Als es mir kalt den Rücken runterlief
Zur Graphic Novel „Rebellion hinter den Mauern“
Uwe Schwabe
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Wie jungen Leuten „Zeitreisen“ zurück in die DDR ermöglichen, um ihnen nahe zu bringen, wie leicht es war, im Alltag der SED-Parteidiktatur an die Grenzen von Freiheit zu stoßen? Das, was vier Schüler aus Halle gemeinsam in der DDR erlebt und erlitten haben, haben die Freunde jetzt als Graphic Novel herausgegeben. Der ehemalige Leipziger Bürgerrechtler Uwe Schwabe hat vieles aus seinem eigenen Erleben darin wiederentdeckt.
Was bringt junge Menschen in der DDR dazu, einen Ausreiseantrag zu stellen und Ihre Heimat, Familie und Freunde zu verlassen? Rail Adam und Dirk Mecklenbeck legen mit der Graphic Novel „Rebellion hinter der Mauer“ ein beeindruckend anschauliches Buch vor, das thematisiert, warum sie in der DDR keinen anderen Weg mehr sahen, als einen Ausreiseantrag nach Westberlin zu stellen, der viele Schikanen nach sich zog. Bereits 2019 hatten die Autoren für die Stiftung Berliner Mauer eine erste Graphic Novel mit dem Titel „Todesstreifen“ entwickelt, die zeigt, wie sie nach ihren Ausreisen, die nach langem Warten zwischen 1986 und 1989 ermöglicht worden sind, zu Widerstandsformen gegen die Mauer und die innerdeutsche Grenze fanden. Nun erzählen sie die bewegende Vorgeschichte, wie in ihrem Alltag in der Saale-Stadt Halle ihr Groll gegen die selbst erlebte SED-Bevormundung, das ideologisch gepägte Staatsgebilde DDR und die Mauer wuchs, die sie nicht ohne Weiteres überwinden konnten.
Konkret ist es die Geschichte eines Quartetts der vier Freunde Dirk Mecklenbeck, Raik Adam, Andreas Adam und Heiko Bartsch aus Halle (Saale). Sie verließen die DDR zu einem Zeitpunkt, als es ein Abschied für immer war und noch keiner wissen konnte, dass nur wenig später, im November 1989, die Mauer vom Osten her zum Einsturz gebracht werden würde. Ihre Geschichte wird in 23 thematischen Kapiteln authentisch beschrieben, grafisch hochwertig umgesetzt. Die Zeichnungen sind sehr kraftvoll und detailgenau, da der Zeichner Dirk Mecklenbeck die ganze Geschichte selbst erlebte.
Inhaltlich wird auf 128 Seiten in seinen Bildern vor Augen geführt, wie die elementaren Grund- und Menschenrechte in der DDR mit Füßen getreten wurden. Eine Parteielite, jene der allein herrschenden Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), maßte sich an zu entscheiden, was die jungen Menschen zu lesen haben, welche Musik sie hören dürfen, wo sie ihren Urlaub verbringen dürfen, ob sie würdig und politisch gefestigt sind, um studieren zu dürfen, und welche Massenorganisationen und Parteien für sie gut seien. Es gab weder die Möglichkeit der freien Wohnortwahl noch die Chance, außerhalb der staatlichen Parteien und der Massenorganisationen politisch aktiv zu sein. Viele junge Menschen entwickelten deshalb eine innere Distanz zum System. Es gab keine Debattenkultur, es fehlten der gelernte Umgang mit Kritik und der Streit um politische Inhalte.
Jugendliche in der DDR sind in einer Gesellschaft groß geworden, die auf der Grundlage des Marxismus-Leninismus den neuen sozialistischen Menschen schaffen wollte. Sie sind aufgewachsen in einem Klima der Bevormundung und der Lügen. Sie wurden vor ihren Lehrerinnen und Lehrern als Feinde des Sozialismus bloßgestellt, nur, weil sie eine Westjeans trugen. Sie mussten ständig sinnlose Ergebenheitsadressen für die Sache des Sozialismus abgeben – ob in der Grundschule, bei den Pionieren, in der FDJ oder selbst im Ferienlager und später im Kollektiv des Betriebes.
In der Schule durfte man auf keinen Fall über systemkritische Diskussionen im Elternhaus berichten. Die Eltern mahnten immer wieder, in der Schule ja nicht politisch anzuecken und sich doch lieber für einen dreijährigen „Ehrendienst“ bei der Nationalen Volksarmee zu verpflichten, um ein Studium oder eine qualifizierte Ausbildung nicht zu gefährden. An der Universität musste die Studiengruppe über „politische Verfehlungen“ von Mitstudierenden offen abstimmen und deren Verhalten verurteilen. Wenn sie es nicht machten, gefährdeten sie selbst ihren Studienplatz.
Man musste ständig auf der Hut sein und konnte nur wenigen vertrauen. Die Denunziationsbereitschaft war in der Schule, an der Universität, in Betrieben und oftmals selbst in der Nachbarschaft und der eigenen Familie sehr groß. Viele unterstützen damit die SED-Diktatur, auch ohne dass sie Inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit waren. Die Verführungen und Verfolgungen des SED-Regimes griffen ineinander und bewirkten ein großes Misstrauen untereinander. Es war der Nährboden für Feind- und Zerrbilder, Enge des Alltagslebens, Entsolidarisierung und Isolierung gesellschaftlicher Gruppen, Verhinderung von Vertrauen und Kooperation der Menschen. Abgrenzung geht durch die Köpfe und verschwindet nur schwer.
In diesem politischen Klima sind Jugendliche in der DDR groß geworden. Solche Erlebnisse haben den Widerspruchsgeist bei vielen von ihnen geweckt. Wenn man der so weit verbreiteten Uninformiertheit und Uniformiertheit etwas entgegensetzen wollte, gab es nur drei Möglichkeiten: Entweder, man passte sich an und schwamm bequem in der Masse der „Ja-Sager“ mit. Oder man versuchte, dieses Land in Richtung Westen zu verlassen. Oder man bemühte sich, den keineswegs einfachen Weg des Widerspruchs zu gehen, damit man, ohne sich schämen zu müssen, noch in den Spiegel schauen konnte.
Dirk, Raik, Andreas und Heiko wählten, nach unglaublichen Schikanen, die sie in ihrer Novel darstellen, den Weg aus der DDR heraus. Ihren Wunsch nach Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und der Einhaltung der Bürger- und Menschenrechte haben allerdings auch viele mit Verfolgung, Zwangsexil, Gefängnis oder auch dem Tod bezahlt. Es gab zu allen Zeiten der SED-Diktatur Menschen, die Widerstand leisteten, die widersprachen, die in die Opposition gingen, die sich verweigerten. Sie haben aus menschenrechtlicher Perspektive kein Unrecht getan. Die vielen Menschen, die in den vierzig Jahren DDR das Land verließen, durch Flucht oder Ausreise, haben das Fundament dieser Diktatur untergraben und sie letztendlich mit zum Einsturz gebracht.
Fehlendes Wissen und fehlende Anerkennung
In der öffentlichen Wahrnehmung fehlt heute oft die Anerkennung dessen, was diese Menschen geleistet haben. Sie waren ein Motor für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Diese widerständigen Akteure wurden oft lebenslang in ihrer beruflichen Entwicklung eingeschränkt und leiden oft noch heute an den Folgen von Haft und Verfolgung. Der Begriff „Opfer“ suggeriert bei den meisten Menschen, dass jemand unabsichtlich zu einem Opfer geworden ist, beispielsweise zum Opfer einer Gewalttat, einer Naturkatastrophe oder eines Unfalls.
Die Leidtragenden einer Diktatur waren jedoch zum großen Teil Menschen (aus der Sicht der Machthabenden waren es „Täter“ oder im Stasi-Sprech „negative Personen“), die sich aktiv gegen die Diktatur und die damit einhergehenden Freiheitsbeschränkungen wehrten: gegen die fehlende Meinungsfreiheit, gegen eine fehlende Rechtsstaatlichkeit, gegen die fehlende Unabhängigkeit der Justiz, die fehlende Reisefreiheit und die eingeschränkten Möglichkeiten der politischen Teilhabe. Sie waren damit Akteure, also aktiv und bewusst handelnde Personen.
Sie wollten teilhaben am politischen Willensbildungsprozess und sich einbringen in die Gestaltung eines demokratischen Staates. Die Grundfesten jeder Diktatur werden aber brüchig, wenn man Teilhabe außerhalb der vorgegebenen politischen Ideologie ermöglicht. Die Machthaber in einer Diktatur scheuen nichts mehr als politisch selbstdenkende und -handelnde Menschen.
All das wird in der Graphic Novel der Hallenser Freundesclique in beeindruckender Weise beschrieben, in mehrere Episoden unterteilt, zum Beispiel unter der Überschrift Widerstehen, Propaganda, Subkultur, Repressionen, Sperrgebiete und „Revolution coming“. Besonders berührte mich dabei, dass ich in einem dieser Kapitel, auf Seite 114, meine eigene Geschichte entdeckte. Denn auch unsere Aktionen während der Friedensgebete 1988 in der Leipziger Nikolaikirche spielen in der Novel eine Rolle. Deshalb war es für mich beim Lesen eine Reise zurück in diese bleierne und düstere Zeit der SED Diktatur. Vor allem die Schilderungen über die Armeezeit brachten alles selbst erlebte und verdrängte wieder an die Oberfläche.
Selbsterlebtes wiederentdeckt
Ausschlaggebend für meine politischen Aktivitäten waren meine Erfahrungen, die ich während meiner Dienstzeit in der Nationalen Volksarmee machen musste. Hier erlebte ich dieses System der Bespitzelung, Demütigung, Unterdrückung und der Propagandalügen auf engstem Raum. Es war sozusagen eine Reise in die Wirklichkeit der DDR. Hier erlebte ich, wie ausgewählte Eliten in diesem Land die Macht hatten, meinen persönlichen Lebensweg negativ zu beeinflussen.
Vor meiner Armeezeit hatte ich mich dazu entschlossen, die engen Grenzen der DDR auf legalem Weg zu überwinden. Deshalb bewarb ich mich bei der Handelsflotte der DDR für den Beruf eines Maschinisten auf einem Handelsschiff. Die Handelsflotte war weltweit unterwegs. Zu der Zeit war ich noch so naiv zu glauben, dass dies ein normaler Beruf sei. Bei der Handelsflotte landeten aber nur treue und überzeugte Anhänger der SED. Um meine Chancen zu erhöhen, verpflichtete ich mich für einen dreijährigen Armeedienst bei der NVA. Aber auch dieser aus meiner Sicht großartige Schachzug brachte nichts. Meine Distanz zum Staate DDR war einfach schon zu groß geworden. Konflikte blieben deshalb während der Armeezeit nicht aus, die für meinen weiteren Lebensweg entscheidend war.
Ich wurde dort damals sozusagen zum „Staatsfeind“ erzogen und lernte zum Glück jemanden kennen, der mir daraufhin die Tür zur Kirche öffnete und so einen Weg zeigte, wie man in einer Diktatur frei denkend politisch aktiv werden kann. Denn Wege zur Selbstverwirklichung hatten mir die autoritären Maßnahmen des Staats drastisch eingeschränkt. Nach meiner Dienstzeit wurde ich von meinem Kompanieoffizier mit dem Satz entlassen: „Herr Schwabe, wir werden dafür sorgen, dass Sie in der Kohle landen.“ Prompt kam nach dem Armeedienst die Ablehnung von der Handelsflotte mit der Begründung: „Für den grenzüberschreitenden Verkehr nicht geeignet.“ Übersetzt hieß das: „Der ist ein Staatsfeind, auf den müsst ihr besonders aufpassen.“. Ich landete nicht in der Kohle, aber nach drei Jahren in verschiedenen Baubetrieben, als Hamburgerverkäufer auf dem Weihnachtsmarkt und als Arbeitsloser in einem kirchlichen Altenpflegeheim als Hilfskrankenpfleger.
Ab da schwor ich Rache gegen diesen Staat. Im Herbst 1988 habe ich den Reservistendienst verweigert. Bei einer Vorladung vor das Wehrkreiskommando degradierte mich ein wütender, strammstehender Offizier dann am 20. Juni 1989 mit Befehl 40/89 zum Soldaten. Ein Tag, den ich nie vergessen werde. Ich hatte mich schon vorher von meinen Freunden verabschiedet und dachte, jetzt geht es direkt nach Schwedt ins Militärgefängnis. Aber nein, ich hatte Glück, nachdem ich einen Stempel mit dem Aufdruck „Soldat“ im Wehrdienstausweis hatte, durfte ich ohne Gefängnisstrafe wieder gehen. Ich glaube, ich bin der einzige, der jemals ein Wehrkreiskommando lachend verlassen hat.
Schon während meiner Armeezeit konnte ich Kontakt zur Jungen Gemeinde der Nikolaikirchgemeinde in Leipzig knüpfen. Ich, der ich in einem atheistischen, unpolitischen Elternhaus groß geworden bin, hatte dadurch die Möglichkeit, Menschen zu treffen, die sich kritisch mit gesellschaftlichen Themen auseinandersetzten, und die offen und ohne Scheu politisch diskutierten. Hier wurde Demokratie im kleinen Kreis gelernt und „trainiert“. Hier wurden Meinungen von Minderheiten akzeptiert und fair darüber diskutiert. Dies hatte ich vorher so nicht erlebt. Ich kannte nur die Diskussionsveranstaltungen im FDJ-Seminar oder in der Politschulung in Lehre und Betrieb, die man damals hinter vorgehaltener Hand „Rotlichtbestrahlung“ nannte. So fand ich ab 1984 den Weg in die politische Opposition und gründete mit Freunden/innen im Herbst 1987 die „Initiativgruppe Leben“.
Auch die Schilderungen in der Graphic Novel über die damals eingeschränkte Reisefreiheit und die dann oft nur möglichen Reisen in den Ostblock wie etwa nach Ungarn versetzen mich wieder in die 1980er Jahre. In dieser Zeit trampten wir von Blueskonzert zu Blueskonzert und Pfingsten und Ostern in die bei ostdeutschen Jugendlichen sehr beliebte Schwarzbierkneipe „U-Fleku“ nach Prag. Im Sommer ging es dann nach Ungarn, Rumänien und Bulgarien. In Ungarn stürmten wir die Schallplattenläden, um unsere wenigen Forints, die man in der DDR umtauschen durfte, in gute Musik umzusetzen. Danach lebten wir von Wasser und Brot und schliefen auf einem Zeltplatz, dem sogenannten DDR-Auffanglager, am Rande von Budapest.
In Bulgarien trampten wir zum Rila-Kloster am gleichnamigen Rilagebirge oder nach Melnik am Piringebirge und schnupperten an der Grenze nach Griechenland immer sehnsüchtig den Duft der weiten Welt. Am Rande der Stadt Melnik gab es am Melnishka-Fluss einen großen Zeltplatz, der sich jedes Jahr im Sommer mit jugendlichen Trampern aus der ganzen DDR füllte. Hier war für uns die Welt auf einmal zu Ende. Dort trafen sich keine politischen Debattierclubs, sondern es waren Jugendliche, die einfach nur nach ihren Vorstellungen leben wollten. Durch diese Kontakte und diese Lebensweise, die den propagierten Idealen des SED-Regimes komplett zuwiderlief, wuchs meine innere Ablehnung des Staates DDR immer mehr.
Warum erzähle ich das alles? Weil diese Graphic Novel all das wieder an die Oberfläche spült, weil sie auf geniale Weise ein Weg ist, das Denken und Erleben junger Leute in der DDR eindrucksvoll auszudrücken und zu vermitteln, und zwar authentisch. So, wie ich es beispielsweise auch in vielen Facetten erlebt habe. Dabei kommen viele Emotionen wieder hoch.
So lief es mir beim Lesen der Berichte über die vielen Zuführungen und die Untersuchungshaft kalt den Rücken herunter, erinnerte es mich doch an meine eigene Untersuchungshaft im Januar 1989. Nach dem Verteilen von Flugblättern und einem Aufruf zur Demonstrationsteilnahme wurden wir im Januar 1989 verhaftet, geblieben sind diese Bilder im Kopf:
Du wirst nach der Vernehmung abgeführt, musst an jeder Ecke warten – lange dunkle Gänge – „Hände auf dem Rücken!“, rote Lampen, „Gesicht zur Wand!“ Niemanden bekommst du zu Gesicht. Du wirst in einen kleinen Raum geführt, in dem ein Bereich vergittert ist, musst Dich nackt ausziehen. Ein Mann kommt herein und durchsucht Deine Sachen, er schaut in jede Körperöffnung, du musst dich vor ihm bücken. Du empfängst Haftkleidung, erhältst Belehrungen. Wort-fetzen dringen an dein Ohr: „Möglichkeit der Beschwerde“, „Freihof täglich eine Stunde“, „keine Gespräche mit den Wärtern“, „Buchausleihe“, „Einkauf“, „Haftordnung“ ... – alles rauscht an Dir vorbei. Du hörst alles wie im Nebel. Die Zelle: Du stehst da und versuchst, mit der neuen Situation fertig zu werden. Zwei Betten, zwei Hocker, ein Tisch, das Fenster mit undurchdringlichen Glasfliesen, Waschbecken und Toilette. Du kannst den Himmel nicht sehen, nur mattes, trübes Licht dringt durch die Glasfliesen.
Du legst Dich hin, findest keine Ruhe, beobachtest die Tür: ein kleiner Spion und eine Klappe in Bauchhöhe. Alle 10 Minuten wird die Zelle grell erleuchtet und jemand schaut durch den Spion. Warum? Angst vor Selbstmord? Du musst mit dem Gesicht zur Tür schlafen und darfst dein Gesicht nicht bedecken. Die Hände müssen immer auf der Decke liegen. Du kannst keinen richtigen Gedanken mehr fassen, willst nur noch schlafen. Du hast zur Außenwelt nur Kontakt durch die Klappe, siehst einzig Hände, kein Gesicht. Für Dich ist kein Mensch hinter der Tür – allein Hände.
Die Zellentür öffnet sich mit lauten, durchdringenden Geräuschen. Du stehst sofort vor dem Bett. „Häftling 60-1, mitkommen!“, für die bist Du nur noch eine Nummer, kein Mensch. Rote Lampen auf dem Gang: „Hände auf den Rücken, Gesicht zur Wand.“ Du musst warten und stehenbleiben. Erst als die Lampen grün sind, darfst Du weitergehen. Die Vernehmer wechseln sich ab – Du bleibst. Zwölf Stunden lang. Der eine Vernehmer ist ein smarter, intelligenter Typ mit Brille, der andere ein bulliger Glatzkopf, der Dich nur anbrüllt. Vor der Vernehmung ist nie klar, wer im Raum sitzt, Du freust dich schon fast, wenn es der mit der Brille ist. Auch das ist Strategie. Es geht nur darum, Deinen Willen zu brechen.
Nach zehn Tagen wurden wir 12 Inhaftierten aufgrund großen internationalen Drucks wieder freigelassen. Diese an die Grenze gehende Erfahrung stärkte unsere Freundschaft und schweißte uns noch mehr zusammen. Es war mehr als eine Aktionsgemeinschaft. Es war mehr als nur eine Wohngemeinschaft. Es war wie eine Ersatzfamilie, ein Anker, ein Schutzraum, eine Kraftquelle. Man fühlte sich hier geborgen, verstanden, akzeptiert und trotz aller Unterschiede gut aufgehoben. Das war eine der wichtigen Überlebensmöglichkeiten in diesem verhassten System der Bevormundung, der geistigen Enge und der Unfreiheit.
Diktatur begreifen – leicht gemacht
All diese Themen spielen in den 23 Kapiteln der Graphic Novel eine große Rolle und werden anschaulich, kraftvoll und detailliert beschrieben.
Dieses Buch ist sehr wichtig, um heute zu begreifen, wie eine Diktatur mitten in Deutschland funktioniert hat und wieder funktionieren könnte. Es ist wichtig zu wissen, welche äußeren und inneren Rahmenbedingungen dies ermöglichten. Rahmenbedingungen, unter denen Menschen dazu bereit sind, andere anzuschwärzen und zu verraten.
Und damit billigend in Kauf zu nehmen, dass Betroffene persönliche Nachteile erleiden und verfolgt werden, im Gefängnis landen können und schlimmstenfalls zu Tode kommen. Warum sind Menschen dazu bereit, sich direkt oder indirekt an diktatorischen Strukturen und Verhalten zu beteiligen? Die DDR-Diktatur konnte deshalb so lange funktionieren, weil Partei, Polizei, Stasi, Schulen, Universitäten, Arbeitskollektive und selbst Elternhäuser diese Diktatur aktiv oder passiv unterstützten und damit erst ermöglichten. In diesem politischen Klima sind Jugendliche in der DDR aufgewachsen. Viele wollten aber einfach nur nach ihren Vorstellungen frei und selbstbestimmt leben. Dies lief den propagierten Idealen des SED-Regimes komplett entgegen. Den täglich erfahrenen Widerspruch zwischen der offiziellen Propaganda und dem eigenen Erleben hielten viele gerade Jugendliche nicht mehr aus.
Dieses Wissen an eine Generation weiterzugeben, die keine Diktatur erlebt hat, ist eine wichtige Grundvoraussetzung für den Erhalt eines demokratischen Gemeinwesens. Hier sind wir alle gefragt. Es geht nicht nur darum, zu den Jahrestagen an den Mut und das Risiko der Widerständigen und Eigensinnigen zu erinnern. Es geht um die Einforderung von Respekt, Achtung, Anerkennung und Wissen um die Geschehnisse.
Ich wünsche dem Buch eine große Leserschaft und zwar nicht nur in Bayern, wo schon der Vorgängerband, die Graphic Novel „Todesstreifen“, zum Teil des Schulunterrichtes geworden ist. Vor allem hier im Osten der Bundesrepublik, wo eine große DDR-Nostalgie um sich greift, sollte es Bestandteil des Geschichtsunterrichtes werden.
Der Herbst 1989 hat gezeigt und bewiesen, dass man durch Zivilcourage, Ungehorsam und Widerstand etwas verändern kann. Man braucht nach einer Revolution mit solchen massiven Veränderungen allerdings auch einen langen Atem. Für einige ist die „Friedliche Revolution“ in der DDR 1989/1990 nur eine abgebrochene, die weiter fortgeführt werden müsse – oder auch überhaupt keine Revolution. Hier wird leider immer wieder der Kampf um die Beseitigung einer Diktatur mit dem Ringen um ständige Veränderungen und Verbesserungen in einer Demokratie verwechselt oder gleichgesetzt.
An der Geschichte der Friedlichen Revolution können wir in herausragender Weise zeigen, dass es sich auch in einer Diktatur lohnt, für Freiheit und Demokratie zu kämpfen, und dass das Volk wirklich der Souverän ist. Es war ein einmaliger Vorgang in der deutschen Geschichte, bei dem sich die Bevölkerung mit dem Ruf „Wir sind das Volk“ erfolgreich durchsetzte. Dieses auch in einer Demokratie deutlich zu machen, denn auch da gefällt diese Tatsache nicht jedem, ist kraftvoll genug, um dieses geschichtliche Ereignis als Vermächtnis für die Zukunft zu bewahren.
Wenn wir etwas von den Revolutionen in Ostmitteleuropa lernen können, dann ist es die Selbstbefreiung aus einer Bevormundung und die Selbstermächtigung zum Handeln. Deshalb sind Zivilcourage und Widerstand, auch wenn sie nur von einer Minderheit ausgehen, die Grundvoraussetzung für eine gesellschaftliche Veränderung.
Die neue Graphic Novel von Raik Adam und Dirk Mecklenburg erzählt davon ganz viel, auf berührende Weise.
Zitierweise: Uwe Schwabe, "Als es mir kalt den Rücken runterlief. Zur Graphic Novel „Rebellion hinter den Mauern“, in: Deutschland Archiv, 06.3.2023, Link: www.bpb.de/546140
Das Thema vertiefend lud die Redaktion Deutschland Archiv am Abend des 19.3.2024 zu einer Diskussionsrunde in die Bundeszentrale für politische Bildung in der Friedrichstraße 50 in Berlin-Stadtmitte ein, das Thema: „Eine freie Jugend in der DDR?“. Es diskutierte u.a. Peter Wensierski, der Autor der Bücher "Die Leichtigkeit der Revolution" über die Jugendszene im Raum Leipzig, und: "Interner Link: Jena Paradies. Die letzte Reise des Matthias Domaschk" über Jugendliche im Raum Jena, das an diesem Tag in der bpb-Schriftenreihe erschienen ist. Zunächst geplant war als Gesprächspartner auch der ehemalige Vorsitzende der Freien Deutschen Jugend (FDJ), Eberhard Aurich, der aber wieder abgesagt hat, aus seiner Sicht habe die "FDJ mit dem „kriminellen Milieu“, egal wie man es heute beurteilt, nichts Konkretes zu tun. Das war nicht unser Feld." Er sei "also kein sachkundiger Gesprächspartner". Die Redaktion bedauert das sehr.
Der ehemalige DDR-Bürgerrechtler Uwe Schwabe leitete von 1991 bis 1993 das Archiv Bürgerbewegung Leipzig e.V., arbeitet seit 1994 als Mitarbeiter bei der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland/Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig und ist seit 2022 Stellv. Vorsitzender des Bildungswerk Sachsen der Deutschen Gesellschaft e. V. und Mitglied im Kuratorium der Deutschen Gesellschaft e.V.. Er ist Autor zahlreicher Fachaufsätze im Themenfeld DDR-Aufarbeitung und politische Bildung.
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