Die verhängnisvolle Blindheit
Russland, Deutschland und die EU im Krieg um die Ukraine: Die Angst, sich selbst im Spiegel zu betrachten
Jerzy Maćków
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In einem Monat jährt sich Russlands Angriff auf die gesamte Ukraine zum zweiten Mal. Und ein Ende von Putins Angriffskrieg ist nicht in Sicht. Dass es überhaupt soweit kommen konnte, hat mit grundlegenden Irrtümern auf europäischer und deutscher Seite zu tun. Aufgearbeitet ist das noch lange nicht. Wird wenigstens in die Zukunft geplant? Wie könnte dieser Krieg endlich enden, und wie eine künftige europäische Sicherheitsarchitektur funktionieren? Thesen des Politikwissenschaftlers Jerzy Maćków aus der Universität Regensburg, entnommen aus seinem neuen Buch "Der Krieg um die Ukraine und der Frieden in Europa. Ein geopolitischer Essay". Der Band erschien soeben in der bpb.
„America has few economic interests in Ukraine“
„Amerika hat kaum Wirtschaftsinteressen in der Ukraine“, bekannte Barack Obama freimütig in seiner Rede vor der UNO-Generalversammlung Ende September 2015. Die USA überließen folgerichtig die Aufgabe, den von Russland im Februar 2014 mit einem „hybriden“ Überfall auf die Krim begonnenen Krieg zu beenden, den Europäern, und konkret den informellen Führungsmächten der EU: Deutschland und Frankreich, wobei Berlin federführend war. So unwichtig kann dem Präsidenten Obama die Ukraine dennoch nicht gewesen sein, wenn sich seine Administration seit 2015 an Ausbildung und Ausstattung der ukrainischen Armee beteiligt hat, wenngleich in bescheidenem Maße.
Während sich Washington in Bezug auf die geopolitische Relevanz der Ukraine offenbar unschlüssig war, zog Berlin einträgliche Geschäfte mit dem autoritären und expansiven Russland den Sicherheitsinteressen der sich demokratisierenden Ukraine und seiner EU-Verbündeten an der Ostflanke der NATO vor. Im September 2015 wurde der Gesellschaftsvertrag für den Bau der Ostseepipeline Nord Stream 2 unterzeichnet, die zusammen mit der seit 2011 im Betrieb befindlichen Trasse Nord Stream 1 jene Menge Gas liefern könnte, die über die durch die Ukraine laufenden Rohre nach Westeuropa transportiert wurde. Es war damit zu rechnen, dass Russland nach der für das Jahr 2022 geplanten Inbetriebnahme von Nord Stream 2 die ukrainischen Leitungen stilllegen würde, wobei Lubmin in der Nähe von Greifswald zum Gasverteilungshub für Westeuropa geworden wäre. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass sich die Bundeskanzler Angela Merkel und Olaf Scholz konsequent – ebenso entschieden 2015 wie noch Anfang 2022 – gegen Militärhilfe für das 2014 überfallene Land aussprachen. Als Russland im Januar 2022 seine an den Grenzen der Ukraine aufgestellten Truppen mit Blutkonserven versorgte, versprach die Bundesregierung dem bedrohten Land großzügig die Lieferung von 5.000 Helmen.
Die verhängnisvolle "Steinmeier-Formel"
Auch in den seit 2014 geführten Verhandlungen zwischen Kyjiw und Moskau versagten Berlin und Paris. Ihre Mission als Friedensstifter verstanden sie dahingehend, dass sie um des Friedens willen dem Aggressor die Chance geben wollten, den Erhalt seiner Beute im Osten der Ukraine zu legalisieren. Die nach dem damaligen Außenminister in der Koalitionsregierung Merkel genannte „Steinmeier-Formel“ offenbarte entweder bodenlose Ignoranz oder Hypokrisie, die diesem Wunsch zugrunde gelegen haben muss. Ihr Sinn bestand darin, dass die von Russland militärisch aktiv unterstützten Separatisten in den vom Kreml kontrollierten Gebieten der ukrainischen Donbas-Region unter Aufsicht der OSZE demokratische Wahlen durchführen sollten.
Am 24. Februar 2022 offenbarte sich das ganze Ausmaß des politischen Scheiterns beider EU-Repräsentanten: Mit ihrer reaktiven Appeasement-Politik haben sie den Ausbruch des volldimensionalen Krieges begünstigt. Obwohl Berlin am 24. Februar 2022 offenbar mit einem schnellen Sieg Russlands rechnete, schickte es zwei Tage später zwei Lastkraftwagen mit den versprochenen Helmen in die Ukraine, sicher von der diesmal durchaus begründeten Annahme ausgehend, dass sie sowieso nicht kriegsentscheidend sein würden. Hätte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj im Februar 2022 das amerikanische Angebot angenommen und sich aus Kyjiw ausfliegen lassen, hätte die ukrainische Armee nicht tapfer und klug gekämpft und hätte Polen dem sich verteidigenden Land nicht Waffen sowie die strategische Tiefe – eine sichere Entfernung zwischen dem Logistik-Zentrum der westlichen Militärhilfe für die Ukraine in Rzeszów einerseits und den Frontlinien im Nordosten, Osten und Süden des überfallenen Landes andererseits – gegeben, so wären außer dem Landkorridor zur Krim, den russländische Truppen bis Mai 2022 schlagen konnten, weitere beträchtliche Territorien der Ukraine, darunter auch die Hauptstadt, unter Russlands Kontrolle geraten.
Zwar ließen die „Kriegserklärungsrede“ Putins vom 24. Februar 2022 und die russländischen Verbrechen während der ersten Wochen der Invasion erwarten, dass der Kreml auf den eroberten ukrainischen Gebieten ein Regime installieren würde, das die Vernichtung der ukrainischen Nation zum Ziel hätte. Doch vermutlich wäre die ukrainische Renitenz auch dann für Russland ein unlösbares Problem geblieben, wenn es dem Kreml gelungen wäre, zu der europäischen Ordnung zurückzukommen, in der „Osteuropa“ – neben Belarus eben auch die Ukraine – unter seine Herrschaft gekommen wäre. Da diese Ordnung von Peter dem Großen mit seinem Sieg über Schweden (und Kosaken) in der Schlacht von Poltawa 1709 „konstruiert“ worden ist, soll sie „Poltawa“ genannt werden. Ihr Hauptkennzeichen ist, dass Osteuropa nicht von den es bewohnenden Völkern, sondern von Russland beherrscht wird.
Um die Rückkehr der mit dem Zerfall der Sowjetunion scheinbar ein für allemal überwundenen Poltawa-Ordnung abzuwenden, hätten die Widerstandskraft der ukrainischen Armee und Selenskyjs sowie Polens Unterstützung allein nicht ausgereicht. Im Februar 2022 war daher die Reaktion der USA auf den russländischen Überfall entscheidend. Und Präsident Joe Biden machte deutlich, dass es Russland nicht gelingen werde, den Westen als geistlos und feige vorzuführen. Washington engagierte sich stark. Damit haben die USA ihren Anspruch behauptet, den Westen anführen zu wollen.
Und wie ist es um die EU-Europäer bestellt?
Sie definieren ihre Interessen als nationale Akteure und handeln deshalb kakofon. Paris und Berlin brauchten nach dem 24. Februar Monate, um zuzugestehen, dass Russland eine expansive Macht bleibt und kein Freund der westlichen Welt werden will. Allen Westeuropäern, die während der vergangenen Jahrhunderte gelernt haben, von ihrer günstigen geopolitischen Lage – damit ist vor allem die große geografische Entfernung von Russland gemeint – zu profitieren, fällt es schwer, die Realität zu akzeptieren, in der die Ukraine, die gegen den russländischen Aggressor kämpft und sich widersetzt, die Schutzmacht Europas darstellt. Denn die Westeuropäer haben sich im Laufe der Geschichte daran gewöhnt, den Widerstand gegen Russland als „antirussischen Reflex der Nationalisten“ zu interpretieren und den geopolitischen Eindämmungseffekt der osteuropäischen Renitenz gegen Russland geflissentlich zu übersehen. Ihre geopolitische – strategische – Blindheit machte es ihnen in der Vergangenheit möglich, sich als Wohltäter der Osteuropäer zu gebären, sooft diese von Sankt Petersburg und Moskau mit besonderer Härte drangsaliert wurden und als bemitleidenswerte Flüchtlinge in den Westen kamen.
Eben diese strategische Blindheit hat schließlich bewirkt, dass die „alten“ Mitglieder der EU das geopolitische Erdbeben nicht richtig reflektiert haben, die sie selbst 1999 mit der Osterweiterung der NATO und 2004 mit der Osterweiterung der Europäischen Union mitvollzogen haben. Die neuen Mitglieder der westlichen Bündnisse jubelten, weil sie sich nun gegen die Rückkehr der Poltawa-Ordnung abgesichert fühlten. In westeuropäischen Staaten hingegen, deren Bürger sich üblicherweise lautstark als „Europäer“ ausgeben, während ihre Regierungen nach dem Grundsatz des nationalen Egoismus handeln, realisierte man nur selten, dass die EU mit dem Heranrücken an die Ukraine und Belarus die Verantwortung für den Frieden in Europa übernommen hat. Selbst nach dem russländischen Überfall 2014 hatte das die überwiegende Mehrheit der Westeuropäer nicht begriffen. Sie haben weder die Ukraine militärisch unterstützt noch sahen sie die Notwendigkeit, in die eigene Sicherheit zu investieren.
Erst seit Februar 2022 zeigen die Westeuropäer großes Verständnis für den ukrainischen Abwehrkampf, obwohl sie ihn als „antirussischen Reflex der ukrainischen Nationalisten“ auslegen könnten. Die neue, realistische Wahrnehmung Osteuropas im Westen Europas ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass die EU nach wie vor einer wahrlich europäischen Sicherheitspolitik entbehrt.
Deshalb erstaunt es, dass der Hohe Vertreter der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, im Juli 2023 den EU-Staaten einen tatsächlich europäischen Vorschlag unterbreitete, der sowohl strategischen als auch sicherheitspolitischen Charakter hat: Die EU sollte über ihre Unterstützung der Ukraine mit Waffen nicht mehr ad hoc entscheiden, sondern dafür einen Fonds von 20 Milliarden Euro zur Verfügung stellen, um so in den kommenden vier Jahren „eine nahtlose Fortsetzung der militärischen Unterstützung der Ukraine [zu] ermöglichen“.
Wäre die von Borrell anvisierte Summe dreimal so hoch, dann wäre sie dem demografischen und wirtschaftlichen Potenzial der EU angemessen, und das würde die Europäische Union auf eine Ebene emporheben, auf der sie mit Washington und Peking, vom wirtschaftlich schwachen Moskau ganz zu schweigen, auf Augenhöhe sprechen könnte. Obwohl knauserig, ist Borrells Vorschlag trotzdem wertvoll, weil er von der Sorge um die Sicherheit Europas und von Weitsicht zeugt, sollte der Krieg um die Ukraine noch lange dauern.
Wie lange wird der Krieg dauern?
Die Ukraine muss auf einen baldigen Sieg hoffen. Das ist verständlich, weil die Kämpfe auf ihrem Territorium geführt werden und deshalb an ihrer demographischen Substanz zerren. Sie hängt am Tropf des Westens und muss mit der Furcht leben, dass er das angegriffene Land im Stich lassen könnte. Als bessere Soldaten mit einer besseren Armee wissen die Ukrainer zudem sehr wohl, dass sie Russland entscheidende Schläge verpassen könnten, wenn sie nur vom Westen ausreichend mit Waffen und Munition unterstützt sein würden. Der Kreml hingegen erkauft sich mit dem Leben der eigenen Soldaten, die er als Kanonenfutter einzusetzen pflegt, die Verlängerung des Krieges, in der Hoffnung, dass seine zahlenmäßig überlegene Armee die Ukraine ausspielen wird, im Westen einen Stimmungswandel zuungunsten der Ukraine bewirkt und ein Keil zwischen das überfallene Land und seine Verbündeten getrieben wird.
Sollte diese Hoffnung Russlands nicht in Erfüllung gehen und es der Ukraine gelingen, an der Front einen spektakulären Erfolg zu erzielen, der in Russland nicht propagandistisch heruntergespielt werden könnte – etwa das Durchschneiden des russländisch besetzten Landkorridors entlang des Asowschen beziehungsweise des Schwarzen Meeres –, so würde die schwierige Augenoperation zur Beseitigung des Grauen Stars der Russländer beginnen, mit der eine tiefe Identitäts- und gegebenenfalls Existenzkrise – die in Russland seit dem 17. Jahrhundert „smuta“ genannt wird – eingeleitet werden würde. Eine langsame Heilung könnten auch die sterblichen Überreste der in der Ukraine gefallenen russländischen Soldaten bewirken, die – falls nicht hastig in der Nähe der Schlachtfelder „entsorgt“ – in ihre Heimatdörfer und -städte überstellt werden. Hatten doch schon die aus dem Hindukusch in die Sowjetunion überführten Zinksärge mit umgekommenen Rotarmisten wesentlich zur Beendigung des Afghanistan-Krieges 1989 beigetragen. Gleiches würde Putins Tod bewirken.
So oder so hängt die Länge des Krieges davon ab, wann die Russländer dazu gebracht werden, seine Sinnlosigkeit zu erkennen. Ob sie dabei die von Karl Jaspers 1946 vorgenommene Unterscheidung zwischen der „moralischen“ und der „metaphysischen Schuld“ zur Kenntnis nehmen werden, ist zweitrangig. Es würde ausreichen, wenn sich sowohl die Putinʼschen Eliten als auch die Putin‘schen Untertanen genau im Spiegel betrachteten. Würden die Russländer in den Spiegel schauen, dann müssten sie feststellen, dass sie – so, wie sie sind – den Krieg zwar verlängern, aber nicht gewinnen können.
Anders als in vielen anderen Ländern sind fast alle Massenmedien in Russland in die Arbeit der staatlichen Propaganda-Fabrik eingespannt. Sie stellen insofern nicht den Spiegel dar, in dem sich das Volk betrachten kann. Für die in Russland vorherrschende verzerrte Wahrnehmung der Wirklichkeit fällt jedoch die Tatsache mehr ins Gewicht, dass die Russländer nach dem 24. Februar schlichtweg Angst haben, überhaupt in den Spiegel zu schauen. Sie wollen nicht wissen, dass ihr Staat die Ukraine überfallen hat, dass ihre Soldaten Verbrechen begehen, dass ihre Kulturwelt – „russkij mir“ – sie zu Gefangenen ihrer Vergangenheit der Knechtschaft und unfassbarer Gewaltexzesse macht, dass sie für ein mit Bodenschätzen einzigartig ausgestattetes Land wirtschaftlich beschämend schwach sind, dass sie ihr im langen Niedergang begriffenes Imperium nicht werden halten können und dass die Ukrainer allen Grund haben, sie zu verspotten und zu verachten.
Die Russländer spüren, dass die Wahrheit ihre Identität und ihr Zusammengehörigkeitsgefühl zerstören könnte, die unter Putin nicht nur während des Krieges so gut wie ausschließlich auf Chauvinismus, Expansionismus und Untertanengeist basieren. Ihre Weigerung, sich im Spiegel zu betrachten, macht es ihrem Präsidenten leicht, Russland bis zum unerreichbaren Sieg im Krieg zu halten und so in die Smuta zu führen, in der sein Überleben an das seines Landes gekoppelt sein wird.
Wahrscheinlich sehnen sich viele Russländer nach den guten alten Zeiten vor dem Februar 2022 zurück. Vor dieser „Zeitenwende“ bekannten sich die westeuropäischen Politiker in Sonntagsreden lautstark zum Selbstbestimmungsrecht der Völker, das sie selbstverständlich auf jene unendlich lange Liste der „europäischen Werte“ gesetzt hatten, auf die sie sich gewöhnlich dann berufen, wenn es ihrem nationalen Interesse gelegen erscheint. Zugleich sahen sie sich nicht veranlasst, aus den russländischen Kriegen in Tschetschenien, Georgien oder Syrien Konsequenzen zu ziehen. Sie zogen es vor, in Scharen nach Sotschi zur Eröffnung der Olympischen Spiele zu fahren, an den Feiern anlässlich der Jahrestage des sowjetischen Sieges im „Großen Vaterländischen Krieg“ teilzunehmen, Russland stillschweigend als den Hegemonen im geopolitischen Raum der „Länder in between“ (zwischen der EU und Russland) zu akzeptieren und – das Wichtigste – mit dem Kreml Geschäfte zu machen. Wie der Kreml wollten sie aus der Tatsache Profit schlagen, dass der Frieden in Europa auf einer morschen Ordnung aufbaute, deren Fundament – die Unabhängigkeit von Belarus und der Ukraine – aus minderwertigem sowjetischem Beton gegossen war.
Der mit der russländischen Invasion vom Februar 2022 begonnene volldimensionale Krieg schockierte und bewog den europäischen Westen zwar zur Solidarität mit der Ukraine, aber das brachte ihn dennoch nicht dazu, sich im Spiegel zu betrachten. Seit dem 24. Februar 2022 begnügen sich westeuropäische Politiker, Medien und Bürger damit, den Mut der Ukrainer zu würdigen. Am liebsten aber würdigen sie sich selbst und ihre eigene Solidaritätsleistung. In diesem Sinne stellte die Präsidentin der Europäischen Kommission Mitte Januar 2023 auf dem Weltwirtschaftsform in Davos fest:
„Im vergangenen Jahr hat die Ukraine die Welt bewegt und ganz Europa inspiriert. Und ich kann Ihnen versichern, dass Europa Ihnen [der Ukraine] immer zur Seite stehen wird. Viele bezweifelten, dass diese Unterstützung andauern würde. Doch heute stellen die europäischen Länder der Ukraine immer mehr kritische Waffen zur Verfügung. Wir haben rund vier Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer in unseren Städten, bei uns zu Hause und in unseren Schulen aufgenommen. Und wir haben so strenge Sanktionen wie nie zuvor verhängt. [...] Und wir werden die Ukraine auch weiterhin standhaft unterstützen. Von der Wiederherstellung der Versorgung mit Strom, Heizung und Wasser bis hin zur Vorbereitung auf den langfristigen Wiederaufbau.“
Die EU-Kommissionspräsidentin ließ den Spiegel links liegen, und deshalb übersah sie sowohl das verhängnisvolle Versagen der EU zwischen Februar 2014 und Februar 2022 als auch die strategische Blindheit der EU-Mitgliedstaaten wie ebenso die Tatsache, dass gemessen am demografischen und wirtschaftlichen Potenzial der Union deren militärische Unterstützung für die Ukraine – gelinde gesagt – bescheiden ausgefallen war. Im Vergleich zu den Hunderten Milliarden Euro, die die EU bereitgestellt hatte, um sich aus der, von ihren Mitgliedern selbstverschuldeten, Abhängigkeit von den Energieträgern aus Russland zu befreien und ökologisch Energie zu produzieren, war sie geradezu kümmerlich.
Die schönen Worte der EU-Kommissionspräsidentin halfen dabei, über die Tatsache hinwegzusehen, dass die Union im Jahre 2022 Waffenlieferungen und Ausbildung von ukrainischen Soldaten mit lediglich 3,1 Milliarden Euro finanziert hatte. Einerseits hätten mit dieser Summe in Deutschland, Polen und anderen EU-Mitgliedstaaten rund 15.000 ukrainische Soldaten ausgebildet werden können. Andererseits entsprach diese Summe in etwa dem Preis, den die EU-Staaten dem Kreml für den Kauf von Öl und Gas an ein paar Durchschnittstagen des Jahres 2022 zahlten. Und noch eine Orientierungszahl: Im Jahr 2023 soll Russland umgerechnet 100 Milliarden US-Dollar für sein Militär ausgegeben haben.
Warum scheuen die EU-Europäer den Blick in den Spiegel?
Haben sie vielleicht Angst, das von ihnen praktizierte sicherheitspolitische Parasitentum und ihre strategische Blindheit zu erkennen? Fürchtet Berlin vielleicht, dass die schonungslose Selbstbetrachtung die banale Lehre aus der deutschen Geschichte offenbaren könnte, dass Deutschland wie in der Vergangenheit nicht über das notwendige Potenzial verfügt, um „Europa zu führen“? Und wie ist es mit jenen Europäern, die wiederum geführt werden wollen, weil sie es gewöhnt sind, Verantwortung vor sich herzuschieben? Wollen sie vielleicht nicht erkennen, dass es im Westen Europas kein einziges Land gibt, das stark genug wäre, als ihr Hegemon zu fungieren, es sei denn zusammen mit Russland und auf Kosten der Sicherheit „der Osteuropäer“?
Nach dem Frieden von Tilsit 1807 lag Europa Napoleon zu Füßen. Als Führungsmacht des Alten Kontinents verfügte Frankreich über eine starke, aus beinahe allen Völkern Europas zusammengesetzte Armee. Der Kaiserthron legitimierte die Herrschaft des Emporkömmlings aus Korsika. Die von den Ideen der Aufklärung ergriffenen europäischen Eliten sahen in ihm, um die berühmten Worte Hegels zu zitieren, den „Weltgeist zu Pferde“. Hinzu kam, dass nach Jahren kriegerischer Auseinandersetzungen die Hoffnungen der europäischen Völker auf eine friedliche Zukunft blühten.
Bonaparte reformierte zwar den Kontinent, vergaß dabei aber niemals die französischen Interessen. So verhängte er beispielsweise eine Wirtschaftsblockade gegen England, die er, scheinheilig wie seine Politik war, selbst nicht einhielt. Um Sankt Petersburg zu einer Allianz gegen London zu zwingen, führte er die Grande Armée 1812 in den verhängnisvollen Feldzug gegen Russland, der den Untergang des auf scheinbar so festem Fundament stehenden napoleonischen Europa einleitete. Die drei Jahre später auf dem Wiener Kongress geschmiedete Friedensordnung baute auf die Anerkennung Russlands als europäische Macht und somit auf die Unterordnung von Osteuropa unter Russland. Poltawa eben.
Im Gegensatz zum napoleonischen Europa hat die EU heute keine Armee, keine dem Zeitgeist angemessene – demokratische – Legitimation und keinen Reformeifer. Wer die Frage für rhetorisch hält, ob eine Angela Merkel oder ein Olaf Scholz, sei es in Zusammenarbeit mit einem François Hollande oder einem Emmanuel Macron, Napoleon Bonaparte in den Schatten zu stellen und die Unabhängigkeit der Staaten in between abzusichern vermocht hätten bzw. vermögen, der hat verstanden, dass der europäische Frieden nicht vom heutigen Politiker-Personal abhängen darf.
Zum Glück können die USA nicht ohne Weiteres dem ewigen Osteuropa-Problem der Europäer den Rücken kehren, weil dies für sie im Wettbewerb mit China weitreichende Folgen haben würde. In der Europäischen Union zeichnet sich eine Spaltung ab zwischen den Anhängern der neuen Bipolarität „Westen versus China“ und den Befürwortern der „multipolaren Weltordnung“. Die östlichen Mitglieder der EU sprechen sich für den Gleichschritt mit den USA aus. Demgegenüber vermitteln Frankreich und Deutschland zuweilen den Eindruck, als würden sie sich zwischen China und die Vereinigten Staaten stellen wollen. Paradoxerweise würden sich beide Lager von Washington – zumindest innerlich – entfernen, sollten die Amerikaner die Ukraine im Stich lassen, und zwar nach dem Motto: „Wenn die Amerikaner nicht mehr für die Sicherheit in Osteuropa und somit Europa sorgen, warum sollten wir dann zu ihnen stehen?“ Die Osteuropäer müssen so denken. Die Westeuropäer wollen es.
Hätte der erwähnte konstante Militärfonds für die Ukraine, dessen Bereitstellung der EU-Außenbeauftragte Borrell im Juli 2023 angeregt hat, rechtzeitig, das heißt schon im März 2014 existiert, dann wäre es acht Jahre später höchstwahrscheinlich nicht zum volldimensionalen Krieg gekommen. 2014 kam jedoch ein solcher Vorstoß gar nicht in Betracht, weil klar war, dass er auf den erbitterten Widerstand Deutschlands gestoßen wäre.
Es hat also neun Jahre und unzählige ukrainische Leben gekostet, bis der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik die Hoffnung erweckte, dass die strategische Blindheit der Europäer irgendwann geheilt werden könnte. (Mehr als Hoffnung bewirkte sein Vorschlag allerdings nicht, weil er nicht beachtet wurde). Zwar ist auf Borrells geopolitischer Karte Belarus immer noch nicht zu sehen, obgleich Minsk eine gesonderte Behandlung durch die EU verdiente, statt mit Russland in einen Korb geworfen zu werden. Immerhin scheint aber der Hohe Vertreter mit einer Karte des Alten Kontinents zu arbeiten, auf der die Ukraine korrekt als das Land gezeichnet ist, von dem die EU sicherheitspolitisch mehr bekommt als sie ihm gibt. Das Amt des EU-Außenbeauftragten ist allerdings zu schwach, als dass er sich für die schnelle Mitgliedschaft und somit die Sicherheit der Ukraine in der NATO wirksam einsetzen könnte. Hier wären ähnliche Widerstände in der EU zu erwarten wie hinsichtlich Borrells Vorschlag eines Militärfonds für die Ukraine, hätte eine seiner Vorgängerinnen diesen 2014 vorgetragen.
Können sich die Bürger der EU und deren Mitgliedstaaten in Fragen der europäischen Friedensordnung einig werden?
Dazu bedarf es nicht einer deutschen und französischen, sondern einer europäischen Politik gerade auf den Feldern, auf denen die Europäische Union, die ein föderales System darstellt, besonders in Kriegszeiten am schwächsten aufgestellt ist und am meisten gebraucht wird: der Verteidigung und des Äußeren. Da sich die Vollmachten des Bundes und der Gliedstaaten in keinem föderalen System per se messerscharf voneinander abgrenzen lassen, müsste der Hohe Vertreter (oder ein bescheiden betiteltes europäisches Amt für Äußeres) unter Umständen eine Politik führen, die der – zumindest einiger – der nationalen Außenministerien entgegenstehen würde.
Deutschland kennt die Lösung dieses Problems des Föderalismus. Im Grundgesetz werden zahlreiche Vollmachten zwischen Bund und Ländern geteilt, man spricht in diesem Zusammenhang von „geteilten Kompetenzen“. Dank der passablen Konstruktion des deutschen Föderalismus ist es in der Bundesrepublik undenkbar, dass sie im Schulterschluss zweier starken Gliedstaaten, etwa Baden-Württembergs und Bayerns, „im Namen Deutschlands“ geführt werden könnte. Im schlecht konstruierten föderalen System der EU maßen sich hingegen Deutschland und Frankreich gerade dieses Führungsrecht an. Und wenn sie mit ihrer von ihren nationalen Interessen getragenen Politik „im Namen Europas“ versagen, brauchen sie für sich politischen Konsequenzen selbst dann nicht zu fürchten, wenn ihr Versagen Krieg in Europa bedeutet. Das Auswärtige Amt der EU braucht über eine gute Konstruktion des europäischen Föderalismus hinaus auch demokratische Legitimation. Diese jedoch kann nur durch die Demokratisierung der Union gestiftet werden.
Voraussetzung dazu ist, dass ihre Exekutive im Einklang mit dem Prinzip der Rechenschaftspflicht konstruiert wird, das heißt, dass diese entweder vom Parlament oder von den Wählern abberufen werden kann. Konkret: Entweder wird die EU-Kommission zur europäischen Regierung, die ausschließlich dem EU-Parlament (und nicht dem Europäischen Rat) gegenüber verantwortlich ist – das würde auf das klassische Modell des europäischen Parlamentarismus, so wie dieses etwa in England und auch in der Bundesrepublik funktioniert, hinauslaufen. Oder der von den Bürgern der Union gewählte Europäische Rat wird zum kollektiven Staatsoberhaupt der EU und nach amerikanischem bzw. schweizerischen Vorbild gleichzeitig zur Regierung. Der Außenminister der Europäischen Union wäre dann entweder ein Mitglied der Kommission oder ein vom Rat bestimmter Beamter. Mit jedem dieser Modelle würde die EU zu einer Demokratie mutieren, was ihr Legitimationsdefizit beheben und ihr die Souveränität verleihen würde.
Nur eine solche, das heißt föderal und demokratisch aufgestellte Union würde in der Lage sein, die sicherheitspolitischen Frontlinien zwischen ihren Mitgliedstaaten zu überbrücken: für oder gegen die Eindämmung Russlands und für oder gegen die neue Bipolarität der Weltordnung. Zwar wäre die EU auch dann nicht vor außenpolitischen Fehlentscheidungen gefeit. In einem demokratischen System würde jedoch die Rechenschaftspflicht gelten, weshalb politische Fehler politische Konsequenzen nach sich ziehen würden: entweder Korrektur der Politik oder Abberufung des politischen Personals.
Gegen diese Argumentation könnte auf die unbestreitbare Tatsache hingewiesen werden, dass die Hauptursachen des Krieges um die Ukraine nicht in schlechter Konstruktion der Union, sondern in der Geopolitik gesucht werden müssen. Und dass keine Diplomatie die Macht hat, gefährliche Konflikte dauerhaft zu lösen, wenn diese durch ungünstige geopolitische Konstellationen verursacht sind. Beides lehrt nicht zuletzt die Geschichte Europas, in der die westlichen Mächte den Frieden der Poltawa-Ordnung jahrhundertelang mit der Unterwerfung Osteuropas unter Russland erkauften. Diesen „geopolitischen Fluch“ brachte der bekannte ukrainische Publizist Mykola Rjabtschuk am 24. Februar 2022 prägnant zum Ausdruck: „Der Westen hat das Monster gezüchtet und auf uns losgelassen“.
Obwohl die geopolitischen Gegebenheiten Eurasiens – die Überlegenheit des russländischen demografischen und militärischen Potenzials gegenüber der Ukraine, Belarus und den Ländern der NATO-Ostflanke sowie das riesige osteuropäische Flachland, das von jeher den wichtigsten Weg für Russlands imperiale Expansion darstellt – konstant bleiben, lohnt dennoch die schwere Arbeit an Demokratisierung und Föderalisierung der Union. Denn diese Reformen würden nicht bloß die Effizienz und Legitimität ihres politischen Systems steigern, sondern vielmehr aus ihr einen globalen internationalen Akteur machen. Die Demokratisierung und die Föderalisierung der Europäischen Union würden einem geopolitischen Erdbeben gleichen, infolgedessen die Poltawa für die westlichen Staaten der EU keine attraktive Option der europäischen Friedensordnung mehr sein würde, weil eine EU, die imstande wäre, eine europäische Außenpolitik zu betreiben, vor Russland, dessen Bevölkerung nicht mal ein Drittel der EU-Einwohner und dessen Wirtschaftsvolumen nicht mal ein Siebtel des Bruttoinlandsprodukts der EU ausmachen, keine Angst mehr zu haben bräuchte.
Alles weist jedoch darauf hin, dass sich die EU-Europäer trotz des Dauerkrieges auf ihrem Kontinent weiterhin nicht im Spiegel betrachten wollen, und dass sie die historische Chance verpassen werden, ihre Union zu demokratisieren und zu föderalisieren und eine wahrlich europäische Politik zu betreiben. Es bleibt ungewiss, ob sie diese Chance überhaupt erkennen (wollen). Wahrscheinlich würden sie am liebsten den volldimensionalen Krieg schnell „abhaken“ und zur Ära vor der russländischen „militärischen Spezialoperation“ zurückkehren wollen. Diesen Wunsch fördert der während des andauernden Krieges um die Ukraine auf „natürliche“ Art und Weise sich vollziehende Wandel der öffentlichen Meinung in den demokratischen Nationalstaaten Europas.
Die Konfrontation zwischen russländischen und ukrainischen Streitkräften durchlief nach dem Februar 2022 zwei Phasen
Der Zeit der erfolgreichen Abwehr der Aggression folgte die zweite, lange Periode der an mehreren Fronten geführten Kämpfe, bei denen mal Russland, mal die Ukraine die operative Initiative übernahm. Während der ersten Phase fieberten die meisten EU-Europäer, ungeachtet ihrer jeweiligen nationalen Blickwindel, mit der Ukraine, weil sie über die Aggression empört waren und mit den unschuldigen Opfern Mitleid hatten. Je mehr sich aber der Krieg in der zweiten Phase in die Länge zieht, desto mehr strapaziert er die emotionale Untermauerung der Solidarität mit der Ukraine, in die sich mit der Zeit auch Skepsis und – zunehmend – gefühlte Kriegsmüdigkeit einschleichen (gefühlt: weil die EU-Europäer im Vergleich zu den Ukrainern kaum Lasten des Krieges tragen).
Obwohl Russland jeden Tag dafür sorgt, dass es über den Kreis seiner eingefleischten Fürsprecher hinaus keine weiteren Sympathisanten in der EU gewinnen kann, so verbessert die in Europa sich wandelnde Stimmung seine strategische Lage dennoch merklich. Die im Februar und März 2022 noch spontane Intuition der Europäer, dass die territoriale Integrität der Ukraine wiederhergestellt und ihre Sicherheit gewährleistet werden müsse, wird zunehmend von dem Kalkül verdrängt, dass die Beendigung des Krieges – der Frieden – wichtiger sei als der Sieg der Ukraine. Wenn ein riesiger Felsbrocken aus großer Höhe auf einen kleinen Stein fällt, zerschmettert er den kleinen Stein. Man muss damit rechnen, dass immer mehr Europäer (nicht anders als Amerikaner) die Frage stellen werden: „Warum sollte die Ukraine, die mit unserer Hilfe einen solch gewaltigen Schlag glücklich ausgehalten hatte, um des Friedens willen nicht auf einige ihrer Gebiete verzichten?“
Es wird in Deutschland und Westeuropa kaum realisiert, dass es in diesem Krieg nicht primär um irgendwelche Territorien der Ukraine geht, weshalb aus dem Kalkül „Frieden in Europa für ukrainisches Land“ keine stabile Sicherheitsarchitektur hervorgehen kann. Vielmehr will Russland die Herrschaft über die Ukraine wiedererlangen, um einen noch dunkleren Schatten auf die EU als vor 2022 zu werfen. Aber das trügerische Kalkül „fremdes Land für Frieden“ wird von der im Westen Europas verinnerlichten Erfahrung mit der zweieinhalb Jahrhunderte währenden Poltawa-Ordnung befördert.
Cover Buch Mackow
Das Buch, dem dieser (für das DA erweiterte) Text entstammt, ist im Januar 2024 in der Schriftenreihe der bpb erschienen: Jerzy Maćków, "Der Krieg um die Ukraine und der Frieden in Europa". Darin greift der Regensburger Politologe die zu Beginn des 20. Jahrhunderts formulierte Heartland-Theorie des britischen Geografen Halford John Mackinder auf, der zufolge die Kontrolle des „Herzlandes“ (Heartland), des euroasiatischen Territoriums, das sich von Osteuropa („Eastern Europe“) über Russland bis nach China erstreckt, entscheidend ist für die Weltherrschaft. Der Autor geht der Frage nach, inwieweit diese Theorie die geopolitische Aufladung des russländischen Angriffskriegs gegen die Ukraine erklären und dabei helfen kann, die Interessenlagen der beteiligten Mächte und Akteure zu dechiffrieren: zunächst die ukrainische, dann die des Aggressors Russland und seines Verbündeten Belarus, aber auch die der USA, Polens, Deutschlands, der kaukasischen Staaten, der Staaten Südost- und Nordosteuropas sowie Chinas, Indiens, des Iran und der Türkei. In seinem streitbaren Essay erörtert Maćków deren jeweilige geostrategische Selbstverortung sowie das Ausbleiben einer wirksamen EU-Politik gegenüber Russland und der Ukraine, fragt nach den Konsequenzen für den Kriegsverlauf wie nach den Vorzeichen für eine künftige stabile europäische Sicherheits- und Friedensordnung.
Das Buch, dem dieser (für das DA erweiterte) Text entstammt, ist im Januar 2024 in der Schriftenreihe der bpb erschienen: Jerzy Maćków, "Der Krieg um die Ukraine und der Frieden in Europa". Darin greift der Regensburger Politologe die zu Beginn des 20. Jahrhunderts formulierte Heartland-Theorie des britischen Geografen Halford John Mackinder auf, der zufolge die Kontrolle des „Herzlandes“ (Heartland), des euroasiatischen Territoriums, das sich von Osteuropa („Eastern Europe“) über Russland bis nach China erstreckt, entscheidend ist für die Weltherrschaft. Der Autor geht der Frage nach, inwieweit diese Theorie die geopolitische Aufladung des russländischen Angriffskriegs gegen die Ukraine erklären und dabei helfen kann, die Interessenlagen der beteiligten Mächte und Akteure zu dechiffrieren: zunächst die ukrainische, dann die des Aggressors Russland und seines Verbündeten Belarus, aber auch die der USA, Polens, Deutschlands, der kaukasischen Staaten, der Staaten Südost- und Nordosteuropas sowie Chinas, Indiens, des Iran und der Türkei. In seinem streitbaren Essay erörtert Maćków deren jeweilige geostrategische Selbstverortung sowie das Ausbleiben einer wirksamen EU-Politik gegenüber Russland und der Ukraine, fragt nach den Konsequenzen für den Kriegsverlauf wie nach den Vorzeichen für eine künftige stabile europäische Sicherheits- und Friedensordnung.
Aus heutiger Perspektive, vor dem Hintergrund des im Osten tobenden Krieges, erscheint sie unerschütterlich, im Gegensatz zu jener Ordnung der unabhängigen postsowjetischen Nationalstaaten, die sich wegen des russländischen Expansionismus nach dem Zerfall der Sowjetunion nicht konsolidieren konnte. Hinzu kommt die unbestrittene Tatsache, dass Russland so oder so aus dem Krieg geschwächt hervorgehen, ergo für die EU weniger gefährlich sein wird. Daraus könnte der Schluss gezogen werden, dass die Union für die eigene Sicherheit keine Strategie bräuchte, die auf die entschlossene Unterstützung der Unabhängigkeit der Ukraine abzielt. Dem überfallenen Land brauche man nicht durch das Verdrängen von Russland aus Europa und die Mitgliedschaft in der NATO die Sicherheit zu geben. Es reiche aus, die von Lord Hastings Ismay Anfang der fünfziger Jahre in die Welt gesetzte Formel „Keep the Russians out, the Americans in, and the Germans down“ so zu modifizieren, wie es in Westeuropa nach 1991 üblich war: „Keep the Americans in. Sie werden uns schon verteidigen“.
Die Geschichte hält aber zwei Remedia parat – sowohl gegen den russländischen als auch gegen den westeuropäischen Wunsch nach Rückkehr in die Vergangenheit: die Smuta in Russland und die Herausforderung des Westens durch China. Spätestens mit dem Tod Putins wird Russland absehbar in eine erschütternde Krise geraten. Und eines Tages werden die Westeuropäer verstehen, dass der von einem untergehenden Imperium 2014 begonnene Krieg um eine abtrünnige Kolonie im Jahre 2022 zum Stellvertreterkrieg um die Vorherrschaft in Eurasien wurde. Da sie sich nicht im Spiegel zu betrachten pflegen, werden diese Europäer vergessen haben, dass sie einst ein „gemeinsames europäischen Haus von Wladiwostok bis Lissabon“ erreichen wollten. Denn sie werden dann vielleicht schon vom „gemeinsamen europäischen Haus von Shanghai bis Lissabon“ träumen…
Prof. Dr. Jerzy Maćków wurde 1961 in Polen geboren und studierte Philosophie und der Neueren Geschichte in Poznań und Hamburg. Er habilitierte 1998 mit einer Schrift über die politische Stabilität Polens und Russlands im Systemwandel. Er lehrt Vergleichende Politikwissenschaft (Mittel- und Osteuropa). Gegenwärtig bereist er die Ukraine und plant ein vielperspektivisches Buch über den Ukrainekrieg.
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