht, dass beide auf der Beobachtungsliste der DDR-Geheimpolizei Stasi standen. Sie wurden pauschal als „negative“ Person geführt und als „anarchistisch-terroristisch“ eingestuft, nur weil sie dem SED-Machtsystem misstrauten und beispielsweise für Umweltschutz eintraten. Durch bloßes, schon durch lange Haare verursachtes Anecken von der Stasi zum vermeintlichen „Staatsfeind“ stilisiert zu werden, das war in der DDR ein hohes Risiko für Heranwachsende wie ihn, die auf einer eigenen Meinung und Bewegungsfreiheit beharrten und sich mit kritischen Geistern, wie dem 1976 ausgebürgerten Wolf Biermann solidarisierten. Schnell wurde daraufhin Schul- und Berufswege verbaut und in der Regel der Pass abgenommen, was Reisen kolossal erschwerte.
Die von ideologischen Feindbildern geprägte DDR-Staatssicherheit hatte damals, im April 1981, für 11.473 solcher potenzieller „Störenfriede“ DDR-weit Kontrollmaßnahmen eingeleitet und mit 6.223 aus Stasi-Sicht „negativen“ Personen vorbeugende Gespräche zur unerwünschten Einreise in die Hauptstadt der DDR (also nach Ost-Berlin) geführt, da dort zeitgleich ein Parteitag der Staatspartei SED stattfand und Parteitagsgeschehen und Stadtbild nicht gestört werden durften. 6.000 Transportpolizisten waren im Sondereinsatz um in Zügen und auf Bahnhöfen Verdachtskontrollen durchzuführen.
Auch für Matthias Domaschk galt (ohne sein Wissen) ein solches „Berlinverbot“, denn er und seine große Freundesszene in Thüringen stammte mehrheitlich aus alternativen, ökologisch und kirchlich geprägten Milieus. Das wirkte sich im Alltag so aus, dass Ausgrenzung und Stigmatisierung an der Tagesordnung waren. Als Matthias Domaschk sich etwa weigerte, zu Ehren von SED-Chef Walter Ulbrichts Geburtstag an einer schulischen „Arbeitsverpflichtung“ teilzunehmen, da er zeitgleich einen Christenlehre-Termin wahrnehmen wollte, wurde er von seiner Lehrerin angeschnauzt: „Wenn du da hingehst und nicht bei uns mitmachst, dann bist du gegen den Frieden.“ Und kurz vor dem Abitur, noch von einem Archäologiestudium träumend, wurde er ausschließlich aus politischen Gründen von der Schule redelegiert.
All solche, zum Kopfschütteln Anlass gebende Mosaiksteine aus dem kurzen Leben des Matthias Domaschk trägt Peter Wensierski in seinem Buch sorgfältig zusammen, aber er recherchiert genauso intensiv den Biografien verantwortlicher und vor allem karrieristischer Stasi-Leute hinterher, die Domaschk aus dem Zug nach Berlin holen lassen und, in Einzelhaft isoliert, in Gera so unter Druck setzen, bis er vermeintliche Feindkontakte zugibt und eine Stasiverpflichtung unterschreibt – und sich aufgrund seiner Gewissensbisse daraufhin erhängt: „wenn man zwischen zwei mühlsteinen sitzt/ muss man sich entscheiden/ entweder man lässt sich zu mehl verarbeiten/ und kommt in die großen säcke/ oder man sucht nach einem ausweg“, hatte Matthias Domaschk im Februar 1978 einem Freund geschrieben, auch das wird von Wensierski zitiert.
Der sensible junge Mann sah damals, am Mittag des 12. April 1981, keinen anderen Ausweg mehr als den Tod und war damit nicht alleine. Anderthalbmal bis doppelt so viele Menschen wie in der Bundesrepublik verübten in der DDR Suizid, ein damals verschwiegenes Thema, das heute Wissenschaftler*innen mühsam aufarbeiten.
"Für mich ist entscheidend, wo er gestorben ist.
Mir ist egal, wie er starb [...]. Das spielt alles keine Rolle.
Das Einzige, was immer entscheidend war, war der Ort
und dass er zu diesem Ort nicht freiwillig gegangen ist."
Dorothea Fischer, Friedensgemeinschaft Jena.
Gäste auch mit Stasi-Wurzeln
Die soeben erschienene bpb-Ausgabe von "Jena Paradies", erhältlich für 4,50 Euro in der bpd-Schriftenreihe, Band 11082.
Die soeben erschienene bpb-Ausgabe von "Jena Paradies", erhältlich für 4,50 Euro in der bpd-Schriftenreihe, Band 11082.
Zur Buchpremiere von "Jena Paradies" in der bpb hatte sich die Redaktion des Deutschland Archivs zunächst darum bemüht, einen vor dem Mauerfall verantwortlichen Jugendpolitiker der DDR aufs Podium einzuladen, den zwischen 1983 und dem Herbst 1989 amtierenden Vorsitzenden der staatstreuen Jugendorganisation FDJ (Freie Deutsche Jugend), Eberhard Aurich. Aurich hat seit der deutschen Vereinigung vergleichsweise selbstkritisch den Autoritarismus des SED-Systems hinterfragt und dazu im Selbstverlag ein
Aber der ehemalige Jugendfunktionär sagte wieder ab, denn die FDJ habe sich mit solchen Jugendlichen, "von denen in den Büchern von Wensierski die Rede ist", kaum befasst. Er könne also nichts zu einem Thema sagen, wozu er "gar nicht kompetent" sei. Außerdem fände er die DDR-Bezogenheit des Themas "fragwürdig", denn auch die westliche Gesellschaft habe damals "Gammler, Halbstarke und später Punks" ausgegrenzt.
Auf Anhieb zu sagte dagegen als Diskussionsteilnehmer Bernd Roth, einer der wenigen MfS-Leute, aus Gera, der schon seit einigen Jahren in Aufsätzen und Interviews über sein damaliges Denken und Handeln reflektiert, seine eigenen Stasi-Akten hat er mittlerweile auch im Selbstverlag publiziert
"Worum es mir geht, ist, dass wir, die „Täter“, Teil der Diskussion werden. Wenn jemand zwei Jahre zu Unrecht im Knast gesessen hat, dann kann ich das dadurch entstandene Leid natürlich nicht lindern. Natürlich nicht, aber ich kann ein Klima erzeugen, in dem Sachen besprochen werden können. Das könnte den Opfern helfen, aber diesen Austausch hat es nie gegeben, der war nicht gewollt".
Roth zeigt auch offen Bitternis gegenüber ehemaligen Kollegen, die selten bereit seien, „aus ihrer Blase auszubrechen" um offen darüber zu reden, wie kaltherzig sie IMs "zu schlichten Nummern" machten und gewissenlos operationalisierten, auch um ihre eigenen Karrieren voranzubringen. In "Jena Paradies" beschreibt Peter Wensierski eindrücklich, wie sich die damals Beteiligten selber lobten, beim veränstigten Matthias Domaschk "mit einem gesunden Maß an Härte" erfolgreich gewesen zu sein, als sei ein Triumph zu feiern: "Der Junge hat geliefert, der besitzt Perspektive, den machen wir zum IMB".
Dreistündige Debatte
Kein volles, aber ein ausdauerndes Publikum - über drei Stunden. Rund 50 Zuhörende und Mitdiskutanten kamen in die Berliner Dependance der bpb in der Friedrichstraße 50. (© bpb / H.Kulick)
Kein volles, aber ein ausdauerndes Publikum - über drei Stunden. Rund 50 Zuhörende und Mitdiskutanten kamen in die Berliner Dependance der bpb in der Friedrichstraße 50. (© bpb / H.Kulick)
Was es bei uns in der bpb im Rahmen einer Buchvorstellung noch nie zuvor so gab: Es wurde intensivst über drei Stunden miteinander diskutiert und auch gestritten, lehrreich wurden Standpunkte ausgetauscht, zwischen einstigen Weggefährten Domaschks, anwesenden Historiker*innen, dem Buchautor Wensierski, und dann auch von Gästen im Publikum, die wir nicht erwartet hatten: weitere Ehemalige aus dem MfS.
Einer von ihnen, der nach dem Mauerfall langjährige Bankangestellte Oliver Laudahn, schilderte uns am Folgetag in einer E-Mail seinen Eindruck dieses Abends und hat uns erlaubt, dies hier zu veröffentlichen. Zwischen 1985 und 1990 hatte er dem MfS zunächst in Neubrandenburg angehört und war dann in Berlin im operativ-technischen Sektor "OTS" des Ministeriums für Staatssicherheit tätig:
„…Ich war zunächst überrascht, dass der Saal nicht brechend voll war. Ich erinnere mich an die Lesung von Peter Wensierski vor circa einem Jahr im Pfefferberg; da sah es anders aus. Aber da war sein Buch über Matthias Domaschk ja auch gerade erschienen, das Interesse war groß und der Andrang, mehr zu erfahren, dementsprechend hoch. Gestern aber hätten gut und gern noch einmal so viele Zuhörer kommen können – dachte ich zumindest. Im Verlauf des Abends zeigte sich jedoch, dass die Zuhörermenge genau richtig war für die Diskussion im Publikum und mit den beiden Menschen auf der Bühne. Eine Diskussion, die Emotionen zum Ausdruck brachte, auch bei mir. Im Publikum wurde teils heftig gestritten über gegenseitige Biografien, über Lebenswege in der DDR, die gegensätzlicher nicht hätten sein können und doch so typisch für eine Diktatur waren. Täter wie Bernd Roth und ich und Betroffene von Willkür und Haft.
Eigentlich wollte ich (wieder einmal) nichts sagen, tat es aber doch, einerseits, weil ich Bernd korrigieren wollte, andererseits: Wird es nach über 30 Jahren ohne Mauer nicht Zeit, alte Denkschemen zu überwinden? Und der Abend zeigte (wieder einmal), dass man einander zuhören kann, ohne sich an die Gurgel zu springen, indem man sich gegenseitig akzeptiert. Respekt und Verständnis hatte ich auch gar nicht erwartet, dafür sind Wunden zu groß – Matthias Domaschk ist ein Beispiel -, aber Akzeptanz. Und auf diese Akzeptanz – bei aller notwendigen Kritik am eigenen Tun und Handeln – kommt es an, damit sich eine Diktatur wie die DDR niemals wiederholt. Leider scheint es so, dass viele Menschen – nicht nur in Deutschland – die Vergangenheit vergessen haben oder vergessen wollen, weil die denken, dass sie benachteiligt sind und sie sich wieder sehnen nach einer „Wohlfühldiktatur“.
Bemüht, alte Denkschemen zu überwinden: die Diskutanten Peter Wensierski (Vordergrund )und Ex-Stasimann Bernd Roth. (© bpb / Holger Kulick)
Bemüht, alte Denkschemen zu überwinden: die Diskutanten Peter Wensierski (Vordergrund )und Ex-Stasimann Bernd Roth. (© bpb / Holger Kulick)
Sehnsucht nach einer Diktatur, in der man sich „wohl fühlt“? Wo man wieder meckert, wenn es in den Läden dies und jenes nicht gibt? Wo die Russen raus sollten, weil man sie als Besatzer gesehen hat – zu Recht, was auch vergessen wird? Sehnsucht nach einer Diktatur, wo der einzelne nichts zählt, die Partei aber alles? Ein Staat, der Zettelfalten als „Wahlen“ bezeichnete und in dem man sich mehrheitlich nicht traute, die Wahlkabine aufzusuchen? Aber es ist natürlich einfach, seine ganz persönliche Verantwortung auf einen Diktator abzuschieben, den man dann auch für alles verantwortlich machen kann. Blöd nur, wenn dieser Diktator sich nicht verantwortlich machen lassen will, sondern seine brutale Macht zeigt, wenn man denn etwas gegen ihn hat, es muss nicht viel sein; die Forderung nach ein wenig mehr Freiheit reicht da schon aus. Na klar, die DDR war nicht das Dritte Reich und in ihr war nicht alles schlecht (wie weiland bei den Nazis eben auch nicht). Aber der Preis für dieses angebliche Wohlfühlen war unbedingte Anpassung, unbedingte Loyalität. Wer das in die eine oder andere Richtung nicht wollte, spürte Konsequenzen: Ausgrenzung, Vernichtung, Tod. Matthias Domaschk war ja nicht der einzige: Erinnert sei beispielhaft an Willy Kreikemeyer
Und ich habe dieses System unterstützt.
Insofern halte ich zwei Bücher der letzten beiden Jahre für die wichtigsten Editionen zum Verständnis der DDR. Das ist neben Peter Wensierskis „Jena-Paradies“ auch die zweibändige
Nachdenkwürdiges
Kommunale Geste der Erinnerung. Am 25. August 2023 wurde am ehemaligen Wohnhaus von Matthias Domaschk, Am Rähmen 3 in Jena, eine Gedenktafel eingeweiht. Die Initiatorin, die "Jenawohnen GmbH" der Stadtwerke Jena schrieb dazu: "Der Jenaer starb am 12. April 1981 in der Geraer Untersuchungshaftanstalt des Ministeriums für Staatsicherheit. Die Wohnung von Domaschk war seit Mitte der Siebziger Jahre Treffpunkt für unangepasste junge Menschen in Jena, die versuchten aufrecht und selbstbestimmt zu leben. Gemeinsam mit seiner Partnerin Renate Groß organisierte er Treffen in der gemeinsamen Wohnung, vervielfältigte systemkritische Texte und verteilte diese. Nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 wurde die Wohnung zu einem der Zentren des Protests. Was folgten waren massive Repressalien durch die Staatsicherheit und die Polizei und unzählige Verhöre. Das letzte Verhör am 12. April 1981 führte zum Tod des 23-Jährigen". Neben der Gedenktafel wurde in Abstimmung mit "JenaKultur" und dem Thüringer Archiv für Zeitgeschichte eine ergänzende Tafel mit weiterführenden Informationen zu Matthias Domaschk aufgehängt.
Kommunale Geste der Erinnerung. Am 25. August 2023 wurde am ehemaligen Wohnhaus von Matthias Domaschk, Am Rähmen 3 in Jena, eine Gedenktafel eingeweiht. Die Initiatorin, die "Jenawohnen GmbH" der Stadtwerke Jena schrieb dazu: "Der Jenaer starb am 12. April 1981 in der Geraer Untersuchungshaftanstalt des Ministeriums für Staatsicherheit. Die Wohnung von Domaschk war seit Mitte der Siebziger Jahre Treffpunkt für unangepasste junge Menschen in Jena, die versuchten aufrecht und selbstbestimmt zu leben. Gemeinsam mit seiner Partnerin Renate Groß organisierte er Treffen in der gemeinsamen Wohnung, vervielfältigte systemkritische Texte und verteilte diese. Nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 wurde die Wohnung zu einem der Zentren des Protests. Was folgten waren massive Repressalien durch die Staatsicherheit und die Polizei und unzählige Verhöre. Das letzte Verhör am 12. April 1981 führte zum Tod des 23-Jährigen". Neben der Gedenktafel wurde in Abstimmung mit "JenaKultur" und dem Thüringer Archiv für Zeitgeschichte eine ergänzende Tafel mit weiterführenden Informationen zu Matthias Domaschk aufgehängt.
Eine „nachdenkwürdige Veranstaltung“, resümierte am Ende Buchautor Peter Wensierski. Eine so facettenreiche, offene und zugleich beklemmende wie bewegende Debatte habe auch er bislang auf Lesungen noch nicht erlebt. Auch fast 35 Jahre nach dem Untergang der DDR brauche es offenbar noch mehr solcher überfälliger Dialoge.
Wensierskis Buch „Jena Paradies“ setzt nicht nur Matthias Domaschk ein würdevolles Denkmal, sondern liefert zugleich jede Menge "Nahaufnahmen des weitgehend vervorgenen Innersten des autoritären Machtapparats und seiner Vollstrecker", wie es Wensierkis selber formuliert. Sie helfen, mehr über die in der Regel perfiden Mechanismen autoritärer Machtsysteme zu erfahren, wie es auch sie auch in der Gegenwart noch zur Genüge gibt.
"Wie erzieht man klassenbewusst? Indem man Klassenfeinde aufspürt. Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Der Gegner lauert überall".
Diese fatale Freund-Feind-Denke und propagandistische Schwarz-Weiß-Malerei von Stasi und SED-Genossen seziert Wensierski meisterhaft. Sehr lehrreich, sehr lesenswert, s e h r zu empfehlen, auch für den Schulgebrauch.
Zitierweise: Holger Kulick, "Einem Selbstmord auf der Spur“, in: Deutschland Archiv, 22.03.2024, Link: www.bpb.de/546824. Veröffentlichte Texte im Deutschland Archiv sind Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar. (hk)
Ergänzend:
Uwe Schwabe,
Christian Bäucker, "
Manon de Heus und Marijke van der Ploeg: "
Henning Pietzsch, "