Pitt von Bebenburg: Frau Käßmann, wann ist aus Ihrer Sicht die Zeit für Verhandlungen im Ukraine-Konflikt gekommen?
Margot Käßmann: Jetzt. Es ist alles daranzusetzen, dass die Waffen schweigen. Dazu braucht man Verhandlungen.
Sind Russland und sein Präsident Wladimir Putin denn dazu bereit?
Es wird immer gesagt: Putin will ja nicht verhandeln. Russland hat aber Verbündete. Da muss über Bande gespielt werden, damit der diplomatische Druck massiv wird. Man verhandelt ja auch mit Katar, um Einfluss auf die Hamas zu nehmen. Genau so kann ich mir vorstellen, dass diejenigen, die noch Kontakt zu Russland haben, von den anderen massiv gedrängt werden, Russland zu Verhandlungen zu bringen. Wo sind eigentlich die großen Diplomaten, die alles dafür tun, damit es Verhandlungen gibt? Stattdessen wird immer gesagt, wir müssten „den Blutzoll erhöhen“ oder ähnliche Schrecklichkeiten.
Es gibt Gespräche, zuletzt in Davos, über einen ukrainischen Zehn-Punkte-Friedensplan, in dem als Bedingungen etwa der Rückzug Russlands aus den besetzten Gebieten und die Ahndung von Kriegsverbrechen genannt werden. Bewegt sich da etwas in die richtige Richtung?
Ich hoffe das. Allerdings finde ich es sehr merkwürdig, dass Russland nicht dabei sein soll. Russland muss dabei sein, damit es einen Waffenstillstand gibt, von dem aus Friedensverhandlungen beginnen können.
Solange Interessen bestehen, den Krieg fortzusetzen, wird es schwierig, einen Waffenstillstand zu erreichen.
Beide Seiten formulieren ihre Interessen. Russland ist der Aggressor. Das will ich glasklar sagen, weil immer unterstellt wird, man sei Putinversteherin, wenn man sich gegen Waffenlieferungen an die Ukraine einsetzt. Mir geht es um die Menschen, die täglich getötet werden, und um die Infrastruktur des Landes, die zerstört wird. Da muss die Frage gestellt werden: Ist es diese Zerstörung wert, dass man sagt: Es gibt nichts zu verhandeln, es gibt nur Maximalforderungen?
Wäre die Ukraine nicht längst überrannt, wenn sie nicht vom Westen mit Waffen unterstützt würde?
Das sind alles Konjunktive. Man weiß nicht, was geschehen wäre. Aber dieses Ausmaß an Zerstörung und dieses Ausmaß an Toten, das hätten wir mit Sicherheit nicht. Ein anderer Konjunktiv: Hätte es nicht großen zivilen Widerstand geben können? Hätte es massiven Druck geben können? Wir haben immer nur über militärische Antworten auf die russische Aggression gesprochen. Russland hätte nicht die Ukraine ausgelöscht.
Aber es hätte sie sich möglicherweise einverleibt.
Ich finde, wir müssen von diesem Denken wegkommen, dass es um nationale Grenzen geht, für die wir unser Leben geben. Elsass-Lothringen wurde lange hin und her geschoben in Europa. Heute ist es eine Region in Europa. Wir dürfen unsere Zukunftsbilder nicht aus den Augen verlieren. In einem Europa der Regionen wäre die Nationalität weniger wichtig. Ist es tatsächlich Zehntausende Tote wert, dass die Krim zur Ukraine oder zu Russland gehört? Ich weiß, dass allein diese Frage als unangemessen angesehen wird.
Eine Befürchtung besteht darin, dass Russland weitere Länder wie Moldawien oder Georgien angreifen könnte, wenn es die Ukraine ohne militärischen Widerstand einnehmen kann. Ist diese Befürchtung berechtigt?
Russland hat sich nach meiner Erinnerung nicht geäußert zu Moldawien oder Georgien. Diese Drohkulisse, dass Putin ganz Europa erobern wolle, wird immer als Argument für mehr Waffen genutzt. Das finde ich irritierend, dass nur über Waffengänge gesprochen wird und nicht über Verhandlungsgänge, die möglich wären.
Der Gaza-Krieg könnte die Aufmerksamkeit der Diplomatie vom Ukraine-Krieg abziehen. Spielt das Putin in die Karten?
Das betrifft auch die mediale Öffentlichkeit. Die Aufmerksamkeit der Menschen ist begrenzt. Wir schauen nicht so genau, was sich im Jemen abspielt oder auf die Bürgerkriege, die in Afrika wüten. Dass Putin damit spielt, kann ich mir vorstellen, weil er ein absoluter Machtmensch ist, dem offenbar Menschenleben egal sind. Das kann uns aber nicht daran hindern zu fordern, dass es da Frieden gibt, weil täglich Menschen sterben und es Zerstörungen gibt.
Was liegt Ihnen am Herzen, wenn Sie zum zweiten Jahrestag des Kriegsbeginns auftreten?
Die Themen haben sich gegenüber dem vorigen Jahr gar nicht so sehr verändert. Wir bleiben als Deutsche Friedensgesellschaft dabei, dass die Waffen schweigen müssen, so schnell wie möglich. Wir treten ein für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung. Das kann noch brisant werden, weil Hunderttausende ukrainische Männer im Moment in Europa Zuflucht gefunden haben und gleichzeitig klar ist, dass die Ukraine mehr Soldaten braucht. Es sind auch russische Kriegsdienstverweigerer hier, die Angst vor Abschiebung haben. Wir setzen uns weiterhin gegen Waffenlieferungen ein. Ich tue das auch als Großmutter, weil ich denke: Für die Kinder dieser Welt ist nicht Aufrüstung die Zukunftsinvestition, sondern Abrüstung. Wenn jetzt sogar Joschka Fischer über atomare Bewaffnung fantasiert, dann müssen wir entgegnen: Wir brauchen Abrüstung, gerade atomare Abrüstung.
Wie hat sich die Situation der Friedensbewegung verändert in diesen beiden Jahren?
Ich habe den Eindruck, dass es am Anfang diese scharfe Diffamierung der Friedensbewegung gab, weil die Pazifisten von vorher auf einmal zu den Militärexperten von heute wurden. Jetzt scheint es mir so, dass die Friedensbewegung zwar weiterhin belächelt wird. Aber die Diffamierung wird geringer, weil klar wird: Einfach ist eine militärische Lösung auch nicht.
Was ist die Lehre, die Deutschland aus seiner Geschichte ziehen muss?
Nach 1945 war klar: „Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein“, wie es die Kirchen 1948 in Amsterdam formuliert haben. Also alles daranzusetzen, Krieg zu verhindern, weil Krieg ein Ausmaß an Zerstörung mit sich bringt, auch für das Tätervolk, dass alles zu tun ist, um Krieg zu verhindern. Mein Vater ist mit 18 in den Krieg gezogen und mit 25 rausgekommen. Auch die Soldaten in der Täternation sind am Ende Opfer der Machtgelüste einzelner.
Zitierweise: Margot Käßmann interviewt von Pitt von Bebenburg, "Wann ist die Zeit zu verhandeln?", in: Deutschland Archiv, 23.02.2024, www.bpb.de/545845. Der Beitrag ist erstveröffentlicht in der Externer Link: Frankfurter Rundschau. Alle Beiträge sind Recherchen und Sichtweisen der jeweiligen AutorInnen, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar (hk).
Ergänzend: