Die DDR als „strategisches Hinterland“
Über das Verhältnis der Stasi zu den linksterroristischen „Revolutionären Zellen“ in der Bundesrepublik und in West-Berlin. Eine Aktenrecherche.
Jan-Hinrick Pesch
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Seit Anfang 2024 sorgen auch linksterroristische Gruppen in Deutschland wieder für Schlagzeilen, so wie vor dem Mauerfall die sogenannten "Revolutionären Zellen". Jüngstes Beispiel der Anschlag auf die Stromversorgung von Tesla in Brandenburg, oder Solidaritätsaktionen für flüchtige RAF-Mitglieder in Berlin. Was wusste in der DDR die Stasi über solche Gruppierungen mit Nähe zur RAF? Zeitweise offenbar mehr, als der Westen. Aber gab es auch Kontakte? Eine ausführliche Aktenrecherche von Jan-Hinrick Pesch.
I. Einleitung und Fragestellung
Die Friedliche Revolution des Jahres 1989 zementierte den Zerfall des autoritären Systems der Deutschen Demokratischen Republik (DDR). Infolge des Umbruchs gelangten rasch Vorgehensweisen und Beschlüsse an die Öffentlichkeit, welche Entscheidungsträger aus dem Sicherheitsapparat des ostdeutschen Staates als Amtsgeheimnisse sorgfältig gehütet hatten – darunter die Hilfe für die linksterroristische „Bewegung 2. Juni“ (nachfolgend abgekürzt: B2J) Ende der 1970er-Jahre sowie die sogenannten Operativen Vorgänge (OV) „Stern I“ und „Stern II“ des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) zur „Roten Armee Fraktion“ (RAF).
Deutlich wurde: Nach der Festnahme dreier Mitglieder der "B2J" im Jahr 1978 in Prag erwirkte das MfS das Entlassen aus der Haft. Anschließend bot es den Linksterroristen kurzzeitig Unterschlupf in der DDR; wenig später gestattete der Geheimdienst deren Ausreise in den Nahen Osten. Der RAF ermöglichte die Staatssicherheit Anfang der 1980er Jahre nicht nur ein Training an einer Schuss- beziehungsweise panzerbrechenden Waffe, sondern auch ein Unterbringen ausstiegswilliger Mitglieder in der DDR. Letztes entlastete die linksterroristische Gruppe. Zustande kommen konnte diese Verbindung über den 1978 geknüpften Kontakt des MfS zu Inge Viett, einer Angehörigen der 1980 in der RAF aufgegangenen B2J. Bis zur politischen Zäsur in den Jahren 1989 und 1990 lebten auf dem Boden des ostdeutschen Staates – unter falschen Identitäten und mit fortwährender Protektion des MfS – zehn Aktivisten aus den Reihen der RAF, nach denen in der Bundesrepublik Deutschland gefahndet wurde.
Verflechtungen zwischen dem MfS und der B2J sowie die daraus entstandene „RAF-Stasi-Connection“, so ein Schlagwort der Journalisten Andreas Kanonenberg und Michael Müller, fanden in den vergangenen Jahrzehnten ein breites Interesse. Tobias Wunschik – Politikwissenschaftler und langjähriger Mitarbeiter der Stasi-Unterlagen-Behörde – legte quellenbasiert die Interaktion der Staatssicherheit mit der B2J frei. Die auf die RAF zielenden OV „Stern I“ und „Stern II“ zogen zunächst mediale Berichte, später ganze Monografien und fundierte (populär )wissenschaftliche Beiträge nach sich. Anderen Verbindungen des MfS zu terroristischen Akteuren kam ebenfalls beachtliche Aufmerksamkeit zu: dem OV „Separat“ zur „Organisation Internationaler Revolutionäre“ (OIR) um den international agierenden Linksterroristen „Carlos“, der Zusammenarbeit mit dem als Inoffizieller Mitarbeiter (IM) „Friedrich“ geführten Rechtsterroristen Odfried Hepp sowie den Beziehungen zum palästinensischen „Widerstand“.
Einzelne Arbeiten ergingen sich in Spekulationen und verschwörungstheoretischen Urteilen. Zu nennen ist insbesondere das auf MfS-Akten gestützte Werk „Terrorismus-Lügen“ der Journalistin Regine Igel, die etwa der Annahme breiten Raum bot, sozialrevolutionäre Aktivisten aus der Bundesrepublik seien verantwortlich für den dem Rechtsterrorismus zugerechneten Bombenanschlag 1980 auf den Bahnhof in Bologna. Eine solche Version verwarfen italienische Strafverfolgungsbehörden im Jahr 2014 angesichts eines Mangels an Beweisen.
Im Schatten dieses Aufarbeitens stand und steht jenes Netzwerk aus kleinen, voneinander abgeschotteten Gruppen, welches sich in Westdeutschland von 1973 bis Mitte der 1990er-Jahre als Teil der „Stadtguerilla“ mit zuvorderst gegen Sachen gerichteter Gewalt am „bewaffneten Kampf“ gegen die bestehende Staats- und Gesellschaftsordnung beteiligte: die „Revolutionären Zellen“ (RZ). Sie fielen durch ein strategisches Konzept auf, das gesellschaftliche Konfliktfelder als Ausgangspunkt eines sozialrevolutionären Umbruchs deutete. Die Mitglieder verbanden ihre terroristischen Aktivitäten mit einer legalen Existenz; sie gelten daher als „Feierabendterroristen“. Wiewohl die RZ zu den „Großen Drei[en]“ des bundesrepublikanischen Linksterrorismus gehörten und in den Bedrohungsanalysen westdeutscher Sicherheitsbehörden zeitweise oberhalb der RAF rangierten, waren sie bislang nur Gegenstand einer Handvoll Studien. Noch größer ist das Forschungsdefizit, wird der Blick auf das Verhältnis zwischen dem MfS und den RZ geworfen. Hierzu fehlt weiterhin eine (tiefgehende) Publikation.
Wer diese Lücke zu schließen vermag, erhellt nicht nur einen blinden Fleck in der Geschichte des Linksterrorismus. Er stellt auch ergänzendes empirisches Material bereit, das sich als weitere Grundlage für theoretische Überlegungen zur Interaktion terroristischer Strukturen mit anderen Akteuren (darunter Staaten) beziehungsweise zu den Typen und Einflussfaktoren solcher Beziehungen heranziehen ließe. Anders formuliert: Der rekonstruierte Konnex zwischen der Staatssicherheit und den RZ könnte in vergleichende Fallanalysen einbezogen werden und auf diesem Wege das begrenzte geisteswissenschaftliche Verständnis zu „erfolgreichen“ wie ausbleibenden Kooperationen des Terrorismus erweitern.
Ausgehend von den dargelegten Punkten geht die Arbeit der folgenden, explorativen Kernfrage nach: In welcher Beziehung stand das MfS zu den RZ? Aus dieser Frage lassen sich mehrere Unterfragen ableiten, welche die Einzelheiten einer Beziehung widerspiegeln – den Zugang zum Partner, die dem Partner zugeschriebene Wichtigkeit und das Agieren mit dem Partner:
Erstens: Welche operativen Quellen baute das MfS auf, um Informationen zu dem Netzwerk zu sammeln? Führte der ostdeutsche Geheimdienst IM in den Reihen oder in der Peripherie der „Zellen“?
Zweitens: Was wusste die Staatssicherheit über Organisation, Ideologie und Strategie der RZ sowie über deren Mitglieder? Wie schätzte das MfS die vom Netzwerk ausgehenden Gefahren ein? Sah sie ein Risiko für die DDR?
Drittens: In welcher Hinsicht und mit welcher Intensität unterstützte die Staatssicherheit den „bewaffneten Kampf“ der RZ? Bot das MfS systematische oder „nur“ punktuelle Hilfe? Leistete es finanziellen oder materiellen Beistand? Erhielt der Geheimdienst eine Gegenleistung der RZ?
Diese Fragen geben die Struktur meiner Arbeit vor; sie umfasst sechs qualitativ idiographisch angelegte Schritte. Nach eingehenden methodischen Erläuterungen (II.) folgt eine kursorische Übersicht zur Linie XXII des MfS (III.). Von Interesse sind hier deren Genese, Aufgaben und – auf die RZ blickende – Strukturen. Sodann rücken die geheimdienstlichen Mittel und Methoden in den Fokus, mit denen insbesondere die Hauptabteilung (HA) XXII der Staatssicherheit Informationen zu dem linksterroristischen Netzwerk sammelte (IV.). Hierauf aufbauend lässt sich erläutern, zu welchen Erkenntnissen und Urteilen das MfS im Zuge des „Bearbeitens“ der „Zellen“ (nicht) gelangte (V.). Schließlich wird eine etwaige, unmittelbare Interaktion zwischen dem Geheimdienst und den RZ thematisiert: Gegenstand sind die Intensität der Relation sowie die sie – möglicherweise – bestimmenden Triebkräfte (VI.). Das letzte Kapitel (VII.) fasst die wesentlichen Ergebnisse zusammen.
II. Methodisches
Um sich einer Antwort auf die oben dargelegte (Kern-)Frage nähern zu können, sichtete der Autor im Dezember 2022 sowie im Frühjahr und -sommer 2023 mehr als 22.000 Seiten aus Akten diverser Organisationseinheiten des MfS, welche im Bundesarchiv – genauer: im dortigen Stasi Unterlagen-Archiv – auf Antrag zugänglich sind. Der Großteil der eingesehenen Dokumente der DDR-Geheimpolizei stammt aus dem Bestand der „Terrorabwehr“ der Stasi-Zentrale in Ost-Berlin, kleinere Teile unter anderem aus den Bezirksverwaltungen (BV) der Staatssicherheit in Berlin und Potsdam, der für Funkaufklärung wie -abwehr verantwortlichen HA III, dem Sekretariat des Mielke-Stellvertreters Gerhard Neiber und aus der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG).
Die Vollständigkeit der Akten im Stasi-Unterlagen-Archiv unterliegt Einschränkungen. Nicht alles, was das MfS tat, lässt sich entlang der Unterlagen nachvollziehen. Dies gilt auch und gerade für die HA XXII. Die Lücken lassen sich folgendermaßen begründen: Zum einen soll in der ostdeutschen „Terrorabwehr“ die Neigung bestanden haben, Entschlüsse wie das Unterstützen westdeutscher Linksterroristen nicht in allen Einzelheiten aktenkundig zu machen. Ausschlaggebend hierfür war weniger individuelle Nachlässigkeit, wie sie sich bisweilen in der Staatssicherheit zeigte.
Vielmehr resultierte der Hang zum selektiven Aktennachhalt offenbar aus der politischen Brisanz der eigenen Tätigkeit, welche die DDR bei Bekanntwerden international in Verruf hätte bringen können. Die Unvollständigkeit der Unterlagen der HA XXII ist zum anderen mit gewöhnlichen Aktenvernichtungen und der Friedlichen Revolution des Jahres 1989 verknüpft. Ende 1989 sowie Anfang 1990 kam es in der Staatssicherheit zum Vernichten von Akten – teils planmäßig zum Entlasten der eigenen Aktenmagazine, teils kurzfristig und in Eile, etwa zum „Schutz“ der operativen Arbeit. Der Bestand der Hauptverwaltung Aufklärung (HV A) ging größtenteils verloren. Für die Linie XX – zuständig unter anderem für das Beobachten der innerstaatlichen politischen Opposition – können gewichtige Einbußen nachgewiesen werden. Die HA XXII zerstörte ebenfalls Akten; Kenner der Materie beklagen einen signifikanten Verlust. Der genaue Umfang sowie die besonders betroffenen Arbeitsgebiete beziehungsweise Abteilungen liegen jedoch weiterhin im Dunkeln.
Aus den genannten Besonderheiten folgt: Das sich aus den Akten des MfS ergebende Bild muss anderen Quellen gegenübergestellt und eingeordnet werden – ein Schritt, der hier einesteils durch das Hinzuziehen von Selbstzeugnissen aus den Reihen der RZ, anderenteils durch den Abgleich mit der Forschungsliteratur sicherzustellen war. Eine pauschale pessimistische Position gegenüber dem Wahrheitsgehalt der in den Akten abgelegten Informationen ist dabei indes nicht angezeigt. Denn: Das MfS war bestrebt, eine weitgehend der Realität entsprechende Aktenlage zu gewährleisten. Es prüfte Informationen selbst kritisch, forcierte – um mit dem Historiker Roger Engelmann zu sprechen – „eine Art ‚Quellenkritik‘“. Mitarbeiter wurden ermahnt, Fakten weniger subjektiv darzustellen und pauschalisierende Schlüsse zu vermeiden.
Ein ähnlicher Fall ergibt sich aus den vom Autor gesichteten Akten: Zu dem wohl im Jahr 1988 oder wenig später erarbeiteten handschriftlichen Entwurf einer „Aktuelle[n] Einschätzung der ‚Revolutionären Zellen‘“ der „Terrorabwehr“ des MfS findet sich ein in grüner Farbe beschriebener Notizzettel für „Gen. [Reiner] Memmert“ – den Ende der 1980er-Jahre für die RZ zuständigen Auswerter des MfS. Unterzeichnet wurde der Zettel mit dem Kürzel „Pe“, welches der stellvertretende Leiter der Abteilung XXII/8, Hans Hermann Petzold, genutzt haben dürfte. Zu lesen ist auf dem Zettel ein knapper Appell: „das reale Ersch.-bild [Erscheinungsbild] und die wirklichen Kenntnisse darstellen, wie sie sind (nicht behaupten, sondern z.B. als ‚Einzelhinweise‘, ‚op-gesicherte Erk.‘ [operativ-gesicherte Erkenntnisse] u.ä.)“.
III. Struktur und Aufgaben der „Terrorabwehr“ des MfS
Die Vielzahl terroristischer Gewaltakte Anfang der 1970er-Jahre in Westdeutschland hatte nicht nur Folgen für die bundesrepublikanische Architektur aus Nachrichtendiensten und Polizeibehörden. Auch die DDR zog Konsequenzen mit Blick auf die staatliche Sicherheit. Schützen wollte sich das sozialistische Regime vor einem Übergreifen des Terrorismus auf das eigene Territorium und den daraus resultierenden Gefahren für innen- wie außenpolitische Interessen. Des Weiteren fürchtete das Einparteiensystem, der „Gegner“ in Westdeutschland könne das Bekämpfen terroristischer Akteure als Deckmantel für Aktivitäten zum Nachteil der politischen Agenda der DDR nutzen.
Im Ergebnis kam es zu einem neuerlichen Ausbau der Staatssicherheit: 1975 hob der Geheimdienst die Linie XXII aus der Taufe. Die Zentrale in Ost-Berlin erhielt die Abteilung XXII; deren Leitung oblag Harry Dahl, ab 1985 Horst Franz. Anfangs mit rund 100 Stellen bedacht, entwickelte sich die Abteilung bis Ende der 1980er-Jahre zu einer Einheit mit knapp 250 Mitarbeitern. Sie blieb vergleichsweise klein – die HV A etwa zählte 1989 circa 3.300 hauptamtliche Mitarbeiter. Gemeinsam mit der einstigen Arbeitsgruppe des Ministers/Sonderaufgaben, einer Formation aus Spezialkräften, ging die Abteilung XXII kurz vor der Friedlichen Revolution in der rund 900 Mitarbeiter fassenden HA XXII auf. Die „Terrorabwehr“ des MfS gliederte sich Ende der 1970er-Jahre in vier Unterabteilungen. Im Laufe des folgenden Jahrzehnts wuchs diese Struktur auf elf (Unter-)Abteilungen an.
Die Arbeit der Abteilung XXII beziehungsweise der HA XXII flankierten innerhalb der regional agierenden BV für Staatssicherheit sogenannte Arbeitsgruppen (AG) XXII. Solche – ab 1980/1981 aufgebauten – AG waren dem jeweiligen Leiter der BV unmittelbar unterstellt. Er bestimmte „Größe, Struktur und Ausgestaltung“. Im Jahr 1988 stützten sich die AG XXII auf insgesamt 69 Mitarbeiter. Die Aufgaben(-erfüllung) der Linie XXII definierte die Staatssicherheit mit zunehmender Detailtiefe. In den planerischen Grundlagen der Abteilung XXII für das Jahr 1978 war einesteils die Rede von einer „rechtzeitige[n] und umfassende[n] Aufklärung der gegen die DDR und ihre Einrichtungen im Ausland sowie die anderen sozialistischen Staaten gerichteten Pläne, Absichten und Maßnahmen terroristischer, anarchistischer und anderer extremistischer Gruppen und Kräfte“.
Anderenteils wurde das „Bearbeiten“ von Hinweisen verlangt, die auf „Terror- und ähnliche Gewaltverbrechen“ unter anderem zulasten der Luftfahrt oder Grenzen des ostdeutschen Staates hindeuteten. Auf derartigen Generalklauseln aufbauend, konzentrierte sich die Praxis der „Terrorabwehr“ während der späten 1970er-Jahre – sowie in nachfolgenden Jahren – keinesfalls nur auf Akteure, welche politische Positionen zuvorderst über Gewaltanwendung zu verwirklichen suchten. Sie widmete sich auch gewaltlos handelnden Zusammenschlüssen, deren Agenda die Sicherheit der DDR zu gefährden schien. Letzte subsumierte die Linie XXII unter den Begriff des Extremismus. Mithin sah die Abteilung XXII eine Zuständigkeit für ein breites Spektrum an politischen Gruppen und Organisationen als gegeben – darunter Teile des westdeutschen Neonationalsozialismus („Wehrsportgruppe Kühnen“, „Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei/Aufbauorganisation“), Vertreter der in der Bundesrepublik aktiven K-Gruppen („Kommunistische Partei Deutschlands/Marxisten-Leninisten“, „Kommunistischer Bund Westdeutschlands“) und um Menschenrechte ringende Bürgerinitiativen (Brüsewitz-Zentrum).
Ende der 1970er- und Anfang der 1980er-Jahre stärkte das MfS die Linie XXII entlang zweier grundlegender interner Vorschriften. Am 8. Dezember 1979 erließ der Minister für Staatssicherheit, Erich Mielke, den Befehl Nr. 17/79 „zur Aufklärung, vorbeugenden Verhinderung und Bekämpfung subversiver Pläne, Absichten und Maßnahmen linksextremistischer und trotzkistischer Organisationen, Gruppen und Kräfte“. Im Frühjahr 1981 unterzeichnete er die Dienstanweisung Nr. 1/81 „zur Aufklärung, vorbeugenden Verhinderung, operativen Bearbeitung und Bekämpfung von Terror- und anderen operativ bedeutsamen Gewaltakten“. Dem Befehl Nr. 17/79 lassen sich vier nennenswerte Normen entnehmen:
Erstens: Er konstituierte die Pflicht aller operativ tätigen Diensteinheiten der Staatssicherheit, Maßnahmen gegen „provokatorische“ Akte und „infiltrierende“ Handlungen sowie gegen Strukturen, logistische Aktivitäten und propagandistische Tätigkeiten „linksextremistischer“ Akteure auf dem Boden der DDR zu ergreifen. Überdies sollten sie mitwirken an einem „Bekämpfen“ von DDR-Bürgern, welche „durch pseudorevolutionäre ‚Theorien‘ inspiriert werden“. Das Entstehen eines „politischen Untergrundes und dessen Wirksamwerden“ im ostdeutschen Staat sollten verhindert werden.
Zweitens: Der Befehl wies der Abteilung XXII eine federführende Rolle beim Wahrnehmen dieser Aufgaben zu – und griff damit einen Vorschlag der Linie XXII aus dem Jahr 1978 auf. Die Abteilung XXII musste nunmehr insbesondere den Überblick zu erlangten Erkenntnissen und laufenden Vorgängen gewährleisten, die sich auf „linksextremistische“ Personen, Gruppen und Organisationen bezogen.
Drittens: Das Profil der Linie XXII wurde von den Aufgabenfeldern anderer Linien abgegrenzt. So sollte die HV A für die „Aufklärung und das gezielte Eindringen in die linksextremistischen und trotzkistischen Zentren“ im Ausland verantwortlich zeichnen.
Viertens: Mit dem Befehl kodifizierte Mielke einen Leitungsvorbehalt mit Blick auf „offensive“ Maßnahmen von besonderer Tragweite, die auf „linksextremistische“ Strukturen zielten. Die Dienstanweisung Nr. 1/81 zementierte die zentrale Position der Abteilung XXII, schnitt diese jedoch im Kern auf die Abwehr von (angedrohten) Gewaltakten gegen die Interessen der DDR und anderer sozialistischer Länder zu, die im In- oder Ausland ihren Ursprung hatten. Fürderhin bot sie Vorgaben zur Arbeit der AG XXII in den BV für Staatssicherheit. Diese sollten sich „besonders bedeutsamer Operativer Vorgänge“ annehmen, die Lage im eigenen Zuständigkeitsbereich analysieren, Übersichten führen und die Abteilung XXII in Ost-Berlin informieren.
Die RZ – sowie andere linksterroristische Akteure aus der Bundesrepublik – fielen bis 1981 in das Portfolio der Abteilung XXII/1, anschließend in die Domäne der Abteilung XXII/8. Innerhalb der Abteilung XXII/8 klärte das Referat 1 die „Zellen“ auf; die Führung dieser Einheit hatte Eberhard Kind inne. Zeitweise bildeten die RZ dort gemeinsam mit der westdeutschen „autonomen“ Szene einen „operativen Schwerpunktbereich“ (SPB). Die beiden anderen SPB beruhten auf der aktiven RAF, ihrer Peripherie sowie auf ihren Aussteigern (OV „Stern II“). Während die zwei Schwerpunkte zur RAF sowie das „Bearbeiten“ der „Autonomen“ jeweils drei Mitarbeiter banden, entfiel auf die RZ ein Mitarbeiter – dieser leitete zugleich Kollegen in ihrer Tätigkeit zu den „Autonomen“ an.
Ab 1988 erlangten die „Zellen“ im Referat 1 offenbar größeres Gewicht. Ein SPB erwuchs, der ausschließlich die RZ sowie die aus ihnen hervorgegangene „Rote Zora“ beleuchtete. Ihn trugen zwei Mitarbeiter: der stellvertretende Referatsleiter und Hauptmann Reiner Memmert sowie Leutnant Enno Klemm Lorenz. Deren Aufmerksamkeit richtete sich vor allem auf das Sammeln von Informationen, das Identifizieren von Entwicklungen und Mitgliedern sowie auf das Feststellen und Erfassen etwaiger Verbindungen in die DDR.
IV. Operatives „Bearbeiten“ der RZ durch das MfS
Interne Maßgaben des ostdeutschen Geheimdienstes zur „Aufklärung“ der RZ gestatteten einen „komplexe[n] Einsatz aller op. [operativen] und op.-techn. [operativ-technischen] Möglichkeiten des MfS“ – etwa der Fähigkeiten der HA III und der mit Postkontrolle betrauten Abteilung M. Die Linie XXII reizte den gewährten Spielraum bei der „Bearbeitung“ der „Zellen“ weitgehend aus: Sie bediente sich eines breiten Instrumentariums an Mitteln und Methoden. Es reichte von einer Durchsicht diverser, frei zugänglicher Periodika über das Sammeln von Erkenntnissen zu verdeckten wie offenen Maßnahmen westdeutscher Polizeien und Nachrichtendienste bis hin zum Gewinnen und „Abschöpfen“ einzelner IM. Was das Auswerten öffentlicher Quellen anbelangt, so begnügte sich die Linie XXII nicht mit der Lektüre der Jahresberichte des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) und dem eigenständigen Sichten einschlägiger Ausschnitte größerer westdeutscher Zeitungen.
Informationen erlangte die Abteilung XXII auch aus Szeneblättern des bundesrepublikanischen Linksextremismus, wie zum Beispiel Interim, und aus (behördlichen) Publikationen im englischsprachigen Raum. Exemplarisch ist der Zugriff auf die der Öffentlichkeit übergebene Broschüre „Terrorist Group Profiles“ der US amerikanischen Ministerien für Äußeres und Verteidigung aus dem Jahr 1989 – diese bot einen konzisen Einblick in die Programmatik der RZ. Die „Terrorabwehr“ bezog ferner jene Medienschau, welche die Abteilung Agitation des MfS in einem 15-tägigen Rhythmus verschickte. Aus diesen Zusammenstellungen ließen sich Einzelheiten zu prägenden und weniger bedeutsamen Ereignissen in der Geschichte der RZ entnehmen, darunter das Verteilen gefälschter Fahrkarten des Nahverkehrs in West Berlin, das Entführen einer Passagiermaschine nach Entebbe, das Gerichtsverfahren gegen die RZ Mitglieder Gerhard Albartus und Enno Schwall sowie der Mord am hessischen Wirtschaftsminister Heinz-Herbert Karry.
Größere Mengen an Daten mit thematischen Bezügen zu den RZ erhielt die Linie XXII von der HA III. Die mitunter ausgesprochen inhaltsreichen Schreiben der Linie III ließen Rückschlüsse auf das Vorgehen und den Kenntnisstand der Sicherheitsbehörden in Westdeutschland zu. Daraus erfuhr die „Terrorabwehr“, was der „Gegner“ wusste. Dazu zwei Beispiele: 1978 dokumentierte die HA III ein an Algerien, Griechenland, Libyen, Marokko und Tunesien adressiertes Fahndungsersuchen der Interpol-Dienststelle in Wiesbaden zu drei Angehörigen der „Zellen“: Sabine Eckle, Christian Gauger und Rudolf Schindler. Dem vorangegangen war, so die Meldung im Weiteren, das Abtauchen dieser Personen in die Illegalität als Folge einer bemerkten Observation. Zusätzlich notierte die HA III: Eckle, Gauger und Schindler sowie Sonja Suder „werden durch den Gegner dem […] ‚harten Kern‘ der ‚Revolutionären Zelle‘ Frankfurt/Main zugerechnet.“ Es folgen Angaben zu den Funktionen innerhalb der RZ, die bundesrepublikanische Behörden den vier Aktivisten zuschrieben. 1986 verfasste die Linie III, ausgehend von einer abgefangenen Kommunikation zwischen dem BfV und dem Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) in West-Berlin, eine Information der Kategorie A. Darin heißt es: Laut Schlussfolgerungen des LfV „existieren zur Zeit [sic] in Westberlin maximal noch zwei, mit hoher Wahrscheinlichkeit sogar bloß noch eine RZ, die jedoch allgemein als total inaktiv eingeschätzt werden.“
Eine weitere, der „Terrorabwehr“ zuliefernde Stelle war die HV A. Entweder bat die Abteilung XXII die Auslandsspionage um ein Tätigwerden, so im Falle einer Kontaktperson Enno Schwalls – oder die HV A übermittelte von sich aus Informationen an die Linie XXII. Ob ihres sensiblen Inhalts und des schieren Umfangs nennenswert ist eine für den Leiter der Abteilung XXII bestimmte Nachricht der HV A vom September 1988: Ihr beigefügt ist ein 63-seitiger, mit den Klauseln „streng geheim“ und „Quellenschutz“ versehener Bericht vom März 1988 über die RZ und die westdeutschen „Autonomen“, der offensichtlich von einer bundesrepublikanischen Sicherheitsbehörde – wohl vom Verfassungsschutz – erarbeitet worden war.
Mit den „Bruderorganen“ sozialistischer Staaten pflegte die Abteilung XXII einen regen und intensiven Austausch zum OV „Separat“, nicht jedoch zu den RZ. Mehrfach sah sie das Netzwerk als Randthema für Gespräche vor, etwa in der Kooperation mit der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik (ČSSR) und Ungarn. In den Treffen selbst kam es jedoch nicht zur Sprache. Mitte 1989 beabsichtigte die Staatssicherheit, die ČSSR im bilateralen Dialog (auch) um Erkenntnisse zu einzelnen RZ Mitgliedern wie Thomas Kram und Adrienne Gerhäuser zu bitten. Ob dies geschah, lässt sich den Akten nicht entnehmen.
Trotz aller in den eigenen Unterlagen festgehaltenen operativen Fallstricke und Risiken – die Konspiration terroristischer Gruppen, das mögliche Durchdringen dieser Akteure im Zuge der „Operationen“ westlicher Nachrichtendienste sowie das Einbeziehen von IM in Aktivitäten gegen die DDR – schrieb das MfS menschlichen Quellen in der „Terrorbekämpfung“ eine herausragende Rolle zu. Anfang 1983 machte Gerhard Neiber auf einer Dienstkonferenz deutlich: Die Aufgabe der Linie XXII sei „Suche nach dem Feind […] und […] über den Weg des zielgerichteten Einsatzes der IM […] und der Nutzung aller weiteren […] politisch operativen Mittel“ zu lösen. Ganz im Sinne dieser Vorgabe verfügte das MfS über „inoffizielle“ Zugänge zu den „Zellen“. Anders gesagt: Es konnte Personen für eine Zusammenarbeit gewinnen, die sich im inneren Bereich oder im weiteren Umfeld der RZ bewegten. Das Führen dieser Quellen übernahm beziehungsweise übernahmen die Linie XXII und/oder die HV A.
Während der 1970er-Jahre blieb das Rekrutieren von IM mit ergiebigen Einblicken in die RZ augenscheinlich ohne größeren Erfolg. Bereits im Jahr 1975 geriet eine Person in den Fokus der Auslandsspionage des ostdeutschen Geheimdiensts, die zur Gründergeneration der ab 1973 aktiven RZ zählte: der 1941 in Kurow geborene und an der Frankfurter Universität als wissenschaftliche Hilfskraft tätige Diplom-Psychologe Christian Gauger. Gaugers Mitgliedschaft in den „Zellen“ war der Staatssicherheit zu diesem Zeitpunkt nicht bekannt. Mit Blick auf die operativen Interessen der HV A notierte ein Mitarbeiter zu Gauger Folgendes handschriftlich in den Akten: „Die operative Bedeutung […] liegt in seiner Zugehörigkeit zur untersten Stufe des Lehrkörpers […] [der Bundesrepublik] und zweifello[s] vorhandenen operativ interessanten Verbindungen (Mitglied des RK = revolutionäres Komitee […])“.
Die Auslandsspionage versah Gauger mit dem Decknamen „Karl“; im März 1975 sprach sie ihn während der Frühjahrsmesse in Leipzig unter Legende an. Gauger bezweifelte die Fassade, das MfS gab sich dennoch nicht zu erkennen. Im Laufe der Unterredung machte Gauger keinen Hehl aus seiner linksextremistischen Position und der Sympathie für gewaltsame Taten. Er soll bekundet haben, auch das MfS als Gesprächspartner akzeptieren zu wollen. Nach dem Treffen kam die HV A zu dem Schluss, Gauger könne „als Werber eingesetzt werden“ – als Mittler, der Kontakt aufnimmt zu anderen Personen und diese für eine Kooperation mit dem MfS gewinnt. Da er einen Anschlusstermin mit der Auslandsspionage nicht wahrnahm, veranlasste die Staatssicherheit Mitte April 1975 ein Archivieren des Vorgangs.
Erst in den 1980er-Jahren baute die Staatssicherheit vor allem sogenannte Inoffizielle Mitarbeiter mit Feindberührung (IMB) auf, die detailliert über die RZ, einzelne Mitglieder und über die Perzeption des Netzwerks im westdeutschen Linksextremismus zu berichten vermochten. Unter die Kategorie des IMB fasste der ostdeutsche Geheimdienst hochwertige Quellen, welche unmittelbar in Verbindung zu Aufklärungszielen des ostdeutschen Geheimdienstes standen. Informationen über die RZ lieferten wiederholt die IMB „Peter Lange“, „Petra Lange“, „Beate Schäfer“ und „Jürgen Bade“/„Franz Baade“. „Peter Lange“ und „Petra Lange“ bildeten über Jahre hinweg einen zentralen Baustein in der gegen das Netzwerk gerichteten operativen Tätigkeit des MfS. „Peter Lange“ gehörte wohl, neben Wilfried Böse, Brigitte Kuhlmann und Hans Joachim Klein, zur Gründergeneration der „Zellen“. Etwaige IM-Akten zu beiden Quellen fehlen, ebenso Verpflichtungen und handschriftliche Vermerke. Die – von Helmut Voigt geführten – IMB „Peter Lange“ und „Petra Lange“ berichteten der „Terrorabwehr“ des MfS zu der RZ Mitgliedschaft Gerhard Albartus‘, der Position der „Zellen“ gegenüber der OIR, dem Ausstieg Gerd-Hinrich Schnepels aus dem Terrorismus sowie zu dessen Leben in Nicaragua und Rückkehr nach Westdeutschland.
Unter dem Namen „Beate Schäfer“ führte das MfS – die Linie XXII sowie die HV A – die im Jahre 1987 verstorbene Grünen-Politikerin und Europaparlaments-Abgeordnete Brigitte Heinrich. Der Kontakt zu ihr verlief bisweilen über ihren Lebensgefährten, den ehemaligen RAF Anwalt Klaus Croissant. Er arbeitete als IMB „Taler“ für die Abt. XXII. Heinrich bot der „Terrorabwehr“ Informationen zu mehreren tatsächlichen oder mutmaßlichen Mitgliedern der RZ, unter ihnen Sabine Eckle, Rudolf Raabe und Gerhard Albartus. Ferner machte sie Angaben, denen zufolge die Täter des Mordes an Karry in den Reihen der RZ zu suchen seien. Der IMB „Jürgen Bade“ – ab November 1985 trug er den Namen „Franz Baade“ – bewegte sich in der „autonomen“ und Hausbesetzer-Szene der Bundesrepublik, welche die RZ im Laufe der 1980er-Jahre als „revolutionäres Subjekt“ zu mobilisieren versuchten. Im Jahr 1988 löste er sich aus der Kooperation mit der Abteilung XXII. Zuvor hatte er der „Terrorabwehr“ linksextremistische Reaktionen auf die Gewalt der „Zellen“ dargelegt und ideologische Standpunkte des Netzwerks erläutert.
In den Selbstzeugnissen Magdalena Kopps und Thomas Krams findet sich die Annahme, die OIR habe Gerhard Albartus Ende der 1980er-Jahre aufgrund seines Rufs als „Spitzel“ der Staatssicherheit ermordet. Dass Albartus ein genuiner Zuträger des MfS war, lässt sich den einsehbaren Akten des ostdeutschen Geheimdienstes nicht entnehmen. Albartus pflegte Beziehungen zur „Carlos“-Gruppe. In einem „Maßnahmeplan“ der Abteilung XXII/8 aus dem März 1982, der das aus dem OV „Separat“ resultierende „Bearbeiten“ seines Falles skizzierte, finden sich keine Hinweise zu einem (möglichen) Einsatz als IM. Gleiches gilt für ein internes Papier unter anderem zu dem Vorwurf der „Carlos“-Gruppe, das MfS wolle „Mitglieder […] als Agenten […] werben.“ Zwar unternahm Albartus anlässlich seiner Zusammentreffen mit der OIR Reisen in oder über die DDR und führte dabei Gespräche mit der „Terrorabwehr“. Diese blieben aber oberflächlich und sollten in erster Linie – wie unten gezeigt werden wird – Komplikationen im Reiseverlauf vermeiden.
Die „Terrorabwehr“ konservierte erlangte Daten sowie die darauf aufbauenden Urteile zu den RZ in Dutzenden Akten, deren innere wie äußere Systematik sich oftmals nicht (sogleich) erschließt. Wohl erst ab Mitte der 1980er nutzte die Abteilung XXII in Ost-Berlin eine „Feindobjektakte“ (FOA) für das Netzwerk. Derartige FOA dienten als zentrale Ablage für Informationen zu „Objekten“ außerhalb der Grenzen der DDR und erforderten ein förmliches Registrieren in der „Zentrale Auskunft, Speicher“ (Abteilung XII).
V. Kenntnisstand und Einschätzungen des MfS zu den RZ
Das Bild der Staatssicherheit zu den RZ verfeinerte sich graduell. Im Oktober 1978 legte die Abteilung XXII Ergebnisse aus der Aktion „Express“ vor, mit der sie das personelle Reservoir des westdeutschen Linksterrorismus und dessen Bezüge zur DDR umfassend zu ermitteln versucht hatte. Die „Terrorabwehr“ bedachte die RZ darin mit einer kursorischen Passage: Sie zählten zu den „stabilsten […] und damit zugleich bekanntesten“ Akteuren des gewaltbereiten Linksextremismus der Bundesrepublik. Bekannt geworden seien sie durch die „Täter“ Klaus Croissant, Siegfried Haag und Johannes Roos. Den ersten Sachstandsbericht zum Netzwerk stellte die Auswertungs- und Kontrollgruppe (AKG) der Abteilung XXII Anfang 1979 fertig. Hinter den RZ, so die AKG, verbergen sich kleinere, seit 1973 aktive „Gruppierungen von je drei bis vier Personen, die untereinander in lockerer Verbindung stehen und bisher […] mit Sprengstoff- und Brandanschlägen hervorgetreten sind.“
Weiterführend unterstrich der Bericht die jeweilige Interaktion zwischen dem Netzwerk und der „Popular Front for the Liberation of Palestine“ (PFLP), den italienischen „Roten Brigaden“ und der RAF. Aktionsschwerpunkte der „Zellen“ lägen vor allem im Rhein Main Gebiet und in West-Berlin. Abschließend referierte die AKG Angaben westdeutscher Sicherheitsbehörden zu den Aufgaben einzelner Mitglieder innerhalb der RZ: Sonja Suder übe „eine diktatorische Rolle bei der Auswahl“ neuer Aktivisten aus, Sabine Eckle lege Sprengstoffdepots an und Rudolf Schindler bilde im Umgang mit Explosivmitteln aus.
Mitunter erheblich im Widerspruch zu dieser Berichtslage stehen einzelne Dokumente, welche Anfang der 1980er-Jahre entstanden. Das „streng geheime“, vermutlich 1980 oder wenig später zusammengestellte „Nachschlagewerk“ zu ausländischen „Extremisten- und Terrororganisationen“ datiert das Entstehen der RZ auf das Jahr 1970 und ordnet sie als „Zelle der RAF“ ein. Ein anderes Papier aus Januar 1980 – dieses stammt aus der Feder der für Spionageabwehr verantwortlichen HA II – sieht die Ursprünge des Netzwerks im Jahr 1975. Als mutmaßliche Gründer nennt es die RAF-Anwälte Siegfried Haag und Jörg Lang: Mit den RZ hätten beide eine neue Form der RAF schaffen wollen. Teil des Vorgehens der „Zellen“ wäre ein „Ausweichen ins Ausland […]. Von dort stoßen sie dann überfallartig vor und ziehen sich wieder zurück.“
Retrospektiv stellen sich diese initialen Urteile allenfalls punktuell als zutreffend dar. Die RZ konstituierten tatsächlich ein zelluläres Geflecht aus einzelnen, selbstständig agierenden Zirkeln, die auf Grundlage gemeinsamer ideologischer wie strategischer Paradigmen – mal mehr, mal weniger – miteinander vernetzt waren. Selbstzeugnisse aus ihren Reihen untermauern dies. Plausibel sind überdies die RZ Mitgliedschaft Johannes Roos‘ sowie die Hinweise auf grenzübergreifende Präsenz und Kooperation: Mitte der 1970er-Jahre existierte eine international aktive „Zelle“ um Wilfried Böse und Brigitte Kuhlmann, die im Ausland eng mit der PFLP Splittergruppe unter Wadi Haddad kooperierte. Sie beteiligte sich unter anderem an dem Überfall auf die Konferenz erdölexportierender Staaten Ende 1975 in Wien und an der erwähnten Geiselnahme im ugandischen Entebbe.
Andere Inhalte der dargelegten Berichte des MfS erweisen sich dagegen als fehlerbehaftet. Weder gründeten sich die RZ im Jahr 1970 beziehungsweise 1975 – noch traten sie als Unter- oder Nachfolgegruppe der RAF auf. Ihre ersten Anschläge verübten sie im November 1973. Die Advokaten Croissant, Haag und Lang spielten innerhalb des Netzwerks keine Rolle. Croissant und Lang schufen in den 1970er-Jahren Strukturen, welche zu einem Personalreservoir der RAF avancierten. Haag lenkte ab 1975 eine Gruppe aus der zweiten RAF-Generation: die „Haag Mayer Bande“. Dass die Staatssicherheit das Entstehen der „Zellen“ nicht korrekt rekonstruierte, bleibt überraschend. Denn sie legte in ihren Akten Protokolle aus den Zeugenvernehmungen zwischen dem Bundeskriminalamt (BKA) und dem RAF Mitglied Gerhard Müller ab – jene Protokolle, mit denen der Hamburger Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar im Jahr 2006 die Genese der RZ erhellen sollte. Die Niederschriften des BKA belegen die Aktivitäten des RZ Gründers Wilfried Böse als Unterstützer der RAF sowie dessen frühen Wunsch nach einer eigenen „Stadtguerilla“.
1983 zog die Linie XXII mit Blick auf die „Zellen“ – wohl eher triumphierend als ernüchtert – den Schluss: „Verfassungsschutz verfügt (ebenso wie wir) nur über wenig Informationen zu diesen“. In den Jahren danach verbesserte sich der Kenntnisstand. Die Abteilung XXII gelangte zu Lageberichten, welche – im Vergleich zu vorangegangenen Produkten – weitaus punktgenauer und widerspruchsfreier wirken. Zu Aufbau und Fähigkeiten der RZ hielt die „Terrorabwehr“ fest: Die einzelnen „Zellen“ bestünden aus drei bis fünf Personen, die auf (längere) persönliche Bekanntschaften oder Liebesbeziehungen zurückblicken könnten. Ein Rekrutieren neuer Mitglieder nehme das Netzwerk mit Bedacht vor. Das verdeckte „Eindringen in die Strukturen der ‚Revolutionären Zellen‘ [erscheint] fast unmöglich“; westlichen Sicherheitsbehörden sei dies jedenfalls nicht gelungen. Besonders präsent wären die RZ in Hamburg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und in West-Berlin. Logistische Hilfe, so vermutete die Abteilung XXII, erhielt das Netzwerk zeitweise von der „Carlos“ Gruppe.
Die ideologische Agenda des Netzwerks beschrieb der ostdeutsche Geheimdienst floskelhaft als „pseudorevolutionär“ sowie als Ausdruck „spontane[r] Tendenzen […] und teilweise antikommunistische[r] Auffassungen“.
Hinsichtlich des strategischen Vorgehens der „Zellen“ konstatierte die „Terrorabwehr“ im Oktober 1986, das Netzwerk habe sich Mitte der 1970er-Jahre in ein nationales und in ein internationales Lager aufgespalten. Die nationale Linie um Eckle, Gauger, Schindler und Suder hätte dem „Kampf“ in Westdeutschland den Vorrang eingeräumt und sich unter dem Titel „Die andere Fraktion“ zusammengeschlossen. Grenzübergreifendes Auftreten befürworteten dagegen unter anderen Magdalena Kopp und Johannes Weinrich – beide wären schließlich zur OIR gegangen. Von schockierenden Angriffen mit hoher Opferzahl sähen die „Zellen“ ab.
Ende der 1980er Jahre notierte das MfS: Gegenwärtig seien die Mitglieder der RZ Aktionen gegen „imperialistische“ Regierungen verpflichtet und um ein Radikalisieren des westdeutschen Linksextremismus bemüht. Zugleich würden sie „bestimmte soziale Bewegungen […] unterstützen (z.B. An[ti] AKW Bewegung, Solidarität mit der 3. Welt, gegen Gen Technologien)“. Ihre Taten inspirierten „Resonanzgruppen“; diese würden das Tatmuster des Netzwerks kopieren. Und weiter: Die Aktivisten des Netzwerkes zögen es vor, ihre legale Existenz mit terroristischen Aktivitäten zu verknüpfen.
Ab 1988 sah die Linie XXII die RZ in einer Schwächephase. Deren Aktivitäten seien rückläufig. Zunächst begründete die Staatssicherheit diesen Einbruch mit der Aktion „Zobel“, welche die bundesdeutsche Polizei im Dezember 1987 gegen die „Zellen“ unternommen hatte. Der Gegner, vermerkte ein Mitarbeiter der „Terrorabwehr“, konnte „einzelne nach dem ‚RZ‘-Prinzip arbeitende Gruppen […] zerschlagen.“ Später führte sie „Fragen der Perspektivlosigkeit“ und mangelnde Hilfe für ihre Programmatik als Ursachen an. Diese Urteile speisten sich offenbar aus den Informationen eigener IM sowie aus den Hinweisen auskunftsfähiger Quellen der HV A, die die Abteilung XXII im September 1988 zusammenfasste. Das entsprechende Dokument hält fest: Die RZ gingen von einer limitierten Handlungsfähigkeit aus – und zwar infolge der Aktion „Zobel“. Ihr Augenmerk läge auf dem Abwenden weiterer Festnahmen und dem Aufrechterhalten der Sicherheit des Netzwerks. Angestrebte Taten ließen sich aus Sicht der „Zellen“ entweder gar nicht oder lediglich mit reduziertem Umfang realisieren. Sie hätten die Maßgabe ausgegeben, möglichst „dezentrale Aktionen im gesamten Bundesgebiet“ vorzunehmen.
Zentrale Teile der Sachstandsvermerke des ostdeutschen Geheimdiensts aus den 1980er-Jahren stimmen mit den Erinnerungen einstiger Aktivisten des Netzwerkes überein. Nach der Geiselnahme 1976 in Entebbe, die im Tod Wilfried Böses und Brigitte Kuhlmanns mündete, sei es zu veritablen Friktionen zwischen einer Gruppe aus „Hardlinern“ und „Der anderen Fraktion“ gekommen. Erste habe die bisherige Agenda mit ihrer internationalen Komponente fortsetzen wollen. Letzte wäre für einen Abbruch grenzübergreifender Beziehungen und den „bewaffneten Kampf“ entlang der Gegebenheiten in Westdeutschland eingetreten. Johannes Weinrich und Magdalena Kopp, dies bestätigten Thomas Kram und Gerd-Hinrich Schnepel in Interviews, schlossen sich in den Jahren danach der OIR an. Der Übertritt sei indes keine unmittelbare Konsequenz des internen Zerwürfnisses gewesen. Tatsächlich soll die „Carlos“-Gruppe die Logistik der RZ gestärkt haben.
Die grundsätzlich auf Personenschaden verzichtende Strategie des Netzwerkes im Inland beschrieben RZ-Papiere als ein Anknüpfen an gesellschaftliche Konflikte: „Da, wo es Kämpfe gibt, verhalten wir uns dazu.“ Daneben unterstrich die Propaganda, das Abtauchen in die Illegalität bleibe für die Angehörigen der einzelnen Gruppen eine Ultima Ratio. Anfang der 2000er-Jahre bestätigte das justizielle Aufarbeiten der Straftaten West-Berliner RZ diese Praxis. Über die gleichermaßen vom BfV identifizierten „Resonanzgruppen“ beklagten sich im Jahr 2022 ehemalige Mitglieder der „Zellen“ in der Rückschau. So habe es „zum Teil wirklich hahnebüchene [sic] Anschläge von Gruppen [gegeben], die sich RZ nannten.“
Im Abgleich mit Quellen aus den Reihen der RZ erweisen sich ferner die Erkenntnisse der Linie XXII zur Schwäche des Netzwerks Ende der 1980er-Jahre als präzise. Laut vormaliger Aktivisten blieb eine systematische Kampagne nach der Aktion „Zobel“ aus. Zwar hätten Pläne existiert; adäquate Lösungen wären aber nicht greifbar gewesen. „Kleinmütiges und Katerstimmung“ sollen dominiert haben. Wie sich aus einem anderen Selbstzeugnis ergibt, mussten die RZ eine für Sommer 1988 vorgesehene Aktionsreihe gegen den Internationalen Währungsfonds zugunsten drängender interner Probleme zurückstellen: „Unsere ganze Kraft wurde gebraucht, um die vorhandenen Löcher zu stopfen, um die Versorgung der Illegalisierten sicherzustellen und […] zu schauen, wie groß ist überhaupt das Ausmaß der Sicherheitsprobleme.“ Später paarte sich dies offenbar mit Kontroversen um neue ideologische Positionen und das weitere Vorgehen.
Den personellen Unterbau der „Zellen“ – Mitte der 1980er-Jahre gingen westdeutsche Sicherheitsbehörden von 50 bis 80 RZ-Aktivisten aus – deckte das MfS wohl nicht vollständig auf. Indizes und andere Listen sowie Erfassungsbelege und Mitgliederdossiers in den Beständen des Stasi Unterlagen-Archivs lassen den Schluss zu: Der „Terrorabwehr“ waren deutlich mehr als 25 mutmaßliche oder tatsächliche Aktivisten des Netzwerks namentlich bekannt. Dieses Wissen entsprang einesteils Informationen zu medienwirksamen Aktionen der „Zellen“ (etwa der Geiselnahme in Entebbe) sowie Details aus größeren sicherheitsbehördlichen Maßnahmen in Westdeutschland, darunter die genannten Fahndungen des Jahres 1978 und die Aktion „Zobel“. Anderenteils erlangte das MfS Erkenntnisse zu Angehörigen der „Zellen“ infolge des zeitweise lückenlosen Überwachens der OIR. Wenig bieten die einsehbaren Akten der „Terrorabwehr“ demgegenüber zu einzelnen regionalen Strukturen der 1980er-Jahre: Wer inhaltsreiche Unterlagen zu den ausgesprochen aktiven Akteuren der RZ in West-Berlin sucht, wird enttäuscht. Lothar Ebke, einer der Angehörigen der Berliner „Zellen“, erfasste das MfS 1982 als Kontaktperson Gerhard Albartus‘. Von einem weiteren Nachforschen zu seiner Person sah die Linie XXII jedoch augenscheinlich ab.
Die vom Netzwerk ausgehenden Gefahren für die DDR stellten sich in der Perzeption des MfS als geringfügig dar. Im Jahr 1986 fehlten Belege für Aktivitäten, welche mit den Interessen des ostdeutschen Staates hätten kollidieren können. Die Staatssicherheit notierte: „Laut inoffiziellen Hinweisen beziehen die ‚RZ‘ gegenüber der DDR eine loyale Haltung und ordnen die sozialistischen Staaten als strategisches Hinterland ein.“ Jahre später formulierte die Abteilung XXII das Urteil, „aufgrund der überwiegend antiimperialistischen Grundausrichtung“ der „Zellen“ sei ein „feindliches“ Agieren „nur bedingt“ zu erwarten. Einer Übersicht der „Terrorabwehr“ für das Jahr 1988 war Entwarnendes zu entnehmen. Weder sei das Netzwerk mit „subversiven“ Aktionen zulasten der DDR aufgefallen noch „missbrauche“ es deren Staatsgebiet für terroristische Kampagnen.
Der erhalten gebliebene Aktenbestand der Linie XXII fasst kursorische Informationen zu Hilfen des MfS für die RZ. Einen ausgedehnten Beistand – wie er sich in den Fällen der B2J und der RAF ergeben hatte – gewährte die Staatssicherheit dem Netzwerk augenscheinlich nicht. Nachweisbar ist ein niedrigschwelliges Unterstützen zwischen den Jahren 1979 und 1985, das offenbar keine greifbaren Gegenleistungen der RZ hervorrief. Die Staatssicherheit gestattete einer Handvoll Aktivisten der „Zellen“, ihre Kontakte zur OIR auf dem Boden der DDR und in Ungarn zu pflegen. Sie wusste, dass die entsprechenden Reisen wiederholt mit gefälschten Identitätsdokumenten erfolgten und derartige Taten die Merkmale des § 213 Absatz 3 Ziffer 4 des Strafgesetzbuchs der DDR zu erfüllen vermochten.
Die von der „Terrorabwehr“ geduldeten Beziehungen zur „Carlos“ Gruppe folgten nicht nur persönlichen Motiven einzelner RZ Aktivisten. Sie waren auch Ausfluss handfester Interessen innerhalb der RZ, befriedigten gewissermaßen praktische Bedürfnisse. Abgesehen von logistischen Vorteilen versprach der Kanal zur OIR „Rückzugsmöglichkeiten“ bei drohenden Festnahmen in Westdeutschland.
Besonders plastisch wird die begrenzte Rückendeckung der Staatssicherheit in den Materialien zu Gerhard Albartus, der sich in den 1980er-Jahren einer RZ in West Berlin anschloss. Die Abteilung XXII fertigte Notizen zu persönlichen und telefonischen Gesprächen, welche sie mit ihm im Zuge seiner Reisen führte. Am 12. Dezember 1981 gingen zwei Mitarbeiter der „Terrorabwehr“ – Wilhelm Borostowski und Helmut Voigt – am Flughafen Berlin Schönefeld auf Albartus zu. Sie schlugen vor, ihn zum Grenzübergang an der Friedrichstraße zu fahren. Nach anfänglichem Zögern akzeptierte er die Offerte. Während der Fahrt bat Albartus einerseits darum, sein Flugticket entgegenzunehmen – das Dokument war auf seine falsche Identität ausgestellt worden. Dies, erklärte er, erspare ihm ein Vernichten des Papiers. Andererseits äußerte Albartus einen pikanten Wunsch:
„‚Kai‘ [Gerhard Albartus] stellte […] die Frage, ob Unterzeichner [Helmut Voigt] von einer Liste Kenntnis habe, in der 13 Namen erfasst wären, die im Zusammenhang mit seiner Person durch den Verfassungsschutz in der BRD unter verstärkter Observation stünden. Ihm seien dazu […] nur acht Namen bekannt und es wäre für ihn sehr wichtig, auch noch die restlichen fünf Namen zu erfahren. Er wollte wissen, ob ihm diese Namen übergeben werden könnten.“
Mehrfach sollen die Mitarbeiter der Abteilung XXII dies abgelehnt haben; Albartus ließ daher von seiner Bitte ab. Der Austausch berührte eine Reihe weiterer Themen, so den Besuch des westdeutschen Bundeskanzlers Helmut Schmidt in der DDR. Die Fahrt endete nahe der Staatsbibliothek in Ost-Berlin. Weitere Vermerke der Linie XXII skizzieren die Inhalte telefonischer Kontaktaufnahmen im Jahr 1985. Mitte Februar 1985 informierte Albartus die Staatssicherheit zu seinen Flügen zwischen der DDR und der Ungarischen Volksrepublik. Er erbat ein Transitvisum für die Rückreise und äußerte „seine Zufriedenheit über […] die ihm […] durch uns [das MfS] erteilte Unterstützung“.
Dieser Ablauf wiederholte sich in einem Telefonat am 12. März 1985:
„Er [Gerhard Albartus] bat darum, ihm die Grenzpassage über Flughafen Berlin-Schönefeld zu gestatten und zu veranlassen, dass ihm keine Sichtvermerke in seine Reisepapiere eingetragen werden. Gleichzeitig kündigte er seine Rückreise aus Budapest für den 13.3.1985 an und bat auch dafür um die Einleitung entsprechender Maßnahmen. Ihm wurde die Zusage dazu gegeben.“
Wenige Monate später rückte die Linie XXII von ihrer wohlwollenden Position zu derartigen Reisen ab. Hintergrund war der Wandel im Verhältnis zur OIR. Die Hilfen für die „Carlos“-Gruppe gerieten zusehends zu einem politischen Risiko, hatte doch das LfV in West-Berlin einen zutreffenden Hinweis zum Aufenthalt Johannes Weinrichs im April 1984 in der DDR erhalten. Darüber hinaus scheiterten Versuche der „Terrorabwehr“, die OIR in ihrem Sinne zu „disziplinieren“. Ende 1985 verhängte der ostdeutsche Staat Einreisesperren gegen sämtliche Mitglieder und Unterstützer des Zirkels um „Carlos“. Hiervon erfuhr Gerhard Albartus, als er am 11. November 1985 über den Bahnhof Friedrichstraße in die DDR zu gelangen versuchte. Die Grenzbeamten wiesen ihn ab. In West-Berlin rief Albartus Wilhelm Borostowski an und erkundigte sich nach den Ursachen für die Maßnahme. Verärgert über die Kontaktaufnahme aus dem Ausland, verwies Borostowski auf die eingeleiteten Sperren, deren Dauer nicht bestimmt sei. Danach endete das Gespräch. Wie einstige RZ-Mitglieder nahelegten, führte die „Terrorabwehr“ ihre Hilfe für das Netzwerk auf anderem Wege fort. Wohl ab 1984 intensivierte das BKA seine Ermittlungstätigkeit gegen die „Zellen“. Über einen Abgleich der Bombenkomponenten aus Dutzenden Anschlägen der RZ zeigte sich: Die Aktivisten nutzten bevorzugt einen Wecker, der den Namen „Emes Sonochron“ trug. Das BKA kaufte die letzten Chargen auf und versah Ziffernblatt, Uhrwerk und Verpackung jeweils mit einer mehrstelligen Nummer. Die bearbeiteten Wecker boten sodann ausgewählte Läden zum Verkauf an. Per Video und Observation überwachte die Polizei die Geschäfte. Hierdurch sammelte sie Daten, welche Grundlagen für die Aktion „Zobel“ zwischen dem 18. und 21. Dezember 1987 schufen.
In diesem Zeitraum durchsuchten Polizeibeamte in mehreren westdeutschen Städten Wohnungen und Arbeitsräume. Überdies kam es zu Festnahmen – die Polizei arretierte unter anderen Ursula Penselin und Ingrid Strobl. Die Maßnahme kulminierte jedoch nur in einem begrenzten Erfolg: Mehrere Personen, unter ihnen die RZ Mitglieder Thomas Kram und Adrienne Gerhäuser, kamen einer Verhaftung durch das Abtauchen in die Illegalität zuvor. Sie hatten ein warnendes Signal erhalten – und zwar, so schrieben ehemalige Aktivisten des Netzwerks im Jahr 2001, „aus dem Reich der Stasi, mit der niemand je gerechnet hätte“.
Martin Tuffner, seinerzeit in dem für Terrorismus zuständigen Bereich des BKA eingesetzt, stützte diese Argumentation 2019 über ein Interview mit dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel. Dem MfS wäre es gelungen, „Funkfernschreiben mit den Namen der Verdächtigen“ aus der Aktion „Zobel“ abzufangen und zu decodieren. Und weiter: „In der Nacht vor dem Zugriff hat ein Stasi-Mitarbeiter anonym mehrere RZ-Mitglieder angerufen.“
Diese Aussagen decken sich nur in Teilen mit den Akten im Stasi Unterlagen-Archiv. Die Funkaufklärung/-abwehr des ostdeutschen Geheimdienstes erlangte augenscheinlich Anfang Dezember 1987 Informationen zu Vorarbeiten für eine größere Aktion der westdeutschen Polizei. Zu diesen verfasste sie am 12. Dezember 1987 ein Schreiben der Kategorie A; eine zweite A-Meldung setzte sie am 17. Dezember 1987 ab. Am 20. Dezember 1987 unterrichtete die Linie III mit einer G-Information (Aktenzeichen: G/042697) über die angelaufene Aktion „Zobel“. Darin notierte sie, sowohl die HV A als auch die HA II seien vorab zu den Inhalten des Dokuments in Kenntnis gesetzt worden. Als Anlage zu dieser G-Information findet sich in den Akten der HA II ein undatierter Einsatzbefehl der Bayerischen Grenzpolizei im Wortlaut; dieser liegt ebenfalls in den Unterlagen der „Terrorabwehr“. Der Befehl hielt fest:
„Das BKA führt lageangepasst ab Freitag, den 18.12.1987, 15.00 Uhr mit Unterstützung der Landespolizei und nach vorheriger Observation entsprechende Durchsuchungsmaßnahmen gleichzeitig in [sic] Bundesländern Nordrhein-Westfalen, Duisburg, Oberhausen, Bochum, Essen, Köln, Ratingen und Düsseldorf und Hamburg sowie in Hannover durch (Aktion ‚Zobel‘).“
Wie die nachfolgende Zeile vermittelte, müsse mit Reisen diverser Personen gerechnet werden. Diese Personen listete der Befehl im Weiteren auf: Einschließlich Geburtsdatum und Wohnort genannt wurden – neben 17 anderen Individuen – Barbara Dulisch, Adrienne Gerhäuser, Corinna Kawaters, Thomas Kram, Ursula Penselin und Ingrid Strobl. Angesichts dieser Details dürften Zweifel ausgeschlossen sein: Die Staatssicherheit hatte vorab Kenntnis zu den polizeilichen Maßnahmen im Dezember 1987. Indes können Recherchen im Aktenbestand der Linie XXII den von Tuffner geschilderten Anruf des MfS nicht untermauern. Sollte es ein solches Telefongespräch gegeben haben, so verzichteten die verantwortlichen Mitarbeiter der Staatssicherheit offensichtlich auf einen Aktennachhalt – oder sie entschieden sich im Zuge der Friedlichen Revolution für ein Vernichten entsprechender Papiere.
Interessant ist: Die Akten deuten auf eine andere (oder: weitere) Quelle der Warnung hin – eine Quelle, welche die taz 2007 in einem Artikel beschrieb. Anfang 1988 fing die Linie III Daten zu einem Vorgang der Abteilung „Terrorismus“ des BKA ab und brachte dazu ein internes Informationsschreiben auf den Weg. Laut dieser Meldung hegten westdeutsche Sicherheitsbehörden den Verdacht, ein Beamter des Staatsschutzes im Polizeipräsidium Köln habe die von der Aktion „Zobel“ betroffenen Personen „durch den Verrat von Dienstgeheimnissen […] gewarnt“. Seiner Lebensgefährtin hätte er Einzelheiten einschlägiger polizeilicher Maßnahmen mitgeteilt – diese sei wiederum an die Zeitschrift Emma herangetreten. Über Emma wären die Details schließlich Ingrid Strobl bekannt geworden.
Dass sich zwischen der „Terrorabwehr“ der Staatssicherheit und den RZ allenfalls eine Interaktion von geringer Intensität ergab, könnte mehreren Faktoren geschuldet sein. Ausbleibende Gelegenheiten zur Kontaktaufnahme – ein Mangel an sogenannten opportunity factors – scheiden als Ursache aus. Sowohl das MfS als auch das Netzwerk hätten bei Bedarf weitergehende Verbindungen initiieren können, etwa über die IM „Peter Lange“ und „Petra Lange“ oder über Gerhard Albartus, Magdalena Kopp und Johannes Weinrich. Die grundsätzliche Bereitschaft der Linie XXII, Mitgliedern der RZ punktuelle Hilfe zu gewähren, dürfte dem Interesse an Informationen als Fundament geheimdienstlicher Urteile entsprungen sein.
Eine Rolle spielte sicherlich gleichermaßen die Intention, Linksterroristen zu einem wohlwollenden Handeln gegenüber der DDR zu bewegen. Ein engerer Schulterschluss mit den RZ schied vermutlich aus, weil das Netzwerk – anders als die B2J und die OIR – den ostdeutschen Raum nicht intensiv als Stützpunkt oder Rückzugsoption beanspruchte, mithin keine herausragende Gefahr für die DDR bildete. Anders gesagt: Sie könnten für das MfS ein „Aufklärungsziel“ mit gering(er)em Wert gewesen sein. Für die 1980er-Jahre lässt sich zudem die wachsende Vorsicht der Staatssicherheit anführen: Die „Terrorabwehr“ rückte in diesem Zeitraum – ob des an Gewicht zunehmenden Szenarios außenpolitischer Konsequenzen – schrittweise von ihrem kooperativen Standpunkt zum sozialrevolutionären Terrorismus ab.
Auf Seiten des Netzwerks fehlte wohl jene praktische Nachfrage, die im Falle der RAF zu einem Treiber der Beziehung zum MfS avancieren sollte: Die im Untergrund lebenden Aktivisten der RAF benötigten Hilfe beim Unterbringen desillusionierter Mitglieder und dem Gewinnen von Kampffähigkeiten. Indem die „Zellen“ das Abtauchen in die Illegalität – im Gegensatz zur RAF – nicht zu einem unumgänglichen Prinzip des „bewaffneten Kampfes“ erhoben, umgingen sie den Zwang, dauerhaft aufwändige konspirative Strukturen in Gestalt von getarnten Unterkünften und gestohlenen Fahrzeugen zu unterhalten. Mitglieder konnten – nach Ansicht einstiger Angehöriger der „Zellen“ – ohne merklichen Aufwand aus der „Stadtguerilla“ aussteigen. Die eigene Logistik vereinfachten die RZ ferner durch ihren taktischen Modus Operandi: Sie setzten auf Spreng- und Brandanschläge gegen Sachen, welche weder profunde Kenntnisse noch schwer zu beschaffende Materialien verlangten.
Außerdem positionierte sich das Netzwerk zusehends skeptisch gegenüber Kontakten ins Ausland. Spätestens Mitte der 1980er Jahre soll es sich weitgehend von internationalen Beziehungen losgesagt haben. Die RZ, äußerte Thomas Kram rückblickend in einem Interview, wollten sich „unabhängig machen von allen Kontakten, die […] [sie] nicht einschätzen konnten.“
In welcher Beziehung stand das MfS zu den RZ? Diese eingangs – entlang defizitärer Forschungsliteratur – aufgeworfene Leitfrage kann wie folgt beantwortet werden: Die Staatssicherheit „bearbeitete“ das Netzwerk der RZ ab Ende der 1970er-Jahre. Das „Aufklären“ oblag der im Jahr 1975 geformten Linie XXII, der sogenannten Terrorabwehr. Sie sollte alle Akteure des (west-)deutschen Extremismus und Terrorismus in den Blick nehmen, welche die Politik der SED im In- oder Ausland (vermeintlich) bedrohten. Die „Zellen“ zählten zu den Schwerpunkten der Abteilung XXII/8 der MfS-Zentrale in Ost-Berlin. Für das Netzwerk sah das dortige Referat 1 jedoch eine – verglichen mit den Vorgängen zur RAF, deren Umfeld und Aussteigern – dünnere Personaldecke vor.
Das Instrumentarium geheimdienstlicher Maßnahmen schöpfte die „Terrorabwehr“ im Falle der „Zellen“ weitgehend aus: Es sammelte öffentlich zugängliche Informationen aller Art, bezog detaillierte Informationen der HA III zu Maßnahmen und Erkenntnissen bundesrepublikanischer Sicherheitsbehörden, kooperierte mit der HV A und verließ sich auf menschliche Quellen. Während die Staatssicherheit in den 1970er-Jahren wohl keine IM rekrutieren konnte, die nennenswerte Einsichten in die RZ zu bieten vermochten, blickte sie im darauffolgenden Jahrzehnt auf eine Handvoll „operativ bedeutsamer“ Zuträger. Gewicht kam vor allem den IMB „Peter Lange“ und „Petra Lange“ zu – bei „Peter Lange“ handelte es sich, so die Aktenlage des MfS, um ein Mitglied des Netzwerks.
Auf Basis dieser Mittel und Methoden erarbeitete die Staatssicherheit anfangs Lageberichte, welche die historischen und gruppenspezifischen Charakteristika der RZ lediglich in Teilen zutreffend freilegten. Im Laufe der 1980er-Jahre verbesserte sich sukzessive der Wissensstand. Die Ideologie des Netzwerks tat die Linie XXII auf der Grundlage eigener marxistisch-leninistischer Schablonen als „pseudorevolutionär“ ab; Organisation und Strategie konnte sie hingegen differenziert nachzeichnen. Der Abteilung XXII waren die Konflikte um die internationale Komponente des Netzwerks sowie die schwächenden Folgen der Aktion „Zobel“ bekannt. Fürderhin verfügte sie, bedingt unter anderem durch das umfassende Beobachten der OIR auf dem Boden der DDR, über ein solides Bild zu Dutzenden mutmaßlichen oder tatsächlichen RZ-Mitgliedern. Als herausragende Gefahr für das ostdeutsche Regime begriff die „Terrorabwehr“ das Netzwerk keinesfalls. Es fehlten entsprechende Indikatoren, zum Beispiel ausgedehnte Aufenthalte auf dem Territorium der DDR für genuin terroristische Zwecke.
Ein weitläufiges Unterstützen der „Zellen“ durch das MfS blieb augenscheinlich aus. Von einer regelrechten „RZ-Stasi-Connection“ lässt sich folglich nicht sprechen; hier liegen wesentliche Unterschiede zur Geschichte der B2J und der RAF. Einzelne RZ Aktivisten – jene, die den Kanal zur „Carlos“-Gruppe aufrechterhielten – profitierten von niedrigschwelligen Hilfen der „Terrorabwehr“. Das MfS duldete und erleichterte ihre persönlichen wie logistischen Motiven unterliegenden Reisen – und dies, obwohl sie bisweilen § 213 des Strafgesetzbuchs der DDR erfüllen konnten.
Im Jahr 1985 fand das Wohlwollen der Linie XXII ein Ende. Ob die Staatssicherheit 1987 Mitglieder des Netzwerks telefonisch vor der Aktion „Zobel“ warnte, konnte der Autor anhand der Akten des Stasi Unterlagen-Archivs nicht beantworten. Diesbezügliche Hinweise stützen sich ausschließlich auf die Aussagen einstiger RZ-Mitglieder und eines ehemaligen BKA Mitarbeiters. Das eng begrenzte Ausmaß der Beziehung zwischen dem ostdeutschen Geheimdienst und den „Zellen“ dürfte auf diverse Gründe zurückzuführen sein, darunter die geringfügige Bedrohung der RZ für ostdeutsche Interessen und die vergleichsweise limitierten logistisch-organisatorischen Bedürfnisse des Netzwerks.
Zitierweise: Jan-Hinrick Pesch, "Die DDR als „strategisches Hinterland. Über das Verhältnis der Stasi zu den linksterroristischen „Revolutionären Zellen“ in der Bundesrepublik und in West-Berlin. Eine Aktenrecherche“, in: Deutschland Archiv, 13.03.2024, Link: www.bpb.de/545804. Veröffentlichte Texte im Deutschland Archiv sind Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar. (hk)
Der Politikwissenschaftler und Terrorismusforscher Jan-Hinrick Pesch ist Autor des 2022 bei NOMOS erschienenen Sachbuchs „Linksterrorismus zwischen Konkurrenz und Basissolidarität, Entwicklung und Bedingungsfaktoren der Beziehungen zwischen ‚Roter Armee Fraktion‘, ‚Tupamaros Westberlin‘/‚Bewegung 2. Juni‘ und ‚Revolutionären Zellen‘“. Über das Thema hat er 2022 in Chemnitz promoviert. Außerdem ist er Mit-Autor weiterer Fachbücher, zum Beispiel des Jahrbuchs Extremismus & Demokratie, 2022.
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