Einige meiner Geschichten über ostdeutsche Juden sind über mein journalistisches Standbein in Print und Radio entstanden. So gibt es etwa ein Radiofeature beim Deutschlandfunk über „Die Wollenbergers – Jüdische Remigranten in der DDR“ von 2022.
In all den Geschichten dieser jüdischen Menschen aus der einstigen DDR ist immer wieder von der Zeit nach der Wiedervereinigung die Rede.
Tom Rapoport, mittlerweile auch schon Ende 70, arbeitete bis Anfang der 1990er-Jahre als junger Professor am Forschungsinstitut Berlin-Buch. 1992 wurde der gesamte Standort abgewickelt, von fast 1.800 Mitarbeitenden blieben knapp 400 am neugegründeten Max Delbrück Zentrum (MDC). Rapoport durfte zwar bleiben, hatte auch eine Forschungsgruppe dort, aber die Professorenstelle wurde ihm aberkannt, da er in der DDR etwa ein Jahr als SED-Parteisekretär fungiert hatte. Eine Kommission befand zwar, dass er sich dabei nie zulasten anderer oder vorteilig für sich selbst verhalten hatte, gleichwohl musste er sich zweimal neu auf „seine“ Professur bewerben – und wurde zweimal abgelehnt. Rapoport, der anschließend eine hochdotierte Professorenstelle in Harvard angeboten bekam, erinnert sich noch an die herablassende Antwort des damaligen Vorsitzenden des MDC-Kuratoriums, Fritz Melchers, der seine erneute Bewerbung um die Professur mit den Worten kommentierte: „Na, wir wollen so manches in unserem Leben.“
Toms Mutter, Inge Rapoport, war schon in Rente, als die Wende kam. Beruflich tangierten sie die Vorgänge, Veränderungen und Abwicklungen daher nicht mehr. Allerdings musste sie mitansehen, wie an ihrem einstigen Lehrstuhl und am Universitätskrankenhaus Charité plötzlich Kolleginnen und Kollegen, auch einige ihrer einstigen StudentInnen, aufgrund angeblicher Stasi- oder anderer staatskonformer Aktivitäten ihre Anstellung verloren. Sie erzählt in ihren Memoiren „Meine ersten drei Leben“, wie viele dieser Kolleginnen und Kollegen dagegen klagten und vor dem Arbeitsgericht Recht bekamen ob der Überzogenheit mancher Anschuldigungen. Allein aus ihrer unmittelbaren Umgebung, der Kinderklinik, sind ein Professor, mehrere Dozenten, zwei Oberärzte sowie eine ältere Assistentin in die „Arbeitslosigkeit entlassen worden“, ohne dass ihnen eine „ehrenrührige Tat nachgewiesen werden“ konnte.
Das dritte Beispiel erzählt von Albert Wollenberger, einem Kardiologen, der Chef des Zentralinstituts für Herz-Kreislauf-Forschung in Berlin-Buch und langjähriger Präsident der International Society of Cardiology war, im amerikanischen Exil in Harvard seinen Doktor gemacht hatte und nach einer Station in Kopenhagen zurück nach Deutschland gekommen war. Ihm wurde in den 1990er-Jahren die Rente drastisch gekürzt – aufgrund seiner SED-Mitgliedschaft und weil allen ostdeutschen Professoren die sogenannte Intelligenzrente gestrichen wurde. Hinzu kam jedoch, dass für ihn die allgemein gekürzte Rente durch das Rentenüberleitungsgesetz nochmal geringer berechnet wurde. Er hatte etwa die letzten zehn Jahre seiner Erwerbstätigkeit am Institut keine Rentenbeiträge gezahlt, da er als sogenannter VDN (Verfolgter des Naziregimes) in der DDR von den Beiträgen befreit gewesen war.
Wollenberger wusste, eine solche Handhabung ist Unrecht und kämpfte um die Anerkennung seiner nicht gezahlten Beiträge als jüdischer Flüchtling. Auf dem Dachboden seiner einstigen Villa, die nun ein paar seiner Enkel bewohnen, finden sich noch Briefe, die er sich mit der neu eingesetzten westdeutschen Sozialrichterin schrieb. Im letzten Brief erwähnte er sogar seine jüdische Herkunft, seine Flüchtlingsgeschichte – er hatte zeitweise im Berliner Untergrund gegen die Nazis gekämpft, als diese schon an der Macht waren; erst 1937 war er aus Deutschland geflüchtet. Mit der späten Erwähnung seines jüdischen Hintergrundes zog er gewissermaßen das letzte Register. Doch auch auf diesen Brief erhielt er nur ein „abgelehnt“. Zwar wurden 1997 und 1998 aufgrund von Sammelklagen wie der der Leopoldina Forschungsgemeinschaft vor dem Bundesverfassungsgericht, Wollenberger ab 1999 die Bezüge neu berechnet, erhöht und überwiesen. Dies erfolgte allerdings nur ein paar Monate vor seinem Tod.
Abwicklungen waren nicht nur spezifisch ostdeutsch
Natürlich: Diesen drei ostdeutschen Menschen jüdischer Herkunft ging es ähnlich wie dem Gros der ostdeutschen Bevölkerung in den 1990er-Jahren. Auch Jana Hensel, Wolfgang Engler
Das alles hat mit spezifisch jüdischer Geschichte zunächst wenig zu tun. Allerdings könnte man durchaus fragen, weshalb in diesen Fällen die Verfolgung in der NS-Zeit, die Herkunft aus verfolgten oder ermordeten Familien und die spezifisch antifaschistische Positionierung nach 1945 hier so gar keine Rolle spielte. Und wenn die Befreiung von Rentenbeiträgen wie bei der VDN-Regelung im Fall von Wollenberger nicht anerkannt wurde, was ist da systematisch nicht richtig gelaufen? Wieso haben die damals maßgeblichen westdeutschen Eliten offenbar gar nicht erst in Erwägung gezogen, zwischen solchen Menschen zu unterscheiden, die vom NS-Regime massiv verfolgt worden sind, und solchen, die sich aus anderen Gründen dem Staat DDR angedient haben? Die hier skizzierten Biografien und die einstige SED-Zugehörigkeit dieser Menschen verweisen auf Identifikationen mit dem einstigen Staat DDR, die ja durchaus auch mit ihrer jüdischen Herkunft zu tun hatten. Warum spielte all dies nach 1990 keine Rolle?
Als linke Juden dem DDR-Staat verbunden
Albert Wollenberger, der teilweise in Paris, aber auch im Berliner Untergrund als Kommunist gegen die Nazis gekämpft hatte, traf in der neu gegründeten DDR viele seiner alten Genossen wieder in höchsten Positionen an. Selbstironisch beschreibt er in seinen Memoiren, wie er sich in der ihm zugewiesenen Villa mit einem ebenfalls remigrierten und gut vernetzten jüdischen Nachbarn um ein Zimmer stritt – und wie zur Lösung des Streits der eine die Abteilung unter Walter Ulbricht und der andere die unter Wilhelm Pieck aktivierte. Und tatsächlich sah Wollenberger im Staat DDR einige seiner grundsätzlichen sozialistischen Werte verwirklicht. Auch wenn nicht die gesamte einstige Nazi-Bevölkerung „ausgetauscht“ wurde, so gab ihm allein der Elitenaustausch genug Vertrauen in diesen Staat, der nun von „seinen Leuten“, Juden und Kommunisten, geführt wurde.
Inge Rapoport identifizierte sich nicht nur als Ärztin mit dem ostdeutschen Gesundheitssystem, dessen Unabhängigkeit von der Pharmaindustrie oder den Geldbeuteln der Reichen ihr fortschrittlicher erschien. Ihre Identifikation mit einem Gesundheitssystem für alle hatte auch mit ihrer jüdischen Erfahrung zu tun. In Erinnerung an die Krankenhäuser im amerikanischen Exil beschreibt sie beispielsweise, wie Schwarze ebenfalls separat behandelt wurden – ähnlich wie sie selbst als Jüdin einst in Nazi-Deutschland.
Es gibt viele weitere Gründe und Argumente für die Identifikation linker Jüdinnen und Juden mit dem DDR-Staat. Immerhin hatten sie die gemachten Erfahrungen mit Diskriminierung, strukturellen Ungleichheiten oder ethnischen Kategorisierungen mit einer kritischen Analyse des Kapitalismus verbunden. Sonia Combe beschreibt in ihrem Buch „Loyal um jeden Preis“
Diese Ambivalenzen zeigen sich auch in den Lebenswegen der nächsten Generation: Tom Rapoport hatte als 19-Jähriger bei seinem Eintritt in die SED sogar seine amerikanische Staatsbürgerschaft abgetreten. Einerseits zeigt dies seine Identifikation mit der DDR, zudem wollte er keine Privilegien gegenüber seinen Mitschülern oder -bürgern haben. Andererseits wiederum meint er, die zwei Jahre als SED-Parteisekretär seien die „schlimmsten Jahre seines Lebens gewesen, weil sie ihn von der Wissenschaft abhielten“.
Mit anderen Worten: Diese und andere in den 1990er-Jahren „abgewickelten“ ostdeutschen Jüdinnen und Juden waren zwar grundsätzlich loyal, aber auch offen für Kritik gegenüber der DDR. Und der Wende gegenüber war Tom Rapoport vielleicht aufgeschlossener als die erste Generation, gehörte er doch zu Beginn der 90er-Jahre einer Kommission des Wissenschaftsrates an, die den Kanzler beriet, um Empfehlungen für die „deutsche Einheit“ zu geben. Er hatte gehofft, die Zentralinstitute in den wissenschaftlichen Wettbewerb überführen zu können und war – und ist bis heute – überzeugt, dass sich die Institute in Buch gegenüber den westdeutschen Wissenschaftszentren hätten behaupten können. Am Ende wurden die ostdeutschen Institute jedoch evaluiert und verkleinert, er selbst verlor, wie anfangs erwähnt, dadurch seine Professur.
Krise und Heimatlosigkeit nach dem Zusammenbruch der DDR
Nur wenige hatten seinerzeit ein Sensorium für die Widersprüchlichkeiten ostdeutscher jüdischer Realitäten. Moshe Zuckermann veröffentlichte 2002 das Buch „Zwischen Politik und Kultur. Juden in der DDR“, wo er fasziniert auf die Involviertheit und Teilhabe jüdischer Menschen auf den höchsten Ebenen des ehemaligen Staates verweist, die er sonst höchstens aus den USA kannte, wo jüdische Senatoren oder Minister ganz selbstverständlich zum politischen Bild gehörten und gehören. Die meisten wollten jedoch von solchen komplexen Zusammenhängen in den 1990er-Jahren nichts hören – ebenso wenig wie von den „Lebensleistungen“ dieser Menschen, wie es bei Wolfgang Herzberg heißt, der die Geschichte seiner ostdeutschen jüdischen Eltern in dem Buch „Jüdisch und Links“ wiedergegeben hat.
Auch Sonia Combe unterstreicht diese Lebensleistungen und Ambivalenzen, wenn sie beispielsweise den Einfluss thematisiert, den die erste Generation an Dichtern und Denkern – Jürgen Kuczynski, Anna Seghers, Stefan Heym – auf die nächste Generation auch nichtjüdischer Autoren hatte. Das Schaffen von Christa Wolf, Heiner Müller oder Franz Fühmann ist ohne diese jüdischen Remigrantinnen und -migranten, die ihnen oft auch persönliche Mentoren waren, völlig undenkbar. Diese Zusammenhänge drangen jedoch im Diskurs der 1990er-Jahre kaum mehr durch. Dass manche ostdeutsche Juden im einseitig wiedervereinigten Diskurs eine Heimatlosigkeit, Desorientierung oder auch Überforderung verspürten, ist daher mehr als verständlich.
Für Inge Rapoport begann eine wunde Zeit nach der Wende. Sie fragte sich – ähnlich wie Christa Wolf und andere – wo und wie sie selbst zur „Täterin“ geworden sein könnte, welchen Menschen sie vielleicht das Leben schwer gemacht hätte – obwohl ich bis heute nur Menschen treffe, die sich an ihre inspirierend kluge und faire Art erinnern.
Die Enkelin von Albert Wollenberger, Judith Wollenberger, erinnert eine Szene Ende der 1990er-Jahre im Haus des Großvaters, wie er vor der Treppe zusammenbricht und sich scheinbar zu wehren scheint gegen Menschen, die ihm weh tun wollen. Sie meint, hier seien alte Ängste und Erfahrungen aus der Nazi-Zeit hochgekommen – getriggert auch durch die Nichtanerkennung und die teilweisen Respektlosigkeiten auf beruflicher und ideologischer Ebene im wiedervereinten Deutschland. Von ihr stammt auch das Wort, er sei nach all den Erfahrungen eine „Scherbe“ gewesen.
Verzerrungen in der westdeutsch dominierten Geschichtsschreibung
Hinzu kommt, dass Identifikationen der ostdeutschen Juden und Jüdinnen mit dem „anderen“, aus ihrer Sicht sozialeren und stärker entnazifizierten Teil Deutschlands in den 1990er-Jahren nicht nur weitgehend übergangen, sondern mitunter auch rabiat umgeschrieben wurden. Hier ein paar Beispiele:
Jeffrey Herf verwendet zwar in seinem Buch „Divided Memory“ reale Zahlen, wenn er die Verurteilungen von ehemaligen Nazis in Ost und West vergleicht
Vor dem Hintergrund solcher Vergleichswerte ist zu vermuten, dass Antisemitismus auch in der alten Bundesrepublik deutlich weiter verbreitet war als in der DDR. Und wohlgemerkt sind diese Zahlen nicht zu verwechseln mit denen zur Ausländerfeindlichkeit in Ostdeutschland: Die stieg in allen Erhebungen Anfang der 1990er-Jahre rasant an und ist bis heute dreimal höher als Antisemitismus in Ost und West.
Die Veröffentlichungen der 1990er-Jahre sind daher zum Teil mit ebenso großer Vorsicht zu genießen wie jene tendenziösen und ideologisch verzerrten Veröffentlichungen in der DDR. Was wir lernen müssen, ist, die guten Veröffentlichungen und Studien von den schlechten zu trennen. Und vor allem: Die faktischen Verzerrungen über die DDR, die in den 1990er-Jahren begannen, ergänzen die strukturellen, ökonomischen und ideologischen Abwicklungen. Sie betrafen die spezielle jüdische Vergangenheit in der DDR und lösten daher unter vielen ostdeutschen Juden im wiedervereinigten Diskurs Verunsicherung und Schmerz aus. Bleibt noch die Frage, woher der unwürdige Umgang mit ostdeutschen Juden und Jüdinnen mit SED-Vergangenheit, die ihre linken Einstellungen auch danach nicht zu verbergen suchten, rührte.
Unterschwelliger Antisemitismus gegenüber linken ostdeutschen Juden?
Ich will mit einem letzten Beispiel schließen, das in seiner Symbolträchtigkeit eine Aggressivität und Respektlosigkeit gegenüber den ostdeutschen Juden demonstriert, dass man durchaus auf den Gedanken kommen kann, dass nach 1990 nicht nur die DDR als Staat abgewickelt werden sollte, sondern mit ihr auch das linke, kommunistisch-jüdische Erbe. Ich zitiere im Folgenden aus einer Zusammenfassung der Literaturwissenschaftlerin Therese Hörnigk, die sich mit der Rolle Stefan Heyms bei der Eröffnungssitzung des 13. Deutschen Bundestages auseinandergesetzt hat.
Am 10. November 1994 sollte Heym als Alterspräsident die Legislaturperiode des 13. Deutschen Bundestages eröffnen. „Die CDU/CSU-Fraktion reagierte mit offen ausgestelltem Missvergnügen.“
Diese „Stunde tiefer Schmach in der parlamentarischen Geschichte der Bundesrepublik“,
Die Abwicklung der DDR war zweifellos in vielerlei Hinsicht rabiat, und das traf die linken Juden in der DDR besonders. Ein besonderer Respekt gegenüber jüdischem Leben und jüdischer Vergangenheit, wie er im bundesrepublikanischen Gedenken doch immer proklamiert wird, war im Falle linker ostdeutscher Juden nicht zu spüren. Mitunter war die Herzlosigkeit gegenüber diesen jüdischen Ostdeutschen auffällig stark. Sie lassen an die These denken, die Wolfgang Herzberg in seinem genannten Buch aufwirft, wonach „der westdeutsche Antikommunismus gepaart mit Antisemitismus“ auftritt, als eine Kontinuität, die in Deutschland mindestens seit der Weimarer Republik besteht. Die Nazis wollten einst mit ihrem Feldzug gen Osten den „jüdischen Bolschewismus“ ausrotten. An Reste dieses unheilvollen Denkens fühlt man sich mit Blick auf den Umgang mit linken Juden nach 1990 durchaus erinnert. Natürlich ist dies nur Spekulation, da es keine Erhebungen zu antikommunistisch-antisemitischen Einstellungen aus dieser Zeit gibt. Aber zumindest soll hier die Analysemethode vorgeschlagen werden, wonach ähnlich wie bei vorgeblich israelkritischen Positionen mitunter antisemitische Tendenzen auffindbar sind, auch gefragt werden muss, ob hinter den antikommunistischen Positionen oder Abwicklungen der 90er-Jahre, ein versteckter Hass auf (linke) Juden ausgelebt werden konnte. Übrigens: Diese „Abwicklungen“ nach 1990 widersprechen keineswegs den parallel verlaufenden Entwicklungen der 1990er-Jahre, die sehr wohl auch den Wiederaufbau der Jüdischen Gemeinden und des religiösen Lebens zeigten. Diese Gleichzeitigkeit von Abwicklung und Neuaufbau ist vielleicht auch typisch für die Zeit nach der Wiedervereinigung. Allerdings galt die Förderung des Judentums im wiedervereinigten Deutschland eben dem unpolitischen, ethnisch-religiösen oder auch konservativen Judentum – wie schon zuvor in der Bundesrepublik. Jüdische Biografien und linke politische Ausrichtungen oder Realitäten, die nicht in diese Kategorien passten, wurden – wie die vielseitigen Abwicklungen zeigen – übergangen, verdrängt oder ausgegrenzt.
Zitierweise: Charlotte Misselwitz, „Die Wende und die linken Juden und Jüdinnen der DDR“, in: Deutschland Archiv, 30.01.2024, Link: www.bpb.de/545001. Alle DA-Beiträge sind Recherchen und Sichtweisen der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.