Vor nunmehr über zwei Jahren, in der Nacht zum 24. Februar 2022, eröffnete das russische Terrorregime unter Wladimir Putin den totalen Angriffskrieg auf den Nachbarn Ukraine. Mit der Besetzung der Krim im Frühjahr 2014 und dem Versuch, die Ostukraine zu erobern, ist der russische Krieg gegen die Ukraine damit in sein elftes Jahr gegangen. Ein Bewusstsein dafür, was in diesem Krieg nicht nur für die Ukraine, sondern auch für ihre Nachbarn, für Deutschland und den Westen auf dem Spiel steht, ist bei uns in Deutschland noch immer nur zum Teil vorhanden. Ein Kommentar des Philosophen und ehemaligen DDR-Bürgerrechtlers Wolfgang Templin.
Nur am Rande wurde kürzlich in Deutschland noch ein anderer ukrainischer Jahrestag wahrgenommen: Am 22. Januar 2024 beging die um ihr Überleben kämpfende Ukraine den Tag der Erinnerung an ihre im Jahre 1919 begründete staatliche Einheit. Ein Datum, welches zumindest der polnische Politiker und neue Premierminister Donald Tusk im Blick hatte. Er wusste um dessen alles andere als nur symbolische Bedeutung und wählte den Termin für seinen Antrittsbesuch in Kyjiv. Ursprünglich selbst Historiker, führt er seit November 2023 die Koalition der demokratischen Kräfte in Polen an. Eine breite Erneuerungskoalition, die sich nicht nur den Wiederaufbau der acht Jahre bedrohten und schwer beschädigten Demokratie und Rechtsstaatlichkeit im eigenen Land zum Ziel gesetzt hat.
Die Aufgabe ist viel größer. Zu dem gefährlichsten internationalen Aggressionsakt, der nicht nur die Ukraine, Polen und das Baltikum, sondern die gesamte freie Welt bedroht, fand Tusk in Kyjiv deutliche Worte. Hier müsse man sich entscheiden, auf welcher Seite man, ohne Wenn und Aber, stehe. Ohne den Namen Viktor Orbáns zu nennen, des Putin-Freundes und favorisierten Verbündeten Jarosław Kaczyńskis (Vorsitzender der polnischen PiS), sprach der polnische Ministerpräsident zugespitzt davon, dass „der finsterste Platz in der Hölle“ für diejenigen reserviert sei, die angesichts des Krieges in der Ukraine Neutralität wahren wollten.
Vertrauliche Gespräche mit Frankreich und Deutschland, die mit Tusks Antrittsbesuchen bei Emmanuel Macron in Paris und Olaf Scholz in Berlin am 12. Februar 2022 begonnen haben, um einen „gerechten Frieden“ für die Ukraine zu erreichen, sollten Tusk helfen, das ungarische Veto in dieser Frage noch vor dem nächsten EU-Gipfel auszuhebeln. Notfalls auch auf dem harten diplomatischen Weg, Erpressung mit Erpressung zu beantworten und dem ungarischen Staatschef die Folgen seiner völligen Marginalisierung vor Augen zu führen. Der gute Ausgang des EU-Sondergipfels vom 1. Januar 2024 mit einem ersten Zurückrudern Viktor Orbáns zeigte die Wirkung dieser Strategie.
Die neue Hoffnung auf das "Weimarer Dreieck"
Zu den Prioritäten der neuen polnischen Außenpolitik zählt Tusk die nach den Jahren der PiS-Regierung gewachsenen Probleme und Differenzen in den polnisch-ukrainischen Beziehungen zu überwinden, ob es um das Stocken der Waffenlieferungen, die Blockaden der Landwirte und Transportunternehmer an den Grenzen oder die heiklen Fragen der Geschichtspolitik geht. Nach seinen Worten will Polen erneut zum glaubwürdigsten und stabilsten Partner der Ukraine in ihrem tödlichen Kampf mit dem Bösen werden. Eine starke Achse Warschau-Kyjiv würde die Nordflanke des westlichen Verteidigungsbündnisses stärken und den von der PiS so verteufelten deutschen Partner zur Beteiligung einladen. Käme es dazu, wäre es das beste Signal zum Neustart des 1991 begründeten „Weimarer Dreiecks“ mit Polen, Frankreich und Deutschland. Paris wäre mit seinem ganzen Gewicht dabei, aber nicht mehr in einer alleinigen Alliance mit Berlin.
Zitat
Die von polnischer Seite seit längerem angemahnte deutsche Führungsverantwortung könnte Wirklichkeit werden. Ob sich die maßgeblichen deutschen Politiker*innen und Eliten dem stellen, ob sich starke gesellschaftliche Kräfte finden, die zu dieser Verantwortung stehen, ist derzeit offen.
Der Regensburger Politologe Jerzy Maćków spitzt im Deutschland Archiv in seinem aktuellen geopolitischen Essay „Interner Link: Der Krieg in Europa und der Frieden in Europa“ zu, wenn er Polen als unverzichtbaren Verbündeten der Ukraine und Deutschland als Getriebenen sieht. Verfolgt man die vergangenen Jahrzehnte deutschen Agierens in diesem Teil der Welt, hat er im Grunde genommen jedoch recht. Wer Polen diese Entschiedenheit nicht zutraut und hinter den starken Worten von Donald Tusk nur Absichtserklärungen und Deklarationen vermutet, verkennt, dass unser wichtigster östlicher Nachbar bereits jetzt vier Prozent seines Bruttosozialproduktes für Vereidigungsausgaben einsetzt und die polnische Armee zu den stärksten europäischen Armeen zählt.
Eine gute Nachricht, deren Bedeutung in den letzten Januartagen nach hinten rückte, war der Beginn des über mehrere Monate andauernden Nato-Großmanövers „State Defender“ (standhafter Verteidiger), auch aus der begründeten Befürchtung heraus, Putin könnte seine „Militäraktion“ rund um den 24. Februar 2024 noch auf andere Nachbarstaaten ausdehnen. Mit insgesamt 90.000 Militärangehörigen aus verschiedenen Staaten, darunter auch einige deutsche Divisionen, spielen die beteiligten Nato-Kräfte den Verteidigungsfall an der neuen Nordostflanke des Bündnisses durch.
Mit der Stationierung zahlreicher russischer Einheiten in Belarus, dem Ausbau Kaliningrads als waffenstarrendem Brückenkopf und den zahlreichen hybriden Angriffen auf die baltischen Nato-Partner sind solche Planspiele gegenüber einem zu allem bereiten russischen Gegenüber durchaus realistisch. Die in Kaliningrad stationierten und mit Atomsprengköpfen bestückten Iskander-Raketen, die eine Reichweite von fünfhundert Kilometern haben, können Berlin oder Warschau in kürzester Zeit erreichen. Lange Zeit war die Bedrohung durch diese Raketen in Deutschland kein Thema. Unterhalb der Atomschwelle stehen Bedrohungen und Provokationen anderer Art.
Die Vision des Romanciers Tom Clancy
Es war 2013, als ausgerechnet der international bekannte Thriller-Autor Tom Clancy in seinem letzten Buch „Command Authority. Der Kampf um die Krim“ ein bevorstehendes Zukunftsszenario entwarf, in dem Russland die Nato zunächst durch einen Blitzangriff auf estnisches Territorium herausfordert.
Natürlich lässt die russische Seite dem einen Hilferuf unterdrückter russischer Landsleute in Estland vorangehen. Die zu einem hohen Anteil von russischer Bevölkerung bewohnte estnische Grenzstadt Narva spielt eine entscheidende Rolle im Anfangsgeschehen. Im Roman ist es das konsequente, aber opferreiche Eingreifen von Nato-Truppen unter amerikanischer Führung, welches den Erfolg des Angriffs vereitelt. Nach diesem ersten Austesten der Nato-Eisatzbereitschaft wählt die russische Führung unter einem fiktiven Präsidenten Walerij Worodin, der alle Züge Wladimir Putins trägt, mit der Krim ein weitaus größeres Ziel.
Dabei spielt Clancy die beklemmende reale Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte nach beziehungsweise sieht sie voraus. Woronin sammelt noch vor seiner Inthronisation als Präsident seine alten Geheimdienstkumpane um sich, die mit weiteren Sicherheitsleuten und Militärs zu seiner Hausmacht, den „Silowiki“, werden. Er legt bereits als Präsident die mächtigsten Oligarchen an die Leine oder treibt sie ins Exil und sammelt jede Menge weiterer Erfüllungshilfen um sich. Auf den Trümmern der gescheiterten Sowjetunion entsteht ein postsowjetisches Imperium. Hinter den Kulissen tauchen kaum weniger sinistre russische Geheimdienstler und Strategen auf, die an der Ablösung Woronins durch einen geeigneteren Führer arbeiten, darunter ein Pragmatiker, der vielleicht gegenüber dem zu Verhandlungen bereiten Westen noch ein paar neue Karten ausspielen kann. Eine Hoffnung? Eine Vision? Der Autor starb überraschend im Oktober 2013, kurz nach Fertigstellung seines Manuskripts.
Wie handlungsfähig bleibt Deutschland?
Für die Bedeutung des zweiten Jahrestages dieses totalen Krieges ist noch etwas wichtig. Jeder Blick, der sich auf die Grenze des vor uns liegenden Kalenderjahres fixiert, greift zu kurz. Die Kette politisch entscheidender Ereignisse zieht sich bis zum Ende des Jahres 2025 hin. Bereits der Ausgang der Europawahlen und der Landtagswahlen in drei ostdeutschen Bundesländern werden Einfluss auf die internationale Handlungsfähigkeit Deutschlands nehmen.
Die entscheidende amerikanische Präsidentschaftswahl, vor deren negativem Ausgang die halbe Welt zittert, steht am 5. November 2024 an. Im Frühjahr 2025 wird der Ausgang des Ringens um die Staatspräsidentschaft in Polen zeigen, ob die demokratischen Kräfte die rechtskonservative PiS und ihre extremen Ränder weiter zurückdrängen können. Ob Polen zum vollgültigen, starken Partner auf der europäischen Bühne wird. Im Herbst 2025 wird sich in Deutschland bei den Bundestagswahlen zeigen, wie stark sich die demokratischen Kräfte gegenüber den rechten und linken Gegnern eines demokratischen, mit den Vereinigten Staaten verbündeten Europas zeigen. Entscheidende Weichen für all das werden aber bereits in Laufe dieses Jahres gestellt. Absehbar ist obendrein, dass Putin und seine zusätzliche Propaganda-Trollarmee alles daran setzen werden, diese Entwicklungen in ihrem Sinne zu beeinflussen.
Ein wenig zielstrebiger Westen?
Mitte Januar 2024 fand ein hochrangig besetztes verteidigungspolitisches Symposium der Bundeswehr statt. Einer der wichtigsten Gäste und Redner war der ehemalige Oberkommandierende der US-amerikanischen Streitkräfte in Europa, Generalleutnant a.D. Ben Hodges. Er blieb nach seiner Demissionierung in Deutschland und leitet heute die Menschenrechtsorganisation Human Rights First. Seinen Aussagen kann man genug Erfahrung und Realismus unterstellen, selbst wenn er über „immaterielle Faktoren“ spricht.
Hodges sieht im fehlenden Siegeswillen des Westens ein entscheidendes Defizit gegenüber der zu allem entschlossenen Gegenseite. Hat Berlin, hat Washington, haben die anderen Beteiligten auf der westlichen Seite einen Siegeswillen, der dem des Moskauer Terrorregimes überlegen ist?
Wenn bei Hodges, anderen Militärs und Zivilisten die Forderungen nach Härte und Kampfwillen auftauchen, erhalten sie in vielen deutschen Debatten das Etikett von Kalten Kriegern und Kriegstreibern. Unbestreitbare Wahrheiten der Jahrzehnte, in denen der Ostblock und der Eiserne Vorhang noch existierten, zeigten, dass es damals wirklich um die Verteidigung der freien Welt gegen Unfreiheit und Unterdrückung ging, doch welche reale Gefahr vom sowjetischen stalinistischen und poststalinistischen Imperium ausging, wurde ignoriert.
Bei Härte und Entschlossenheit geht es ja nicht um Eigenschaften, die kein Demokrat je haben oder anstreben sollte. Brutalität, die keine Grenzen kennt, und absoluter Vernichtungswille zeichnen Personen wie Putin, einen großen Teil seines Personals und die Führungen anderer Terrorregime aus. Es geht um die notwendige Entschiedenheit, die sich aber der Grenze erlaubter Mittel bewusst ist und sie tunlichst nicht überschreitet.
Auf der gleichen Tagung sprach Hodges ein ganz anderes, aber untrennbar damit verbundenes Problem an. Krieg, ja bereits die drohende Kriegssituation, sei ein Test für die Logistik und die industriellen Fähigkeiten zur Kriegführung. Auch in diesem Punkt wird das Jahr 2024 ein Prüfstein. Bereits 2018 hatte Hodges den Ausbau der deutschen Infrastruktur für die Bedürfnisse der Verteidigung gefordert. Vier Jahre nach dem Beginn des offenen und verdeckten Krieges gegen die Ukraine fielen seine Warnungen und Mahnungen in eine Zeit, in der das Beharren auf Nordstream 2 noch Mehrheitsmeinung war, sich die Freundschafts- und Ergebenheitsadressen an die Adresse Putins häuften, die Steinmeier-Formel hoch im Kurs stand. Ihre Durchsetzung hätte die Ukraine in die kalte Kapitulation getrieben.
Die Folgen zu idealistischen Denkens
Im Nachhinein ist das weithin anerkannt, wird aber häufig mit der Bemerkung verbunden, dass man hinterher immer klüger sei. Vorher hätten sich doch alle getäuscht. Das ist dann wieder nur die halbe Wahrheit, denn es gab eine ganze Anzahl von Expert*innen, Analyst*innen, Diplomat*innen und Militärs, die sich nicht täuschen ließen und rechtzeitig warnten. Zu ihnen gehört Winfried Schneider-Deters, ein langjähriger Mitarbeiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in der Ukraine. Mit akribischer Sorgfalt und Aufwand verfolgte er die Vorgeschichte und den Verlauf der Ereignisse in und um die Ukraine in den Jahren 2013 und 2019. Die Ergebnisse seiner Recherchen und Analysen sind in zwei voluminösen Bänden festgehalten. In der Fortsetzung seiner Arbeiten erschien aktuell ein dritter Band.
Carlo Masala, der an der Universität der Bundeswehr in München lehrt und militärtechnisches Detailwissen mit strategischem Denken verbindet, kommt bei der Aufzählung aktueller deutscher Defizite zu ähnlichen Schlussfolgerungen wie der amerikanische General. Er ist nicht der einzige deutsche Experte dabei. Mit Bruno Kahl schließlich meldete sich auch der sonst in der Öffentlichkeit eher verhalten präsente Präsident des deutschen Auslandsgeheimdienstes BND zu Wort und formuliert deutlich. Wenn die Ukraine zum Aufgeben gezwungen wäre, würde das den russischen Machthunger nicht stillen. Putin würde die Nato angreifen, wenn sich ihm eine günstige Gelegenheit böte. Ein Bluff? Eine dunkle Ahnung oder dezidiertes Hintergrundwissen?
Eine grundsätzlich verfehlte Osteuropapolitik
Das bittere Erwachen im Februar 2022 hatte schnelle Reaktionen zur Folge, zeigte aber auch, wie groß dabei die Grenzen und Einschränkungen waren. Über Beteuerungen und Ankündigungen hinaus kam es nicht zu einer wirklich konsequenten Analyse der über lange Zeit grundsätzlich verfehlten Osteuropa- und Russland-Politik, wie sie vom ehemaligen Botschafter Rolf Nikel, anderen Diplomat*innenen und Expert*innen angemahnt wurden.
Deren Warnungen und internen Interventionen prallten lange Zeit an den Mauern des Bundeskanzleramtes und des Bundespräsidialamtes ab. Hier standen sich in der Ära Merkel warnende und beschwichtigende Stimmen gegenüber, die den Kurs der Bundesregierung mehr als schwankend erscheinen ließen.
In seiner Rede in der Sondersitzung des Bundestages vom 27. Februar 2022 beschwor der Bundeskanzler Olaf Scholz die „Zeitenwende“ und forderte dazu auf, sich der neuen Realität zu stellen. Zugleich wollten er und andere Politiker aber das Gefühl vermitteln, dass es den Menschen auf keinen Fall schlechter gehen dürfe, sich die Einschränkungen in Grenzen halten würden und die gewohnte Sicherheit bliebe.
„Im bequemen Schlafwagen durch die Krise fahren“ nannte das sarkastisch der Militärhistoriker an der Universität Potsdam Sönke Neitzel bei einem Fernsehauftritt. Dazu passt der mantraartig wiederholte Spruch, dass Deutschland und die Nato zwar die Ukraine unterstützten, aber keine Kriegspartei seien.
Knapp zwei Jahre danach wähnt eine relevante Anzahl deutscher Politiker*innen, Expert*innen und Historiker*innen immer noch ein verhandlungsbereites und stabiles Russland vor sich, dessen Bevölkerung die gegenwärtige Regierung nicht infrage stelle. Die Ukraine müsse sich zu weitreichenden Kompromissen bereitfinden. Nur so könne man zu einer Friedenslösung kommen. Dass ein solcher Kapitulationsfrieden von einer übergroßen Zahl der Ukrainerinnen und Urainern abgelehnt wird, übergeht man dabei.
An der Frage, wie stabil das gegenwärtige russische Terrorsystem ist, ob es keine inneren Widerstände zu fürchten braucht und den Sanktionen des Westens trotzen kann, scheiden sich die Geister, noch intensiver nach dem Tod des inhaftierten russischen Oppositionellen Alexei Nawalny am 16. Februar 2024.
Erfahrene Osteuropaexpert*innen wie Anne Applebaum haben gute Gründe, an der langfristigen Stabilität des russischen Systems und der sicheren Stellung Putins darin zu zweifeln. Der gescheiterte Aufstand des Söldnerführers Prigoschin und die Verhaftung des nationalorthodoxen Oppositionellen Igor Girkin im Sommer 2023 sind für sie Belege der Instabilität innerhalb der Elitenkreise. Applebaum führt das positive Beispiel russischer Oppositioneller an, die aller Verfolgung und allen unmenschlichen Haftbedingungen trotzen, und fordert zu ihrer Unterstützung auf. Nur ein „postimperiales Russland“ könne zum dauerhaften Partner werden. Ein solches Russland müsse und werde sich dann auch seiner unheilvollen Vergangenheit stellen.
86 Jahre alte Parallelen?
So schwer man sich auch immer mit Parallelen zwischen Vergangenheit und Zukunft tut, lohnt an dieser Stelle ein Ausflug in die Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs. Wir schreiben den Herbst des Jahres 1938, mit der Unterzeichnung des Münchner Abkommens. Der damit verkündete Friede wurde mit Erleichterung und Zuversicht gefeiert, da sich Hitler doch als besonnener, kompromissbereiter Politiker erwiesen hatte. „Peace for our Time“, Frieden für unsere Zeit, verkündete der damalige britische Premier Neville Chamberlain und nahm als Friedensretter den Jubel der Menschen entgegen.
Winston Churchill, Führer der konservativen Opposition, sah die Gefahren der kommenden Zeit voraus und hielt im britischen Unterhaus eine seiner größten, beklemmendsten Reden. Er sprach davon, dass der tschechoslowakische Staat dafür bestraft worden sei, dass er auf die westlichen Demokratien und ihre Versprechen vertraute. Er sah voraus, dass der tschechische Staat nicht mehr unabhängig bleiben könne.
Churchill musste für diese Vorhersage kein Prophet sein, nur ein nüchterner Realist, bereit, seinen Gegenüber als den zu sehen und zu benennen, der er war. Vor allem war Churchill bereit, die eigenen britischen Versäumnisse anzuerkennen. Die Menschen sollten die Wahrheit erfahren darüber, dass ihre Verteidigungsfähigkeit sträflich vernachlässigt worden sei. Dass sie getäuscht wurden:
„Sie sollten wissen, dass wir eine der schrecklichsten Grenzlinien unserer Geschichte überschritten haben, weil das Gleichgewicht Europas aus den Fugen geraten ist, und dass das Schicksalswort aus der Bibel jetzt für die westlichen Demokratien gilt: Man hat dich gewogen und zu leicht befunden. Und niemand glaube, dass dies das Ende ist. Es ist nur der Anfang der Abrechnung. Es ist nur der Anfang, der bittere Vorgeschmack eines Kelches, der uns nun Jahr für Jahr verabreicht werden wird – wenn wir nicht mit einer entschiedenen Wiederherstellung unserer Moral und unserer militärischen Stärke uns erheben und für die Freiheit kämpfen, wie in den alten Zeiten.“
In den letzten Worten seiner Rede nahm Churchill bereits den Ton seiner großen Kriegsreden vorweg, die halfen, den britischen Widerstandswillen, aber auch den Kampfgeist seiner Verbündeten zu stärken. Allen klangen noch die fragenden Worte des französischen Außenministers Georges Bonnet im Ohr, der kurz von Ausbruch des Krieges, in einer scheinbar nebensächlichen Frage, vor einem zu großen Risiko warnte: „Sterben für Danzig?“
Eine Stadt wie Narwa könnte nunmehr zum Danzig unseres Jahrhunderts werden. Dazu bedarf es noch keines massiven Angriffs der russischen Militär- und Atommacht. Das Eingehen auf die Schutzbedürfnisse der russischen Bevölkerung der Grenzstadt und der Druck auf einen anderen Status der Stadt würden als Test reichen. Dann hätte der Westen erneut die entscheidende Frage vor sich.
Verhandler und Führungspersonen sollten ehrlich mit ihren Gesellschaften umgehen. Seit 2014 haben sich Politiker, Diplomaten, Intellektuelle, Vertreter der Kirchen aus vielen Ländern im Krieg gegen die Ukraine um Vermittlung bemüht, Verhandlungstische gebaut und Foren dafür gesucht. Vergeblich. Nach 2022 rissen diese Versuche nicht ab, obwohl sie bislang keinen Erfolg zeitigten. Spätestens jetzt müssen der Westen und seine Vertreter, ohne ihre Verhandlungsbereitschaft aufzugeben, zu einer Haltung finden, die beim Fortdauern der russischen Aggression und für den Fall weiterer Provokationen ein Nein mit allen Konsequenzen einschließt.
Man muss sich nur an die berühmte Antwort des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in der ersten Kriegswoche erinnern, als westliche Vertreter die Aussichtslosigkeit der Lage zu sehen meinten und ihm zur Flucht verhelfen wollten. Doch er verließ den Präsidentenpalast nur wenige Meter, umringt von seinen engsten Beratern und richtete eine Botschaft an die ukrainische Nation und die Welt:
„Ich bin hier. Niemand wird die Waffen niederlegen. Wir werden unser Land verteidigen.“
Und seitdem mahnt er bei seinen Auftritten weltweit an – wie zuletzt am 16. Februar 2024 in Berlin und München – Putin gegenüber keinerlei Schwächen zu zeigen, aber konzertiert dessen Schwächen aufzuzeigen. So hat der ehemalige Entertainer und Komödiant vor den Augen der Welt längst die Statur eines historischen Staatsmannes errungen, der im Namen seiner Nation deutlich macht, dass die Entspannungsphase nach dem Kalten Krieg nur eine Illusion oder ein Wunschtraum war.
Geschichte liebt Überraschungen, böse wie gute, lässt Raum für Utopien und Dystopien. Wer den Frieden wirklich will, nicht nur seine Ruhe und Bequemlichkeit, muss aktuell auf den Krieg vorbereitet sein. Bloße Ankündigungen und Wünsche reichen hier nicht. Sie ermutigen nur den Aggressor.
Aber wie kann nun eine Strategie der Nato und des Westens aussehen, die eine Verhandlungslösung für stabilen Frieden anstrebt, dennoch aber auf den schlimmsten Fall vorbereitet ist? Im Januar 2024 fand am Rande des Wirtschaftstreffens in Davos eine spezielle Ukrainekonferenz statt, auf der hochrangige Sicherheitsberater aus zahlreichen Ländern die Möglichkeiten für Friedensverhandlungen debattierten, die den Aggressionskrieg gegen die Ukraine beenden könnten. Den Beratungen lag der Zehn-Punkte-Plan von Wolodymyr Selensky und der ukrainischen Seite vor. Besonders entscheidend sind folgende Punkte, welche für die Ukraine unverzichtbar sind. Sie beinhalten:
die Wiederherstellung der völligen territorialen Integrität des Landes, das heißt den Abzug der russischen Truppen aus allen okkupierten Gebieten.
keines der begangenen, mittlerweile untersuchten und dokumentierten Kriegsverbrechen darf ungesühnt bleiben. Russland muss für alle entstandenen Schäden aufkommen.
für die Sicherheit der Ukraine nach Abschluss der Kampfhandlungen muss es international zu vereinbarende Garantien geben, die den Einschluss der Ukraine in die transatlantischen Sicherheitsstrukturen der Nato bedeuten.
am Abschluss der Verhandlungen steht ein Friedensvertrag, der von internationalen Vermittlern beglaubigt wird.
Die wesentlichen Bedingungen dieses Friedensvertrages sind für die ukrainische Seite nicht zu verhandeln. Spielraum für Zeitfenster und Modifikationen ist jedoch gegeben. Doch sollte die russische Seite bei ihren von Wladimir Putin mehrfach verkündeten Maximalforderungen bleiben, wird sich trotz aller laufenden Hintergrundgespräche das Verhandlungsfenster kaum öffnen.
Für diese gefährliche Pattsituation müssen die Nato und die westliche Verteidigungsgemeinschaft, Deutschland eingeschlossen, alles daransetzen, ihre eigene Verteidigungs- und Abschreckungsfähigkeit schnellstmöglich zu steigern, was das Erreichen und Überschreiten der Zwei-Prozent-Grenze in den nationalen Verteidigungsbudgets und den Aufbau gemeinsamer europäischer Streitkräfte beinhaltet.
Zeitgleich muss die Ukraine mit allen Waffen und Waffensystemen versehen werden, die ihre Verteidigungsfähigkeit verstärkt und die Abwehr russischer Terrorangriffe auf deren eigenem Territorium ermöglicht.
Zitat
Auch mir als ehemaligem Bürgerrechtler in der DDR und Mitbegründer einer Initiative, die sich vehement für Frieden und Menschenrechte eingesetzt hat, tut es innerlich weh, nun für militärische Wachsamkeit und Unterstützung zu plädieren. Aber Geschichte lehrt uns ständig, auch eigene Standpunkte zu überprüfen, wenn sich die Grundgegebenheiten so dramatisch verändern. Und wer in den deutlichen Verweisen auf das Gewicht der polnischen Seite, die deutschen Versäumnisse, die Instabilität des gegenwärtigen russischen Systems und die reale kommende Kriegsgefahr bei Ausbleiben wirksamer Abschreckung keinen Mehrwert an Erkenntnissen sieht, dem kann ich nicht helfen.
Neben der diplomatischen und der militärischen Komponente hat eine gemeinsame westliche Strategie aber auch eine politische und wirtschaftspolitische Seite. Nur eine immer wirksamere Durchsetzung der immer noch lückenhaften Sanktionen und die internationale Ächtung des Aggressors können die russische Seite mit oder ohne Putin an den Verhandlungstisch bringen.
Sollte die Ukraine durch unzureichende Unterstützung oder innere Erschöpfung an den Verhandlungstisch getrieben werden und gezwungenermaßen einem Annexionsfrieden zustimmen, der die russischen Gebietsgewinne festschreibt, würde sich der Aggressor den nächsten Nachbarn zuwenden. Das muss einem bewusst sein.
Renommierte internationale Experten sprechen dabei von einem Zeitfenster von zwei bis drei Jahren vor einem Zugriff von Russland auf Nato-Territorium. Nimmt die Nato ihre Verpflichtungen ernst, müsste sie dann den Bündnisfall erklären und militärisch eigreifen. Sterben für Narwa? Diese scheinbar rhetorische Frage könnte dann schon bald eine reale werden. Leider.
Zitat
EINLADUNG ZUR DISKUSSION mit dem Autor und weiteren Experten und Expertinnen am 28.2.2024 um 19.30 Uhr in der bpb Berlin: "Interner Link: Europa was nun?"
Zitierweise: Wolfgang Templin, "Sterben für Narwa?", in: Deutschland Archiv, 26.02.2024, www.bpb.de/545855. Alle Beiträge sind Recherchen und Sichtweisen der jeweiligen AutorInnen, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar (hk).
Weitere verwendete Literatur:
Winfried Schneider-Deters. Ukrainische Schicksalsjahre 2013-2019 Bd.1.: Der Volksaufstand auf dem Majdan im Winter 2013/2014 Bd.2.: Die Annexion der Krim und der Krieg im Donbass Berlin, 2021
Carlo Masala. Bedingt Abwehrbereit. Deutschlands Schwäche in der Zeitenwende München, 2023
Wolfgang Templin ist Philosoph und Publizist. Von 2010 bis 2013 leitete er das Büro der Heinrich Böll Stiftung in Warschau. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Fragen des deutsch-deutschen Vereinigungsprozesses und der Entwicklungen im östlichen Teil Europas, insbesondere in Polen und der Ukraine.
Ihre Meinung ist uns wichtig!
Wir laden Sie zu einer kurzen Befragung zu unserem Internetauftritt ein. Bitte nehmen Sie sich 5 Minuten Zeit, um uns bei der Verbesserung unserer Website zu helfen. Ihre Angaben sind anonym.