Der Tod ist ein Meister aus Russland
Zum Tod von Alexej Nawalny. Gedanken von Gabriele Stötzer
Gabriele Stötzer
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Jetzt ist er doch gestorben, dachte ich, als ich hörte, dass Alexej Nawalny im Straflager ums Leben gekommen sei. Im Knast sterben, das begreift nur jemand, der selbst im Knast war.
Mich führt Alexej Nawalnys Tod zurück in meine Erfurter U-Haftzelle, wo ich 1977 wegen meines Protestes gegen den Volkssänger Wolf Biermann, der gerade ausgebürgert worden war, in Einzelhaft saß. Ich war schon in der grauen Gefangenenkluft, die man anziehen musste, obwohl das für noch nicht Verurteilte nicht zulässig war. Ich besaß nichts mehr und hatte auch nichts mehr zu tun außer, die Zeit ins Ungewisse abzusitzen.
Vorher war alles so hektisch gewesen, Flucht und Abwehr. Wenn man politisch verfolgt wird, beschleunigt sich alles, man reagiert nur noch. Ich hatte erst mal beschlossen, weder zu reden noch zu essen und zu trinken. Und während ich langsam über meine fühlbarer werdenden Rippen strich, dachte ich nach. Es gibt, sagte ich mir, zwei Wege, der eine Weg waren SIE, der andere Weg war ICH.
Ich war in einem diktatorischen Staat groß geworden und hatte alle ihre Worte gehört und gelernt, und sie liefen so mit, immer gerade aus. Es waren ihre Argumente und Gedanken, und ich fand es logisch, jemanden wie mich ins Gefängnis zu stecken, weil es ihre Ordnung störte, diese sogar ins Wanken bringen konnte. Begab ich mich auf meinem Weg, schien mir auch der logisch und klar und geradlinig. Folgerichtig hatte er mich an den Ort gebracht, an dem ich war. In den Knast.
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Was Nawalny dazu brachte, nach dem Giftattentat auf ihn nach Russland zurückzukehren, war vielleicht die ferne Erinnerung an den von 1963 bis 1990 im Gefängnis sitzenden Nelson Mandela, der schließlich der erste schwarze Präsident Südafrikas geworden war. Ihm musste klar gewesen sein, dass er Jahre im Gefängnis ausharren müsste. Für seine Werte, für seine Überzeugungen, für seine Ideale.
Ich denke, er hatte nur übersehen, dass alle Ideale und Ziele und Hoffnungen irrelevant werden, wenn der Hass um einen zu groß und die körperliche Widerstandskraft immer kleiner wird. Aber da gibt es auch noch etwas Größeres. Und Höheres. Einen Glauben an das Gute und Bessere - oder was wir im Alltag so nennen. Auch wenn einem im entscheidenden Moment das klare Ziel abhandenkommt, sollte man diese angepeilte große Kraft nicht unterschätzen. Sie verwandelt Figur, Sprache, Volumen. Sie springt uns an oder stößt uns weg.
Ich saß vorige Woche auf dem Weg von Frankfurt am Main nach Erfurt im Bordrestaurant einem Mann gegenüber, der sich als Historiker für Zeitgeschichte entpuppte. Irgendwann redete er von der Gruppe 47, und dass ihr so wenige Frauen angehört hätten, und ich sagte: Aber das hat die Gruppe nicht zu Fall gebracht, das war der Vers eines Gedichtes, das sie gleich von sich warfen, den Dichter aburteilten, weil sie nichts dagegen setzen konnten.
Der Satz heißt: „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland.“
Paul Celan hat seinen Finger damit tief in die deutsche Wunde Schuld gebohrt. Ich meine die Schuld, die auf uns Deutschen seit dem Zweiten Weltkrieg lastet. Meine Erfurter U-Haft 1977 erklärte ich mir damit, dass ich mit dem drohenden Gefängnis ganz logisch einen Teil der deutschen Schuld absitze. Sie war mir nun ganz konkret geworden, statt wie zuvor imaginär zu bleiben.
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Mein Vater war im Krieg gewesen und hatte über das, was ihm dort geschehen war, anschließend geschwiegen. Was hätte er auch sagen können in einem antifaschistischen Staat, der gegen all das war, wofür er sich einmal eingesetzt hatte. Um diesem schweigenden Vater etwas von seiner Last abzunehmen, saß ich also im Knast und kam ihm näher. So verknorpelt dachte ich im Knast, und ich habe das eine Jahr abgesessen und überlebt. Etwas Ähnliches dachte sich Nawalny vielleicht auch.
Aber es war nicht nur die Gruppe 47, die Paul Celan, den Dichter der „Externer Link: Todesfuge“ ablehnte. Es war auch die DDR, die sich ja nicht schuldig gemacht hatte. Als ich dann Ingeborg Bachmann las, und ihre Liebe zu Celan nicht nur als eine Übernahme auch ihrer auf sich genommenen Schuld sehen wollte, begriff ich das als einen dritten Weg.
Die Zeile „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“ konnte mich nicht stürzen, oder sagen wir bewegungslos machen und damit nicht zum Überleben im Knast und danach in der DDR bringen. Dieser Satz ist ein Vermächtnis, dem ich mich stelle. Ich bin gewachsen als Deutsche, und Liebe habe ich auch auf andere Art denn als Opfer erfahren. Darum gebe ich mich dem Erschrecken über das Ende von Alexej Nawalny hin, der heute uns warnt:
Zitierweise: Gabriele Stötzer, "Der Tod ist ein Meister aus Russland?", in: Deutschland Archiv, 23.02.2024, www.bpb.de/545805. Der Beitrag ist zugleich veröffentlicht im Berliner Externer Link: Tagesspiegel vom 21.2.2024. Alle Beiträge sind Recherchen und Sichtweisen der jeweiligen AutorInnen, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar (hk).
Gabriele Stötzer lebt als Künstlerin und Schriftstellerin in Erfurt, gibt Performanceunterricht an der Uni Erfurt, und arbeitet als Zeitzeugin. Sie erhielt 1994 ihre Stasisakten als Gabriele Stötzer, ehem. Kachold und entdeckte dabei, dass sie seit ihrer politischen Exmatrikulation 1976 bis zum Ende der DDR 1989 im Visier der Stasi war. Vier Vorgänge legte das MfS über sie an:
Untersuchung o.F., wegen § 220 StGB (ohne Festnahme aber Exmatrikulation 1976) 29.12.1976, archiviert 1978 (BStU-Erfurt, Archiv-Nr. 11.444/78)
Operatives Verfahren "Kapitän" wegen § 220 (1 Jahr Strafvollzug wegen Staatsverleumdung 06.01.1977- 05.01.1978) vom 25.11.1976- 08.11.1977 (BStU-Erfurt, Archiv-Nr. 1299/77)
Operatives Verfahren "Toxin" wegen § 106 StGB (staatsfeindliche Hetze) angelegt am 3.07.1979 beendet am 14.10.1986 (BstU-Erfurt, AOP 1753/86, Bd. 1-4)
OPK "Medium", angelegt am 16.04.1989 (bis Ende der DDR), vernichtet.
2013 erhielt sie das Bundesverdienstkreuz u.a. für die Stasibesetzung. Ihr jüngstes Prosa-Buch erschien 2017 unter dem Titel "Das Brennen der Worte im Mund".
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