Am 27. Februar 2024 wurde der 70 Jahre alte Bürgerrechtler Oleg Orlov in Moskau zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt. Der Vorwurf: Er habe Russlands Armee diskreditiert. Das Urteil gegen ihn ging auf einen Artikel zurück, den er 2022 veröffentlicht hatte und in dem er behauptete, dass Russland im Faschismus versinke. Schon im Oktober 2023 hatte ihn ein Gericht wegen "wiederholter Diskreditierung" zu einer Geldstrafe verurteilt. Orlow legte gegen das Urteil Berufung ein, woraufhin die Staatsanwaltschaft Gegenberufung einlegte und ihn nun wegen schwerer "Diskreditierung" anklagte, was folgte, war eine Scheinverhandlung mit offenbar vorgegebener strengerer Verurteilung, nur zwölf Tage nach dem Tod des russischen Menschenrechtlers Alexej
Der 1953 geborene, ausgebildete Biologe Orlov beteiligte sich 1988 an der Gründung der Menschenrechtsvereinigung
"Dieser Gerichtsprozess wurde an jenem Tag eröffnet, an dem die schreckliche Nachricht vom Tod
Ich habe kein Verbrechen begangen. Ich stehe wegen eines Zeitungsartikels vor Gericht, in dem ich das politische Regime, das in Russland entstanden ist, totalitär und faschistisch genannt habe. Der Artikel wurde vor mehr als einem Jahr geschrieben. Damals dachten einige meiner Bekannten, ich würde zu dick auftragen.
Heute ist vollkommen offensichtlich, dass ich kein bisschen übertrieben habe. Der Staat hat nicht nur die Gesellschaft, die Politik und die Wirtschaft wieder unter seine Kontrolle gebracht, sondern strebt auch eine vollständige Kontrolle der Kultur und des wissenschaftlichen Denkens an, er dringt in das Privatleben ein. Er ist total.
In nur gut vier Monaten, die seit dem ersten gegen mich hier geführten Prozess vergangen sind, haben zahlreiche Ereignisse gezeigt, wie unser Land immer tiefer und tiefer in diesen Abgrund stürzt.
Ich nenne nur einige wenige, von unterschiedlicher Tragweite:
In Russland sind mittlerweile einige Bücher russischer Gegenwartsautoren verboten; eine gar nicht existierende „LGBTBewegung“ wurde verboten. Konkret bedeutet das eine dreiste Einmischung des Staats in das Privatleben der Menschen; an der Moskauer Wirtschaftshochschule ist es Prüfungskandidaten verboten, „ausländische Agenten“ zu zitieren. Bevor Studenten sich mit einem Thema befassen, müssen sie nun zuerst die Liste der ausländischen Agenten pauken; der bekannte Soziologe und linke Publizist Boris Kagarlickij wurde wegen einiger weniger Worte über die Ereignisse in der Ukraine, die von der offiziellen Darstellung abwichen, zu fünf Jahren Freiheitsentzug verurteilt; eine Person, den die Propagandisten „nationaler Führer“ nennen, sagt öffentlich über den Beginn des Zweiten Weltkriegs: „Die Polen haben letztlich durch ihr Taktieren Hitler gezwungen, den Zweiten Weltkrieg eben in Polen zu beginnen. Warum begann der Krieg genau in Polen? Weil das Land nicht zu Kompromissen bereit war. Hitler blieb zur Umsetzung seiner Pläne nichts anderes, als mit Polen zu beginnen.“
Wie bezeichnet man eine politische Ordnung korrekt, in der diese Dinge geschehen? Meiner Ansicht nach gibt es hier keinen Zweifel. Leider hatte ich in meinem Artikel recht.
Verboten ist nicht nur öffentliche Kritik, sondern jedes eigenständige Urteil. Man kann für Dinge bestraft werden, die, so sollte man meinen, mit Politik oder Regimekritik nichts zu tun haben. In keinem Bereich der Kunst ist freier Ausdruck noch möglich, es gibt keine freien Geistes- und Sozialwissenschaften mehr, es gibt auch kein Privatleben mehr.
Jetzt einige Worte zu den gegen mich erhobenen Vorwürfen, die in vielen ähnlichen Prozessen auch gegen andere Kriegsgegner erhoben werden.
Ich habe zu Beginn dieses Verfahrens erklärt, dass ich mich daran nicht beteiligen werde und hatte daher Zeit, während der Sitzungen Franz Kafkas Roman „Der Prozess“ zu lesen. Unsere heutige Lage hat einiges gemeinsam mit der Lage, in die Kafkas Held geraten ist: Absurdität und Willkür, die hinter einem Schleier aus pseudorechtsstaatlichen Prozeduren versteckt werden.
Wir werden der Diskreditierung beschuldigt, ohne dass erklärt wird, was das bedeutet und wie diese sich von erlaubter Kritik unterscheidet. Wir werden beschuldigt, Behauptungen verbreitet zu haben, von denen wir wussten, dass sie falsch sind – ohne dass gezeigt wird, dass sie tatsächlich falsch sind. Genauso ging der sowjetische Staat vor, wenn er jede Kritik als Lüge bezeichnete. Der Versuch zu beweisen, dass die Aussagen korrekt sind, ist selbst strafbar. Wir werden beschuldigt, ein System von Glaubenssätzen und eine Weltanschauung nicht zu teilen, die von der Führung unseres Landes als wahr bezeichnet werden. Und dies, obwohl Russland keine Staatsideologie haben darf. Wir werden verurteilt, weil wir daran zweifeln, dass der Überfall auf ein Nachbarland dem Ziel der Erhaltung des zwischenstaatlichen Friedens und der Sicherheit dient.
Es ist absurd.
Kafkas Held weiß bis zum Ende des Romans nicht, was ihm vorgeworfen wird, gleichwohl wird er verurteilt und hingerichtet. Uns wird der Grund der Anklage genannt, aber man kann diesen, wenn man sich an das Recht und die Logik hält, nicht verstehen.
Übrigens wissen wir im Unterschied zu Kafkas Held, warum wir festgenommen, vor den Haftrichter gestellt, verhaftet, verurteilt und umgebracht werden. Wir werden dafür bestraft, dass wir das Regime kritisieren. Dies ist im heutigen Russland absolut verboten.
Duma-Abgeordnete, Untersuchungsbeamte, Staatsanwälte und Richter sprechen das nicht offen aus. Sie verbergen es in ihren sogenannten Gesetzen, Anklageschriften und Urteilen unter absurden und widersprüchlichen Formeln. Aber es ist ein Fakt.
Gegenwärtig werden in den Lagern und Gefängnissen Aleksej Gorinov, Aleksandra Skočilenko, Igor‘ Baryšnikov, Vladimir Kara-Murza und viele andere langsam zu Tode gebracht. Sie werden getötet, weil sie gegen das Blutvergießen in der Ukraine protestiert haben, weil sie wollen, dass Russland ein demokratisches, blühendes Land wird, das keine Bedrohung für seine Nachbarn darstellt.
In den letzten Tagen wurden Menschen weggezerrt, mit Geldstrafen oder sogar Arreststrafen belegt, nur weil sie zu einer Gedenkstätte zur Erinnerung an die Opfer der politischen Repressionen gekommen waren, um dort des ermordeten Aleksej Naval’nyj zu gedenken, dieses bemerkenswerten, mutigen und aufrichtigen Menschen, der unter unfassbar grausamen, speziell für ihn geschaffenen Umständen den Optimismus und den Glauben an die Zukunft unseres Landes nicht verlor. Ohne allen Zweifel wurde er ermordet, ganz gleich, unter welchen konkreten Umständen er gestorben ist.
Das Regime kämpft sogar noch gegen den toten Naval’nyj, es hat sogar vor seinem Leichnam Angst. Und zurecht! Es zerstört spontan entstandene Orte des Gedenkens an ihn.
Wer so etwas tut, hofft darauf, dass es auf diese Weise gelingt, jenen Teil der russländischen Gesellschaft zu demoralisieren, der weiter Verantwortung für unser Land übernimmt.
Diese Hoffnung darf sich nicht erfüllen.
Aleksej hat uns zugerufen: „Lasst euch nicht unterkriegen.“ Ich füge hinzu: Verzweifelt nicht, verliert nicht den Optimismus. Denn die Wahrheit ist auf unserer Seite. Jene, die unser Land in den Abgrund geführt haben, in dem es sich heute befindet, stehen für das Alte, das Hinfällige, das Absterbende. Sie haben kein Bild von der Zukunft, nur Zerrbilder der Vergangenheit, Illusionen von „imperialer Größe“. Sie stoßen Russland rückwärts, zurück in eine Antiutopie, die Vladimir Sorokin in seinem Roman „Der Tag der Opričniki“ beschrieben hat. Wir aber leben im 21. Jahrhundert, uns gehört die Gegenwart und die Zukunft – und dies ist das Unterpfand unseres Sieges.