Anhaltende Vernebelung
Über die Fortsetzung der Memoiren von Egon Krenz
Ilko-Sascha Kowalczuk
/ 34 Minuten zu lesen
Link kopieren
Egon Krenz hat seine Memoiren fortgesetzt, sie reichen nun bis ins Jahr 1988. Unser Rezensent, der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk hatte bereits dem ersten Band des letzten SED-Generalsekretärs "Geschichtsklitterungen" attestiert. Jetzt setzt sich dieser Eindruck intensiv fort. Ergänzend am Ende eine Leserzuschrift des Krenz-Nachfolgers 1983 an der Spitze der FDJ, Eberhard Aurich, der Kowalczuks Kritik unterstreicht.
Meine Interner Link: Besprechung des ersten Bandes der Lebenserinnerungen von Egon Krenz (geb. 1937) endete mit: „Fortsetzung folgt...“. Das Buch behandelte die Jahre bis zu seiner Inthronisierung als Boss der SED-Jugendmassenorganisation FDJ am 9. Januar 1974. Meine Rezension fiel kritisch aus, obwohl die Memoiren durchaus interessante Passagen vor allem aus der Kindheit und Jugend von Krenz enthielten. Seinerzeit hatte ich eingangs die wichtigsten Lebensstationen von Krenz umrissen und sodann das Buch einer kritischen Lektüre unterzogen. Um mich nicht wiederholen zu müssen, schließe ich daran an. Denn nun ist Band II erschienen.
Ich beginne die Lektüre von Büchern, die Fotografien enthalten, immer mit diesen. Der Bildteil enthält diesmal knapp 50 Fotos. Bis auf eine Abbildung – auf sie wird noch zurückzukommen sein – hätten alle auch vor dem Oktober 1989 im SED-Zentralorgan Neues Deutschland abgedruckt werden können. Selbst die Bildunterschriften wären anstandslos durchgewunken worden. Nach der Lektüre des Bandes erschließt sich auch, warum das der Darstellung angemessen ist:
In dieser DDR, die Krenz hier entwirft, hätten weitaus mehr Menschen gern gelebt, als es real der Fall war. In dem kleinen Land war offenbar ein weitgehend sorgenfreies Leben möglich. Nennenswerte Widersprüche zwischen Staat und Gesellschaft existierten nicht. Einzelne Unzulänglichkeiten waren ausschließlich individuellen Fehlern geschuldet. Das Land war den Interessen von Moskau, Bonn und Washington ausgesetzt und untergeordnet, aber verantwortliche, nimmermüde Politiker sorgten dafür, dass die DDR trotz stürmischer Gegenwinde ruhig und unbeirrt ihren angeblichen Erfolgskurs fortsetzte. Diese Beteiligten hebt der Autor selbst besonders hervor: Erich Honecker (1912-1994), Politbüromitglied Werner Felfe (1928-1988), Bauminister Wolfgang Junker (1929-1990), Minister für Staatssicherheit Erich Mielke (1907-2000), Innenminister Friedrich Dickel (1913-1993), die Verteidigungsminister Heinz Hoffmann (1910-1985) und Heinz Keßler (1917-2020), Werner Walde (1926-2010), SED-Bezirkschef von Cottbus und Kandidat des SED-Politbüros, Helmut Müller (1930-2019), 2. Sekretär der SED-Bezirksleitung Berlin, Pionierchefin und ZK-Mitglied Helga Labs (geb. 1940), FDJ-Boss Interner Link: Eberhard Aurich (geb. 1946), Siegfried Lorenz (geb. 1930), SED-Bezirkschef von Karl-Marx-Stadt und Politbüromitglied, Devisenbeschaffer Interner Link: Alexander Schalck-Golodkowski (1932-2015), Politbüromitglied Werner Lamberz (1929-1978), Politbüromitglied Paul Verner (1911-1986), Politbüromitglied und Ministerratsvorsitzender Willi Stoph (1914-1999) und Egon Krenz selbst natürlich.
Von Jahr zu Jahr steigerte sich das Ansehen des Landes mit einer eigenen deutschen Nation. Die Erfolge beeindruckten Freunde wie Feinde, die ganze Welt schaute neidisch auf das kleine, aber feine Paradies. Die dort lebenden Menschen genossen die Genossen, sofern sie nicht ohnehin selbst welche waren. Gelegentliche Störungen, fast immer von außen hineingetragen, klärte die Parteiführung zum Wohle aller. Niemand lebte in Angst, jeder konnte sich selbstverwirklichen, sogar die Grenze und ihr Regime, eine aufgezwungene Notwendigkeit, akzeptierten mehr oder weniger die meisten Menschen (S. 381). Die Medien waren an Seriosität kaum zu überbieten – hier wurde nur berichtet, anders als im Westen, was auch stimmte (S. 232). Die Sportwunder mit den kaum überschaubaren Erfolgen basierten auf einer großzügigen Förderung, so wie das gesamte Bildungssystem in der deutschen Geschichte (und wohl auch Weltgeschichte) einmalig, vorbildlich und unübertroffen war (S. 21). Das Rechtssystem war den Menschenrechten verpflichtet, was sogar die Häftlinge – politische gab es keine – in den Gefängnissen bestätigten (S. 385).
Zitat
Das Erzählmotiv ist also schnell umrissen: Die DDR war das Beste, was die deutsche Geschichte hervorzauberte. Band zwei der Memoiren schließt mit dem Jahresende 1988. Es gibt bis dahin keinerlei Anzeichen dafür, dass ein Jahr später diese Ulbricht-Honecker-Krenz-DDR Geschichte sein würde.
Wer glaubt, die Zusammenfassung übertreibe, gehört höchstwahrscheinlich genau zu dem Zielpublikum, das die Bücher von Krenz regelmäßig zu Bestsellern macht. Denn so einfach gestrickt die Darstellung von Krenz auch sein mag – sie verfängt nicht nur bei der alten kommunistischen Truppe, die auch mit über achtzig Lebensjahren besonders gern das Arbeiterkampflied „Wir sind die junge Garde“ schmettert. Auch bei vielen Jüngeren, die auf der Suche nach Alternativen zur Gegenwart wieder verstärkt auf die SED-Diktatur hereinfallen, finden solche Geschichtskonstruktionen neuerdings wieder Anklang. Daher ist es eben doch nötig, genauer auch auf Band zwei der Erinnerungen einzugehen.
Egon Krenz war von 1974 bis 1983 Chef der FDJ, ein einflussreicher Posten, der unter direkter Kuratel des SED-Politbüros stand. Und natürlich bestimmte der erste FDJ-Boss, Honecker, höchstpersönlich, wer jeweils die FDJ führte. Der SED-Führer hat zeitlebens seine Funktion als FDJ-Vorsitzender (1945-55) als die schönste seines Lebens angesehen. Ähnlich wie Krenz (1964-67) ist auch Honecker in Moskau auf seine weiteren Aufgaben vorbereitet und dafür entsprechend geschult worden (1955-57). Krenz wurde im Alter von 46 Jahren vom Vorsitz der Jugendorganisation entpflichtet. Längst hatte sich für ihn das höhnische Etikett „Berufsjugendlicher“ verbreitet. Keine Ahnung, wer diesen Mann mit seinem ewig so empfundenen Grinsen in seinen immer gleich hässlich wirkenden Outfits als Anführer der DDR-Jugend nicht irgendwie lächerlich fand – in der DDR jedenfalls haben sie sich gut getarnt und sich offenbar nur in Räumen, die nur ihnen zugänglich waren, zu erkennen gegeben.
Honecker jedenfalls zählte zu den „Fans von Egon Krenz“. Er holte ihn 1983 als Vollmitglied ins Politbüro (seit 1976 war er Kandidat), er wurde sogar sofort Sekretär des Zentralkomitees (ZK), was allerorten der Vermutung Nahrung gab, Kronprinz Krenz sei als Nachfolger von Honecker bereits auserwählt worden.
Im ZK war Krenz fortan als Sekretär zuständig für die Bereiche Sicherheitsfragen, Jugend, Sport sowie Staats- und Rechtsfragen. Das war eine erstaunliche Machtfülle – den besonders sensiblen und wichtigen Bereich Sicherheitsfragen übernahm er von Honecker. Krenz unterstanden nun zentrale Bereiche der Diktatur: das Justizsystem, das Innenministerium, das Verteidigungsressort, die Staatssicherheit, die „Zukunftsreserve“ Jugendpolitik und auch der für die DDR so prestigeträchtige Sport. Ab Ende 1984 vertrat Krenz Honecker, wenn dieser krank oder im Urlaub war – inoffiziell war er somit Honeckers Stellvertreter, ein Titel, den es an sich nicht gab. Außerdem wurde er stellvertretender Staatsratsvorsitzender, rückte in den Nationalen Verteidigungsrat ein und blieb auch Volkskammermitglied.
Egon Krenz hatte eine Fülle an Aufgaben übertragen bekommen. Das Überraschendste an seinem Erinnerungsbuch ist wohl der verblüffende Umstand, dass aus diesen ganzen Tätigkeitsfeldern fast nichts zu erfahren ist. Obwohl er das Scheinparlament „Volkskammer“ hochhält – nichts wird vermittelt, was er und die anderen 400 „Abgeordneten“ dort eigentlich trieben. Ähnlich verhält es sich mit dem Staatsrat. Unter Ulbricht (1893-1973) in den 1960er-Jahren zu einer Art Nebenregierung ausgebaut, verlor dieser seine Stellung noch zu Ulbrichts Lebzeiten wieder. Was Krenz dort als Stellvertreter Honeckers zu tun hatte – keine Silbe ist darüber zu erfahren. Auch der Nationale Verteidigungsrat bleibt fast unerwähnt – lediglich einmal stellt er ihn absurderweise auf eine Stufe mit dem „Bundessicherheitsrat“ (S. 165). Auch aus dem Innenleben der SED ist nichts Relevantes zu erfahren. Weder geht Krenz darauf ein, wie der Parteiapparat konkret arbeitete, wie die verschiedenen Machthierarchien miteinander umgingen und arbeiteten, noch geht er auf die Parteibasis und ihr Verhältnis zur Parteiführung ein. Ja, er beschreibt an keiner Stelle, was er genau wie tat.
Nun hat das Buch knapp 450 eng bedruckte Seiten. Was also behandelt Krenz? Im Wesentlichen stehen zwei eng miteinander verflochtene Themenkomplexe im Mittelpunkt: die Beziehungen der Honecker-Crew zum Kreml und die deutsch-deutschen Gesprächskontakte. Würden nicht andere Quellen und Darstellungen existieren, es würde der Eindruck entstehen, Krenz sei maßgeblich für die deutsch-sowjetischen und die innerdeutschen Beziehungen zuständig und damit fast ausschließlich befasst gewesen. Warum er diese Schwerpunkte setzte, ergibt sich aus der Darstellung selbst.
Das Buch wirft ein generelles Problem auf: Wie verlässlich sind solche Memoiren? Egon Krenz ist praktisch der letzte Überlebende, der nun, nachdem auch Wolfgang Schäuble (1942-2023) verstorben ist, authentisch aus den Machtzentren Ost-Berlins, Moskaus und Bonns berichten könnte. In der Besprechung des ersten Bandes berichtete ich bereits, wie Krenz mit Quellen umgeht: Als ich ihn um eine bat, über die er öffentlich geschrieben hatte, verweigerte er mir den Zugang. In der Wissenschaft gilt diese Quelle dann als nichtexistent oder schlichtweg erfunden. Ich kann mich noch gut erinnern, wie groß mein Erstaunen Anfang der 1990er-Jahre war, als ich im ehemals streng verschlossenen SED-Archiv – es befand sich noch im Gebäude an der Torstraße, in dem heute ein Luxushotel residiert – mehrfach neben Egon Krenz saß, der dort wie ich Akten studierte.
Für mich war das alles neu. Für ihn nicht. Er las überwiegend Unterlagen aus dem „Büro Krenz“, wie ich unschwer feststellen konnte. Ich fragte mich schon damals, was er da eigentlich suchte oder las, denn das hätte ihm doch noch alles in bester Erinnerung sein müssen. Wie er nun berichtet, verglich er seine Aufzeichnungen mit archivierten Unterlagen. Offenbar hat er aber nicht alles ordnungsgemäß abgegeben. Denn auch jetzt stützt er seine Ausführungen auch auf Unterlagen, die sich in seinem „Privatarchiv“ befinden (S. 207), obwohl sie dort nicht hingehören. Zumindest die von ihm erwähnten Personen können sich überwiegend gegen seine Darstellung nicht mehr wehren.
Das Buch eignet sich schon daher kaum als seriöse Quelle. Dennoch lässt sich einiges erfahren – vor allem, wie der Kommunist Krenz die Welt sieht. Obwohl er sich bis heute mit der Kommunistischen Plattform der Linkspartei, die jahrelang von Sahra Wagenknecht angeführt worden ist, und namentlich mit der Eiferin Ellen Brombacher, einer ehemaligen FDJ-Funktionärin, die er in Moskau kennengelernt hatte, verbunden fühlt (S. 36), sieht er in der SED eine Partei, die zu ihren „sozialdemokratischen Wurzeln“ stand (S. 59). Diese abwegige Behauptung über die leninistische Kaderpartei steht in einer Tradition: So mancher Kommunist oder frühere Sozialdemokrat erinnerte vor allem in Krisenzeiten daran, dass die SED ja auch angeblich sozialdemokratisch geprägt sei – eine Behauptung, die nur verfängt, wenn die Geschichte der SED nicht detailliert bekannt ist.
Krenz räumt jedoch ein, für ihn sei die Partei immer wichtiger gewesen als alles andere: „Was sie sagte, war für mich bindend“ (S. 154). Wie alle anderen führenden Funktionäre vor ihm, erklärt auch er in seinen Memoiren nicht, wer denn nun eigentlich „die Partei“ gewesen sei. Auch die Ideologie des Marxismus-Leninismus kommt bei ihm nicht vor, mit keiner Silbe. Lediglich an einer Stelle deutet er den instrumentellen Gebrauch an: „Was der sowjetischen Führung nicht passte, war antimarxistisch, auch unter Gorbatschow“ (S. 405). Das war exakt der Umgang, den die SED-Funktionäre mit Abweichlern, Kritikerinnen und Opponenten pflegten.
Zitat
Dennoch ist es erstaunlich, wie wenig Ideologie, folgte man Krenz, in der DDR angeblich eine Rolle spielte. Dabei gab es nichts, was der Gesellschaft von morgens bis abends, von der Wiege bis zur Bahre so unentwegt eingehämmert worden ist wie der Marxismus-Leninismus und die SED-Ideologie. Krenz scheint aber nicht nur die Rolle der Ideologie in der kommunistischen Diktatur „vergessen“ zu haben. Ebenso absurd ist seine Behauptung, in den späten 1970er- und frühen 1980er-Jahren hätte sich eine „fehlerhafte Doppelstruktur“ von Partei und Staat herausgebildet: „Das widersprach sowohl dem Parteiprogramm wie dem Parteistatut“ (S. 287). Tatsächlich hatte bereits im Oktober 1949 die SED-Führung beschlossen, kein Gesetz, keine Verordnung, keine Verwaltungsmaßnahme dürfe von der Regierung oder Volkskammer beschlossen werden, ohne dass nicht zuvor der SED-Parteivorstand oder die zuständige Abteilung im SED-Apparat dieses selbst beschlossen hatten.
Es entstand bei der SED eine Doppelstruktur, die die staatlichen Verwaltungsstrukturen zwar nicht analog, so doch aber komplex erfasste und spiegelte. Zugleich beschloss die SED-Spitze, dass im Staatsapparat nur Personen arbeiten durften, die dem Staatswesen parteiisch ergeben waren. Personaleinstellungen, auch in den Massenorganisationen, unterlagen umfassenden Prüfungen, die die SED verantwortete. Im Sommer 1960 ist das bekräftigt worden: Am 12. Juli 1960 hatte das SED-Politbüro beschlossen, die bislang bestehende Hierarchie im Verhältnis von Partei und Staat klarer zu strukturieren und die Praxis, dass die Partei immer das letzte Wort hat, in eine – wenn auch verfassungsmäßig inoffizielle – neue Norm zu bringen. Der Staatsapparat ist den Beschlüssen und Weisungen der SED konsequent untergeordnet worden. Daran änderte sich bis Ende 1989 auch nichts.
Unvollständiges und Wahrheitswidriges
Krenz behauptet immer wieder wahrheitswidrig, die SED-Führung hätte sich nicht in laufende Gerichtsverfahren eingemischt (S. 388 f.). Oft bedarf es nur einer gründlichen Lektüre der schlecht lektorierten Erinnerungen, um von ihm selbst das Gegenteil präsentiert zu bekommen. So zitiert er Honecker, der Mielke „strengstens verboten“ habe, gegen einige „Provokateure“ vorzugehen (S. 390). Mielke als Stasi-Minister leitete laut DDR-Strafprozessordnung aber ein ordnungsgemäßes Untersuchungsorgan.
Das Rechtsverständnis von Krenz wird auch an folgender Ausführung sichtbar: Er rühmt, dass die DDR keine Verwaltungs- und Verfassungsgerichte hatte. Das sei eine Schlussfolgerung aus der Weimarer Republik gewesen, denn dort hätten die Gerichte maßgeblich zu deren Untergang beigetragen. Außerdem sollte nicht „eine kleine Gruppe von Richtern politische Entscheidungen von gewählten Volksvertretern außer Kraft“ setzen. „Kein Gericht sollte sich über ein Parlament hinwegsetzen können“ (S. 283). Wohlgemerkt über ein „Parlament“, dem Krenz angehörte und das so wichtig war, dass er es in seinen Memoiren nicht weiter behandelt. Und offenbar war es doch keine Ideallösung. Denn 1988, so rühmt Krenz später, sei die Möglichkeit eingeführt worden, Verwaltungsentscheidungen in der DDR nachträglich gerichtlich überprüfen zu lassen. Das gab es, so Krenz, in keinem anderen sozialistischen Land (S. 445). Das ist insofern kurios, als Krenz zuvor dem „Gerichtsstaat Bundesrepublik“ nahelegte, die DDR-Praxis ohne Verwaltungsgerichte zu übernehmen und dafür auf die Praxis der Eingaben zu setzen (S. 283).
Aber auch die Praxis in der DDR, die Krenz suggerieren möchte, gab es nicht. Er selbst führt das ad absurdum mit einem interessanten Vorgang, der meines Erachtens für die Forschung neu ist. Zwar erklärt er nicht, warum überhaupt Menschen die DDR verlassen wollten – mit keinem Wort geht er auf die Maueropfer ein! –, aber er teilt mit, jährlich seien 20.000 Personen legal ausgereist, 1984 sogar 40.000. Neu dürfte sein, dass Krenz Monat für Monat seinem Chef Honecker eine Liste „jener DDR-Bürger zur Bestätigung vorlegte, die die Genehmigung zur legalen Ausreise aus der DDR“ erhielten (S. 342). Das blieb so bis zuletzt. Krenz fällt nicht ein oder auf, dass selbst diese Praxis im Gegensatz zu den „demokratischen Modellen“ steht, die er für die DDR reklamiert.
Das wirft die Frage auf, was er überhaupt unter Demokratie versteht. Ganz am Ende des Bandes steht der Satz: „Auch im Sozialismus brauchte man Mehrheiten, um etwas zu erreichen“ (S. 446). Die Realgeschichte des Kommunismus steht dieser Aussage entgegen. Millionen Tote und ein imperialistisches Riesenreich, das mit Stacheldraht umzäunt war, sagen etwas anderes. Auch die Existenz der Staatssicherheit zeugt von einer anderen Realität. Die Berliner Mauer war Teil dieses Unterdrückungsregimes, das Duldung und Mitmachen durch vielfältige Methoden bei jenen erzwang, die dem realen Kommunismus ablehnend gegenüberstanden. Kommunist Krenz meint hingegen: „Die Grenze war im Großen und Ganzen akzeptiert“ (S. 381). Für ihn bedeutet, „frei entscheiden zu können“, „politische Einsicht“ als eine „Voraussetzung“ mitzubringen. „Freiheit hatte für mich mit Wissen und Verantwortung zu tun“ (S. 154).
Konkreter wird er nicht. Allerdings deutet er an, wie er das sah: Für eine Aufgabe zog er zwei enge Mitarbeiter aus FDJ-Zeiten heran, beides Berufsfunktionäre, die er deshalb beauftragte, weil sie „frei dachten“ (S. 366). Hier offenbart er sein Freiheitsverständnis: Es setzte voraus, die ideologischen Grenzen des Leninismus anerkannt und die „führende Rolle der SED“ nicht hinterfragt zu haben. Dass er sogar behauptet: „Die Individualität war uns immer sehr wichtig“ (S. 424), ist geradezu grotesk vor dem realen gesellschaftspolitischen Hintergrund, in dem jeder in der Masse aufgehen sollte, jeder sich anpassen sollte und die Militarisierung der Gesellschaft – die Krenz natürlich mit keinem Wort erwähnt – genau das zu erreichen suchte, was Krenz leugnet: die Brechung der Individualität.
Egon Krenz glaubt immer noch, in der DDR sei die Macht vom Volke ausgegangen – im Gegensatz zur Bundesrepublik (S. 18). Immer wieder stellt er heraus, dass jemand „gewählt“ worden sei oder aus seiner Wahlfunktion heraus gehandelt habe (zum Beispiel S. 35). „Willenserklärungen“ (S. 114) oder demoskopische Untersuchungen (S. 30) – für beides gibt es in der Diktatur keine Basis, um mit solchen Daten seriöse Aussagen treffen zu können – zieht Krenz willkürlich heran, um immer wieder zweifelhafte Aussagen zu treffen. So meint er zum Beispiel: „Es war bei weitem nicht die Mehrheit der Bevölkerung, die meinte, wir müssten Gorbatschow nachmachen“ (S. 365). Aber was will man auch von einem Erinnerungsarbeiter erwarten, der noch immer der Meinung ist, die meisten Eltern „waren glücklich“, dass sich Pionier- und FDJ-Organisation um ihre Kinder kümmerten (S. 19).
Zitat
Krenz behauptet sogar, die FDJ wollte Andersdenkende nicht ausgrenzen (S. 27), was etwas merkwürdig anmutet angesichts des Umstands, dass eine Nichtmitgliedschaft in der FDJ ab den 1970er-Jahren praktisch dazu führte, weder Abitur ablegen noch ein Studium absolvieren zu können, und einer der begehrten Abiturplätze immer an politisches Wohlverhalten gebunden war.
Wer sich nicht „bewährte“, flog von der Erweiterten Oberschule ebenso wie von der Universität. Krenz glaubt auch, dass es der FDJ zu verdanken war, dass sich seit den Siebzigerjahren jeder so kleiden und Frisuren tragen konnte, wie es ihm oder ihr beliebte (S. 386). Da sollte er mal die von ihm verantwortete Tageszeitung Junge Welt oder das Monatsmagazin Neues Leben durchblättern. Das änderte sich erst in den späten 1980er-Jahren etwas, aber nicht wegen der FDJ, sondern weil die SED und ihre Berufsjugendlichen keine Chance mehr hatten, ihren Sittlichkeitskodex durchzusetzen. Sie kapitulierten angesichts des Faktischen. Egon Krenz glaubt noch heute, er sei als oberster FDJler von den meisten Jugendlichen „als einer der Ihren“ wahrgenommen worden (S. 41). Das tut richtig weh.
Selbsttäuschungen
Offenbar ist das aber nicht die einzige Selbsttäuschung. So glaubt er, dass er gute Reden gerade als FDJ-Boss gehalten, angeblich auch frei gesprochen habe (S. 159). Das mag so gewesen sein – alles, was über die DDR-Medien verbreitet worden ist, war nicht nur aus meiner Sicht weder frei noch zu ertragen. Selbstkritisch räumt er allerdings ein, dass er sich im Laufe seiner Zeit als Politbüromitglied „immer öfter dabei“ ertappte, „mich ungewollt anzupassen“ (S. 222). Gleichwohl sah er sich offenbar als einen originellen Denker: „Ich wollte nie als Technokrat verstanden werden. Deshalb brach ich eine Lanze für Schöpfertum, Flexibilität und Disponibilität in Ausbildung und Beruf“ (S. 361). Auch das hat er clever getarnt.
An keiner Stelle seines Buches geht er auf die Legitimität des SED-Staates ein. Er meint, für ihn sei die DDR „Heimstatt des deutschen Antifaschismus“ gewesen (S. 16). Klar war für ihn, dass in der DDR aktive Funktionäre automatisch zu den ruhmreichen Antifaschisten zählten (S. 302), während faschistische Umtriebe in der DDR von West-Berlin aus gesteuert wurden (S. 387). Das ist interessant, weil Krenz es an keiner Stelle für erwähnenswert hält, wie sich die DDR sonst noch legitimiert hätte.
Zwar hat er im ersten Band ausgeführt, die DDR sei Ergebnis historischer Prozesse und letztlich Produkt des Leninismus. Aber wie er und seinesgleichen eigentlich konkret zu ihren Jobs kamen, wie das begründet wurde und warum darüber niemand sonst außer einer kleiner Führungsgruppe, in seinem Fall sogar allein Honecker, befinden konnte, was daran „demokratisch“ gewesen sein soll und warum bei „Wahlen“ nur Parteien, Organisationen und Personen bereit standen, die zuvor von SED und dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) bestätigt worden sind, all das und vieles andere findet bei Krenz keine Beachtung. Was sollte er auch schreiben? Dass er wie all die anderen Politbürokraten an die Schalthebel der Macht wie bei der Mafia gekommen war, weil sie Teil einer Familie waren und der Familie ewige Treue geschworen hatten?
Weckt hohe Erwartungen, die aber nur bedingt befriedigt werden. Blick ins Inhaltsverzeichnis des zweiten Teils der Krenz-Erinnerungen.
Über Krenz‘ Arbeit als Sekretär des ZK ist, wie bereits erwähnt, wenig zu erfahren. Einmal behauptet er, als Zuständiger für die Abteilung Sicherheitsfragen „für die politische Arbeit und die Tätigkeit der Parteiorganisationen in den Schutz- und Sicherheitsorganen“ verantwortlich gewesen zu sein (S. 165). Wenig später aber entschärft er diese Relativierung selbst (S. 171). Tatsächlich war er Vorgesetzter des Stasi-Ministers, des Verteidigungsministers und des Innenministers – wie auch des Justizministers. Die Kontrolle der dortigen Parteiorganisationen (S. 221) bedeutet faktisch eine Anleitung der Ministerien, was aber nicht heißt, dass jede einzelne operative Tätigkeit genehmigungspflichtig gewesen wäre. Tatsächlich ist das konkrete Zusammenwirken von SED und MfS unterhalb der zentralen Ebene immer noch längst nicht hinreichend erforscht. Krenz erwähnt mehrfach das MfS (S. 40, 43, 342), ohne auch nur einmal substantiell auf dessen Arbeit im In- und Ausland einzugehen. Von ihm als Vorgesetzten hätte mehr kommen können. Doch Aufklärung ist nach wie vor nicht seine Sache, sondern Vernebelung.
Erstaunlicherweise spielen auch innenpolitische Fragen in dem Buch kaum eine Rolle. Er konstatiert, Honecker habe sich zunehmend kaum noch für Innenpolitik interessiert (S. 175, S. 402) – folgte man diesem Buch, müsste das für Krenz auch gelten. Zwar stellt er fest, dass die D-Mark „faktisch zur zweiten Währung hierzulande“ wurde (S. 49), aber es ist nicht zu erfahren, warum. An einer Stelle geht er ausführlicher auf den Fehlschlag ein, über eine VW-Kooperation einen moderneren „Wartburg“ anzubieten (S. 353-357). In dem Krenz-eigenen Duktus scheiterte das Projekt, weil – was auch immer das heißen mag – „ökonomische Gesetze durch Subjektivismus“ überlistet werden sollten. „Warum VW dem Gemeinschaftswerk mit der Tschechoslowakei vorgezogen wurde, ist mir bis heute ein Rätsel“ (S. 357).
Auch hier ist interessant, was Krenz verschweigt. Denn die SED-Führung legte den Parteifunktionären eine parteiinterne Parteiinformation zur einheitlichen Argumentation vor. Diese Ausarbeitungen blieben in den Achtzigerjahren nie parteiintern. Viele frustrierte SED-Mitglieder verbreiteten solche Parteiinformationen. Die „Wartburgkrise“ trug mit ihren internen, lebensfremden Argumentationen erheblich zur finalen Krise des SED-Regimes bei. Denn da diese Argumentation nicht zog, sie kaum jemand akzeptierte, wandte sich auch innerhalb der SED immer stärker die Stimmung gegen die Honecker-Krenz-Crew, die noch 1988 drohte: „Wer der gegnerischen Hetze und Demagogie erliegt, von dem trennen wir uns [als Parteimitglied – der Verfasser]. Er hat das Recht verwirkt, den Ehrennamen eines Kommunisten zu tragen. Das gleiche gilt auch für Meckerer und ewige Nörgler.“
An einigen wenigen Stellen geht Krenz kurz auf die gegen das SED-Regime gerichtete Opposition ein. Immerhin räumt er ein, dass es sie gab. Sie war nicht gerade mächtig nach der Biermann-Ausbürgerung und wurde erst groß am Vorabend der Revolution. Aber auch das spielt er alles noch herunter.
Pfarrer Oskar Brüsewitz (1929-1976), der sich im August 1976 aus Protest öffentlich selbst verbrannte, stellt er in schlechter SED-Tradition als „eine gescheiterte Existenz“ dar (S. 65). Die Toten, die das Krenz-Regime hervorbrachte, sind ihm kein Wort des Bedauerns wert.
Zur Ausbürgerung von Interner Link: Wolf Biermann 1976 weiß er immerhin zu berichten, dass es im Politbüro dazu unterschiedliche Positionen gab und Honecker selbst verunsichert war, aber unbedingt eine Opposition mit Robert Havemann (1910-1982) und Biermann verhindern wollte. Das sei eine existenzielle Frage (S. 70-72). Krenz meint, wäre nicht so schnell im Westen die Erklärung der Künstler gegen die Ausbürgerung publiziert worden, hätte Honecker womöglich die Entscheidung rückgängig gemacht, unter anderem Konrad Wolf (1925-1982) hatte ihn darum gebeten (S. 72). Das ist Spekulation.
Krenz über Opposition und Biermann
Wie Krenz mit Biermann umgeht, ist bezeichnend, aber auch nicht gänzlich überraschend angesichts von dessen im Herbst 1989 verfasster „Ballade von den verdorbenen Greisen“. So behauptet Krenz, Biermann Anfang der Sechzigerjahre im FDJ-Blauhemd bei Lyrikabenden erlebt zu haben (S. 68). Aber der Liedermacher gehörte 1962/63 gar nicht mehr zur FDJ (bis 1954) und hatte selbst in seiner Hamburger FDJ-Zeit kein Blauhemd besessen. Perfide hingegen ist, dass Krenz zwar darauf verweist, dass Biermann aus einer kommunistischen Familie kam, die aktiv gegen die Nazis gekämpft hatte, dabei aber verschweigt, dass Biermanns Vater Dagobert (1904-1943) im Konzentrationslager Auschwitz ermordet worden ist. Das ist natürlich kein Zufall. So sprang die SED mit Wolf Biermann, dem Holocaust-Überlebenden, bereits ab 1965 in der DDR um: Es sollte keinen Grund geben, dem Kommunisten Biermann irgendeine Legitimität zu verschaffen, das SED-Regime aus kommunistischer Sicht zu attackieren.
Auch mit anderen oppositionellen Erscheinungen geht Krenz ideologisch um. Die Bewegung „Schwerter zu Pflugscharen“ erwähnt er, übergeht aber, dass die oppositionelle Massenbewegung 1982/83 zu vielen Schulstrafen und politischen Auseinandersetzungen führte, was ihm als FDJ-Chef kaum entgangen sein konnte (S. 144 f.). Die Verhaftung von Bärbel Bohley (1945-2010) und Ulrike Poppe (geb. 1953) 1983 sei angeblich am SED-Politbüro vorbeigegangen. Krenz aber habe für die Freilassung der beiden ihm bis dahin unbekannten Frauen gesorgt (S. 299). Im Vorfeld des XI. SED-Parteitages richteten Oppositionelle um Bärbel Bohley (1945 - 2010), Ulrike Poppe (geb. 1953), Werner Fischer (1950-2023), Walter Schilling (1930-2013), Gerd Poppe (geb. 1941), Stephan Bickhardt (geb. 1959) und Martin Böttger (geb. 1947) eine „Offene Eingabe an die SED“. Sie wurde damals in vielen bundesdeutschen Zeitungen auszugsweise nachgedruckt. Krenz gibt den Inhalt unzutreffend wieder, erzählt aber, dass er diesen Brief mit einem anderen aus einer SED-Grundorganisation in die Umlaufmappe der Politbüromitglieder legte. Die Briefe verschwanden, und über sie ist nie gesprochen worden (S. 312-314).
Egon Krenz geht auch auf die Vorgänge an der Carl-von-Ossietzky-Schule Ende September 1988 ein. Damals wurden eine Schülerin und drei Schüler der Schule in Berlin-Pankow verwiesen. Sie hatten sich offen gegen Militärparaden und Rechtsextremismus in der DDR ausgesprochen.
Der Autor tut so, als sei es selbstverständlich gewesen, dass an DDR-Schulen jeder an einer „Wandzeitung“ seine Meinung hätte sagen können. Tatsächlich galten die Vorgänge an dieser Schule als unerhört, weil hier einige Schülerinnen und Schüler Kritik an Militärparaden geäußert hatten. Innerhalb kürzester Zeit waren neben der Schule in diese Vorgänge verwickelt: das Ministerium für Volksbildung unter Margot Honecker (1927-2016), die SED-Bezirksleitung Berlin, das SED-Zentralkomitee, die Berlin-Brandenburgische Evangelische Kirche, Oppositionsgruppen in der gesamten DDR mit Solidaritätsandachten für die exmatrikulierten Schüler sowie einzelne Intellektuelle wie Stephan Hermlin (1915-1997), Christoph Hein (geb. 1944) oder Jürgen Kuczynski (1904-1997) – und ein Sohn von Egon Krenz, der dort ebenfalls zur Schule ging. Krenz stellt die Vorgänge ausführlich aus seiner Sicht dar, um seinen Sohn, dem der Vorwurf anhängt, seine Mitschüler „verpfiffen“ zu haben, in Schutz zu nehmen. Das gelingt Krenz nicht wirklich (S. 430-432), weil sich seine Darstellung nicht mit der seines Sohnes, die am 11. September 2013 im Berliner Tagesspiegel nachzulesen war, deckt. (Auf Seite 153 verwechselt Krenz offenbar seine eigenen Söhne ...)
Egon Krenz orakelt in seinem Buch mehrfach, wer alles für welchen Geheimdienst gearbeitet habe. Auch in Bezug auf Personen aus dem kritischen Milieu der DDR greift er auf jahrzehntealte Behauptungen zurück, ohne auch nur den Hauch eines Beweises vorzulegen. Pfarrer Rainer Eppelmann (geb. 1943) wird einmal mehr unterstellt, er habe als Agent der CIA gedient (S. 390). An anderer Stelle will Krenz ihn noch mehr diskreditieren, denn Eppelmann habe Honecker für den beginnenden Abzug sowjetischer Truppen gelobt (S. 437-438). Der Berliner Politiker ist seit 1990 besonders verhasst bei Altkommunisten, weil er die Aufarbeitung der kommunistischen Diktatur besonders wirksam vorantrieb. Das gilt noch mehr für Pfarrer Joachim Gauck (geb. 1940).
Ihm wird schon länger aus ehemaligen DDR-Geheimdienstkreisen in Zersetzungsmanier unterstellt, er habe mit dem MfS inoffiziell zusammengearbeitet. Krenz packt nun noch einen drauf und verkündet in seinem Buch, Mielke habe ihm 1988 gesagt, Gauck arbeite „ganz ausgezeichnet mit seinen Leuten“ zusammen. „Man solle ihn in Ruhe lassen.“ Eine bekannte Notiz im Neuen Deutschland nimmt Krenz zum Anlass, um zu schreiben: „So viel zum oppositionellen Pfarrer Gauck, der den Schutz des Staatssicherheitsministers genoss“ (S. 441). Krenz sind damals von dem ihm unterstellten MfS Berichte über den Rostocker Kirchentag, um den es konkret geht, übergeben worden. Demnach gehörte Gauck zu jenen Feinden, die gesellschaftliche Veränderungen anmahnten und betonten, dafür sei eine politische Opposition nötig. Die Absicht von Krenz ist zu offenkundig und plump, ja peinlich.
Der Umgang mit Quellen ist bei Krenz sehr problematisch. So schreibt er etwa kurz, wie es dazu kam, dass Bärbel Bohley und Werner Fischer 1988 in die DDR zurückkamen. Dass das so nicht zutraf, sei nur der Vollständigkeit halber erwähnt. Interessanter ist hingegen, dass Krenz ein angebliches Zitat von Bärbel Bohley wiedergibt. Demnach habe sie 1991 gesagt, alles würde bald wiederkommen, nur effektiver als die Stasi (S. 442). Krenz gibt keine Quelle dafür an. Warum wohl nicht? Seit Jahren geistert dieses „Zitat“ durch das Netz. Es ist Jahre nach Bohleys Tod erfunden worden. Von einem Buchautor darf man als Mindeststandard erwarten, dass er seine Quellen prüft.
Egon Krenz offenbart mitunter auch sein instrumentelles Verständnis von Geschichte. Er räumt ein, dass auch die FDJ unter seiner Führung aktiv eingriff, um die Geschichtsbilder zu produzieren, die nötig waren für die Legitimation des Systems (S. 33) – keine andere Wissenschaft beanspruchte eine solche Bedeutung im Kommunismus wie die Historiographie. Die Geschichte war die Legitimationsinstanz der Kommunisten schlechthin. Den „Thälmannschen Geist“ zählt Krenz noch immer zu den „besten Traditionen der deutschen Arbeiterbewegung“ (S. 39). Ein gutes Beispiel dafür, wie wenig Interesse ein Kommunist wie Krenz an historischen Tatsachen zeigt.
Anhaltender Propagandastil
Überhaupt, wie Krenz verfälschend und lügend über die Geschichte der Kommunistischen Parteien schreibt (S. 108, S. 168, S. 435) – nichts davon hätte nicht auch vor 1989 in der DDR so publiziert werden können. Er verteidigt diese Haltung am Beispiel des berühmten Films „Die Reue“ (ein großer Skandal 1987) auch noch heute: „Ich lehne aus Prinzip jede Form von Geschichtspessimismus ab“ (S. 436). Und weil er den Film ablehnte, hatte auch niemand sonst den Film in seinem Machtbereich offiziell zu sehen. Dass Krenz auch andere sowjetische Filme verbieten ließ, erwähnt er gleich gar nicht. Er konnte das überraschende Verbot des sowjetischen Sputnik Ende November 1988 durch Honecker nachvollziehen (S. 442-445). Denn in der DDR ist „Subjektivismus aus unserer Geschichtsbetrachtung“ herausgehalten worden (S. 367). Wieder einer dieser merkwürdigen Ideologiesätze, die im Prinzip seit 1990 kein Nichtleninist verstehen kann.
Egon Krenz‘ Grundanliegen besteht darin, die DDR als den deutschen Friedensstaat, als einen Staat für alle Menschen darzustellen. Merkwürdigerweise lässt er die Honeckersche Sozialpolitik weitgehend unberücksichtigt. Offenbar ist ihm bewusst, dass er damit keine Blumentöpfe mehr gewinnen kann. Aber die Friedenspolitik! Für ihn war die DDR „eine Art Mekka der friedlichen Begegnungen von Politikern aus Ost und West geworden“ (S. 174). Nun könnte man einwenden, dass Politiker nur selten unfriedlich aufeinandertreffen , sich gegenseitig an die Gurgel gehen, morden und brandschatzen. Das würde womöglich manches einfacher machen.
Aber gut, im Prinzip ist ja klar, was der Sprachakrobat Krenz meint. Weniger eindeutig ist hingegen, wie er den Ost-West-Dialog in den Achtzigerjahren einordnet. Er bedauert generell, dass die Blöcke auseinanderfielen und daher heute angeblich die Gefahr drohe, deutsche Panzer rollten bald gegen Russland (S. 13). Das hänge auch damit zusammen, dass die „Antifaschisten in der gegenwärtigen Ukraine durch Faschisten wie Bandera und seine nationalistischen Banden verdrängt wurden“ (S. 59). Die Auflösung des Warschauer Paktes sei unbegreiflich (S. 230) – und letztlich verantwortlich für die gegenwärtigen Situation. Das hat Diktator und Massenmörder Wladimir Putin (geb. 1952) mit etwas anderen Worten auch behauptet, als er 2005 meinte, der Untergang der Sowjetunion sei die „größte geopolitische Katastrophe“ gewesen. Ist es wirklich Zufall, dass Krenz wie der neue Kremlherr denkt?
Textauschnitt aus der Bucheinleitung. Krenz unterstellt führenden Politikern und Medien "Russenhass".
Krenz macht auch deutlich, wen von seinen einstigen Genossen er besonders wenig mag. Dazu zählen etwa Politbüromitglied Werner Krolikowski (1928-2016), den er nicht nur für einen Versager, sondern zudem für einen Verräter und Lump hält (S. 98, S. 430). Auch in dessen Kollege Günther Kleiber (1931-2013) sieht er eine fachliche Niete (S. 430). Seinen ehemaligen Redenschreiber Hans-Dieter Schütt (geb. 1948), als Chefredakteur der Jungen Welt in der zweiten Hälfte der Achtzigerjahre besonders verhasst, straft er durch weitgehende Nichterwähnung (einmal erwähnt er ihn explizit auf S. 133, sonst ohne namentliche Nennung, S. 436). Schütt hat eine sehr selbstkritische Autobiographie vorgelegt, die im kommunistischen und postkommunistischen Milieu nicht auf Begeisterung stieß.
Dass Krenz an Günter Schabowski (1929-2015) kein gutes Haar lässt, hat Tradition. Schabowski gilt SED-Getreuen als Verräter. Gleichwohl hätte es dem Autor gut zu Gesicht gestanden, den späteren „Feind“ mit etwas Abstand zu betrachten, denn in den Achtzigerjahren marschierten sie im Gleichschritt – in dem Buch ist davon nichts zu lesen. Mit Interner Link: Hans Modrow geht er umsichtiger um. Gleichwohl „kapitulierte“ der (S. 285), in seinem Bezirk vertraute ihm niemand (S. 373) und er hatte einen Luxus, den nicht einmal Honecker gehabt habe (S. 372). Das ist ein gezielter Nadelstich, gilt doch Modrow als ein freundlicher, bescheidener und sich selbst zurücknehmender Funktionär. Nichts davon würde jemand Krenz bescheinigen.
Überhaupt scheinen Eifersüchteleien und Eitelkeiten in der Männertruppe an der Parteispitze eine große Rolle gespielt zu haben. Das zeigt sich auch an den Ausführungen zu Politbüromitglied Günter Mittag (1926-1994) (S. 246, S. 362), zuständig für die Wirtschaft, den Krenz geradezu zu hassen scheint. Ihn macht er hauptverantwortlich für das Scheitern der DDR (S. 52, S. 427). Bei Mittag kommt nun aber noch eine Spezialität von Krenz hinzu, die mich jedenfalls sehr überraschte. Immer wieder orakelt er über Geheimdienstanbindungen. Mittag sei ein „falscher Fuffziger“, hätte Paul Verner Krenz einmal anvertraut (S. 223). Krenz habe es immer abgestritten, dass es einen westlichen Spion im Politbüro gebe. Mit Blick auf Mittag aber „bin ich mir da nicht mehr so sicher“ (S. 60). Beim Tod von Werner Lamberz wiederum könnte „der US-amerikanische Geheimdienst seine Hände im Spiel“ gehabt haben. Wer glaube, dies könne auch die DDR-Stasi gewesen sein, wird von Krenz im Jargon der Achtzigerjahre abgekanzelt: Solche Ideen „können nur aus kranken Hirnen sprießen“ (S. 156). Aber das MfS war natürlich im Westen aktiv – in allen Führungsetagen bundesdeutscher Parteien verfügte die Stasi über „Quellen“ (S. 152).
Auch im Bundeskanzleramt arbeitete 1986 ein „Patriot“ für Mielke (S. 321). Für Bestätigung bei den einen und energischen Protest bei den anderen wird der Hinweis von Krenz sorgen, dass Egon Bahr (1922-2015), „Prinzipal in Fragen der Geheimdiplomatie“ (S. 337), mit Moskau auf einem geheimen KGB-Kanal kommunizierte (S. 331). Offenbar hat auch Bahr mit Ost-Berlin verdeckt kommuniziert: Nach einer USA-Reise teilte er mit, dass Washington mit Moskau „ein teuflisches Spiel“ treibe (S. 380). Honecker wiederum misstraute dem KGB immer mehr, wie Krenz schreibt (S. 342). Er glaubt zudem: „Die volle Wahrheit erfahren wir wahrscheinlich erst, wenn alle Archive – auch die der Geheimdienste – in Russland und den USA geöffnet sind“ (S. 379).
Er mag mit diesem Allgemeinplatz recht haben. Freilich hätte Krenz etwas mehr aufklären können. Davon fest überzeugt, dass es im Politbüro immer Männer gab, die Moskau verpflichtet waren (S. 168), schreibt er: „Moskau saß nämlich immer mit am Sitzungstisch unseres Politbüros. Die Sowjets hatten ihre Informanten in unseren Reihen. Sie wussten besser und auch oft früher Bescheid, was bei uns lief, als mancher aus dem Politbüro“ (S. 225). Willi Stoph gehörte, wie hinlänglich bekannt ist, seit 1945 zu den „Treuesten der Treuen“ (S. 234), er war „ein Mann Moskaus in der DDR-Führung“ (S. 289). Auch Erich Mielke könnte zu dieser Fraktion gezählt haben. Krenz streut diesen Verdacht durch die Information, niemand aus der DDR sei so oft und so hoch geehrt worden wie der Stasi-Minister (S. 415).
Und Krenz selbst? Der räumt ein, „immer öfter zwischen den Stühlen“ gesessen zu haben (S. 185). Sowohl Honecker als auch die Sowjets betrachteten ihn als ihren Verbindungsmann zu der anderen Seite. Honecker ermahnte Krenz auch schon mal mit den Worten: „Du bist Sekretär des ZK der SED und nicht der KPdSU“ (S. 189). Das war nicht abwegig. Krenz war ein „Moskauer“, war dort ausgebildet worden. „Die Sowjetunion war meine zweite Heimat“ (S. 201). Offen räumt er ein, dass er vertrauliche Informationen aus dem Politbüro oder auch von Schalck-Golodkowski „stets“ seinen sowjetischen Gesprächspartnern weitergab (S. 226). Wie genau und für wen Krenz agierte, gibt er nicht preis. Gleichwohl: „Mir wurde der Platz zwischen den Stühlen immer unbequemer“ (S. 303).
Überraschend ist das nicht. Die DDR blieb bis zuletzt abhängig von der Sowjetunion. Zwar wandelte sich das Verhältnis Moskaus zur DDR in den vier Jahrzehnten, aber an der prinzipiellen Unterordnung der DDR, gerade in außen- und deutschlandpolitischen Fragen, änderte das nichts. Die DDR als westlichster Vorposten des Sowjetreiches hatte eine überragende geostrategische Bedeutung für Moskau. Krenz schreibt unmissverständlich, dass Gorbatschow (1931-2022) „Glasnost“ für die DDR als Völkerrechtssubjekt nicht zuließ (S. 186). Wie schon zu Ulbrichts Zeiten kam es immer wieder zu Zerwürfnissen zwischen Ost-Berlin und Moskau wegen Rohstofflieferungen (S. 47). Die SED-Führung setzte darauf, dass die DDR als kommunistisches Schaufenster eine höhere Attraktivität ausstrahlen müsse als die anderen Ostblockstaaten. Daher müssten die anderen die Sozialpolitik der DDR mitfinanzieren. Die hingegen sahen das immer weniger ein. Auch Moskau sah seine Kapazitätsgrenzen zusehends erreicht.
Der eigentliche Konflikt zwischen Honecker und Gorbatschow war aber – wieder ähnlich wie bei Ulbricht und Breschnew (1906-1982), dem Honecker 1969/71 zur Seite stand – die innerdeutsche Politik, die „Dialogpolitik“, wie Krenz schreibt (S. 210). Das begann noch vor der Inthronisierung Gorbatschows im März 1985. Bereits im August 1984 offenbarten sich hier Gräben (S. 209), die Honecker stärker an die Seite von Rumänien und China führten (S. 210). Krenz spricht davon, Gorbatschow habe „die Doktrin der eingeschränkten Souveränität“ vertreten (S. 207). Er hat recht, denn Gorbatschow war gegenüber den anderen Ostblockstaaten immer nur bereit, jenen Handlungsspielraum zu geben, den die sich ohnehin bereits ertrotzt hatten.
Die Aufgabe der „Breschnew-Doktrin“ erfolgte Schritt für Schritt, immer den innen- und außenpolitischen Gegebenheiten hinterherhinkend, bis Gorbatschow zunächst in Prag im April 1987 und schließlich in Bukarest im Juli 1989 mit Blick auf Ungarn und Polen die Breschnew-Doktrin aufhob. Honecker brach dort in Rumänien nicht nur symbolisch zusammen und musste nach Ost-Berlin zur medizinischen Behandlung zurückgeflogen werden (das wird gewiss in Band drei erörtert werden). Dabei galten die Bündnisverpflichtungen weiterhin – die DDR war außenpolitisch nach wie vor nicht souverän und stand unter Moskauer Kuratel.
Egon Krenz galt immer als Vertrauter von Honecker. Anders als über Michail Gorbatschow, den er als Lügner (S. 226) und „Verräter“, als einstigen „Bilderbuchkommunisten“ (S. 307) hinstellt (und damit aus seiner Sicht ja durchaus Recht hat) und dem er, anders als sich selbst, unlautere Motive unterstellt (S. 322), bricht er über seinen Chef Honecker nicht den Stab. Es ist sehr interessant, wie Krenz den Konflikt zwischen Honecker und Gorbatschow darstellt: Der SED-Führer wollte nicht mehr Moskaus Marionette sein (S. 259). Als der greise und kranke Konstantin Ustinowitsch Tschernenko (1911-1985), kurzzeitiger Nachfolger von Juri Wladimirowitsch Andropow (1914-1984) und Vorgänger von Gorbatschow, sich 1984 in Moskau den Führern des Ostblocks präsentierte, murmelte Honecker zu Krenz „Peinlich, nicht wahr?“ Er bat Krenz, dafür zu sorgen, dass ihm nichts Ähnliches wiederfahre (S. 197).
Honeckers Außen- und Deutschlandpolitik blieb, so Krenz, obwohl im Dauerkonflikt mit dem Kreml, rational, und der Kronprinz folgte seinem Herrn in fast allen Fragen. Der Besuch Honeckers in Bonn im September 1987 war der vorläufige Höhepunkt von dessen Karriere – die Krönung mit einem Besuch im Weißen Haus blieb ihm versagt, obwohl er hart dafür arbeitete. Die vielen Passagen, die sich um den Bonn- und München-Besuch Honeckers drehen, an dem Krenz nicht teilnahm, gehören zu den interessanten in diesem Erinnerungsbuch. Vor allem zeigen sie, wie Honecker sich gegen Moskau zu behaupten versuchte (auch mit seiner China- und Rumänien-Politik) und wie der Kreml schließlich zähneknirschend Honeckers Reise hinnehmen musste. Auch Krenz bestätigt, dass Honeckers Abstecher ins Saarland, in seine alte Heimat und ans Grab seiner Eltern, den SED-Chef tief bewegt hat. Krenz suggeriert, dass auch Honecker, wie einst Ulbricht, noch der eigenen Herkunft und Sozialisation wegen gesamtdeutsch dachte. Der Tod der Enkelin am 29. Januar 1988 habe Honecker, er war 75 Jahre alt, „zusehends“ verändert (S. 435). Er sei nicht mehr richtig ansprechbar gewesen.
Egon Krenz nimmt auch das nicht zum Anlass, um das von ihm mitgetragene System infrage zu stellen. Kommt ihm niemals in den Sinn, dass die kommunistischen Parteien an der Macht ihre Herrschaft wie ein Familienclan ausübten? Wenn er glaubt, es habe in der DDR so etwas wie Wahlen gegeben, warum erörtert er dann nicht, dass es bei demokratischen Wahlen auch die Möglichkeit hätte geben müssen, abberufen oder gar abgewählt zu werden? Wenn er solche einfachen Fragen an sich und das von ihm repräsentierte System stellte, bliebe nicht mehr viel von seinem Staat übrig – Legitimität, Demokratie und Freiheit schon gar nicht. Das würde ihn auch in die Bredouille bringen, denn genau solche demokratischen Verfahren gibt es bekanntlich in der Bundesrepublik.
Eine zentrale Aufgabe seines Buches sieht Krenz nicht nur darin, die DDR als leuchtenden Höhepunkt der deutschen und europäischen Geschichte zu zeichnen – wenn sein Buch ein paar Fotos aus den zerfallenen Innenstädten der DDR Ende der 1980er-Jahre enthielte, würde dies seine Darstellung allein wortlos konterkarieren –, genauso wichtig ist es ihm, die Bundesrepublik als Hort der Unfreiheit, sozialer Katastrophen oder fehlender Demokratie darzustellen. Dazu zählt auch, dass er behauptet, sämtliche Bundestagsparteien hätten die DDR gepriesen und deren Leistungen und Errungenschaften wenn schon nicht bewundert, so doch anerkannt. Offenbar ist Krenz nicht ansatzweise geläufig, was auf diplomatischem Parkett üblich ist.
Zitat
Natürlich, es gab viele bundesdeutsche Politiker und Journalisten, die DDR-Verhältnisse verzerrten. Aber die Bilder, die Krenz entwirft, überschreiten jeden Rahmen seriöser Betrachtung. Der einstige SED-Chef verfährt auch hier wie sonst: Er greift heraus, was ihm beliebt, geht aber mit keinem Wort auf die seinen Thesen zuwiderlaufenden Ereignisse ein.
Helmut Schmidt (1918-2015) firmiert als Honeckers „Ehrenmann“ (S. 125), auch wenn er nur ein Vasall Washingtons gewesen sei (S. 124, S. 126). Im bereits erwähnten Kontext des Rostocker Kirchentages 1988 hätte Krenz ja mal zitieren können, was Schmidt dort über Demokratie, Freiheit und Deutschland sagte.
In Willy Brandt (1913-1992) sah Honecker einen Genossen. Helmut Kohl (1930-2017) und Erich Honecker vertrauten einander (S. 241). Von Interner Link: Franz Josef Strauß (1915-1988) waren die SED-Genossen ohnehin heimlich und ab 1983 auch ganz offen begeistert (S. 251) – warum auch immer. Herbert Wehner (1906-1990) galt als alter Genosse. Die jüngere Politikergeneration vor allem der SPD, allen voran Egon Bahr, fühlte sich Egon Krenz in den Achtzigerjahren sowieso besonders verbunden – eine Verbindung, die über das Jahr 1990 anhielt, wie die Begegnungen mit Bahr oder auch jüngst noch Gerhard Schröder (geb. 1944) in der russischen Botschaft im Mai 2023 eindrücklich zeigten.
Krenz und Lindenberg
Mit vielen war Krenz, wie er namentlich hervorhebt, per Du (S. 164, natürlich fehlt da auch Oskar Lafontaine, geb. 1943, nicht; S. 247, S. 252). Den Rezensenten schmerzt nur eine Duz-Freundschaft von Krenz geradezu persönlich – die mit Udo Lindenberg (geb. 1946). Für mich als 12-, 13-, 14-, 15-Jährigen war Udo der Freiheitsapostel jenseits der Mauer schlechthin: „Käfige sind zum Ausbrechen da“, sang Udo in „Katze“ 1980. Da passt es schlecht zusammen, dass Lindenberg auch nach 1983, als die versprochene DDR-Tournee nach seinem peinlichen, wenn auch als Kompromiss für die Tour hinnehmbaren Auftritt im „Palast der Republik“ im Oktober 1983 doch wieder untersagt wurde, weiter freundschaftlichen Kontakt hielt.
Wirkt eher anbiedernd. Ausschnitt der Bebilderung im Buch von Egon Krenz.
Immerhin war Krenz für die Tourneeabsage mit verantwortlich, was ja jeder wusste. Damals las Udo bei einem Konzert in West-Berlin den Absagegrund aus einem Schreiben an ihn vor. Im SED-FDJ-Deutsch klang das etwas umständlich, es war von Rezipienten die Rede, die Udo nicht richtig verstünden. Bei Krenz heißt es, Schmährufe von Fans und das Aufbauschen durch die Westmedien seien der eigentliche Grund gewesen (S. 147). Dass Udo dem „Egon“ dennoch anschließend weitere signierte LPs schickte (S. XIII), ist schon schwer erträglich. Aber immerhin ging Udo nicht so weit wie sein Sängerkollege Heinz-Rudolf Kunze (geb. 1956), der gemeinsam mit Krenz – orchestriert von einem gewissen Dieter Dehm (geb. 1950), der schon vor 1989 beste Beziehungen in die DDR pflegte und in den vergangenen Jahren vor allem als Verschwörungstheoretiker und Kreml-Freund auffiel – ein Buch publizierte und dabei nicht in der Lage war, Krenz‘ Lügen und Halbwahrheiten energisch zu widersprechen. Er bot ihm einfach nur ein Podium.
Egon Krenz hat ein Buch geschrieben, mit dem er seine (erwartbare) Weltsicht präsentiert. Das Buch ist weder langweilig noch schlecht geschrieben, zuweilen liest es sich zwar wie ein SED-Bericht, aber diese Passagen überwiegen nicht. Dagegen habe ich mir inhaltlich erheblich mehr erhofft, zwar dürften so manche Details, von denen ich einige anführte, für die Forschung von Interesse sein, seine kontinuierliche Vernebelungstaktik bleibt aber durchgehend prägend. Seine Einlassungen zu Medien der Bundesrepublik sind in einem Punkt interessant: „Westredakteure hatten es leicht, durch gezielte Informationen oder Fehlinformationen unsere Politik zu ‚beeinflussen‘“ (S. 446).
Zitat
Tatsächlich zeigt Krenz immer wieder am Rande, dass westliche Berichterstattung in den Amtsstuben der SED-Führung Hektik und Betriebsamkeit auslösten. Aber auch dies nimmt der Autor nicht zum Anlass, grundsätzlich darüber nachzudenken, warum Ostmedien das nicht ebenfalls verursachten beziehungsweise verursachen konnten. So bleibt am Ende nur zu konstatieren: Das Buch wird in Krenz-Kreisen erneut für Begeisterung und Zustimmung sorgen. Bleibt zu hoffen, dass es sonst vor allem auf kritische Leser und Leserinnen stößt.
Der Rezensent ist auf den dritten Band der Memoiren von Egon Krenz gespannt. Wie wird er die Freiheitsrevolution gegen sein Regime deuten, wie wird er die Ereignisse umdeuten, wie wird er (v)erklären, dass er als oberster Chef für die „Wahlen“ und deren Interner Link: Ergebnisverfälschung zuständig war, wie wird er seine Zustimmung zum Blutbad in Peking begründen und wie wird er begründen, dass er am 18. Oktober 1989 im DDR-Fernsehen die „Wende“ verkündete, tatsächlich aber das Fernsehvolk mit „Liebe Genossen und Genossinnen“ ansprach und lediglich seine Rede aus dem Zentralkomitee ablas? Wie wird er die heimlich mitgeschnittene SED-Versammlung in der Volkskammer im November 1989 einordnen, die klar machte, dass er so weitermachen wollte wie bisher?
Weniger gespannt bin ich auf seine Deutungen der Gerichtsprozesse gegen die SED-Führung und ihn selbst, seine Blicke auf Russland, China oder Kuba. Über all das hat er bereits Bücher veröffentlicht, ohne großen wissenschaftlichen Wert. Wird er nun endlich relevantere Aspekte vortragen? Fortsetzung folgt ....
Leserbrief von Ex-FDJ-Chef Eberhard Aurich"Fortsetzung der Plaudereien…"
Nach der Veröffentlichung dieser Buchkritik des Historikers Ilko-Sascha Kowalczuk erreichte uns die beigefügte Sicht auf den zweiten Band der Memoiren des Honecker-Kronprinzen Egon Krenz von dessen Nachfolger an der Spitze der "Freien Deutschen Jugend" (FDJ), Interner Link: Eberhard Aurich. Ein Zeitdokument über die Unterschiedlichkeit, wie ehemalige SED-Funktionäre das Machtsystem in der DDR aufarbeiten, das einer Parteidiktatur entsprach:
"Wie schon der 1. Band, auch das neueste Werk hat nicht sehr viel mit der Biografie des Autors zu tun, es sind lediglich weitere „Plaudereien“ aus dem Politbüro. Wieviel freie Zeit muss der Autor gehabt haben, um sich all das Geschwurbel ins Notizbuch zu schreiben. Und warum notierte er es eigentlich? Nur um den sowjetischen Botschafter korrekt zu informieren, wie er schreibt? Oder zur Verwendung im eigenen Machtkampf? Und was hat er alles im „Privatarchiv“? Kann das eigentlich sein? Darf das sein? Allerdings schreibt er ja fast nur über Tote, die können sich ihm gegenüber ja nicht mehr wehren.
Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk hat das Buch im Deutschland Archiv einer gründlichen Analyse unterzogen, der ich weitgehend zustimme. Nur in einem Punkt muss ich dem Spezialisten widersprechen: Krenz hebt mich in diesem Buch nicht besonders hervor, er reiht mich glücklicherweise nicht ein bei den „verantwortlichen nimmermüden Politikern“ wie Honecker, Felfe, Junker, Mielke, Dickel, Hoffmann, Keßler, Walde, (Helmut) Müller, Herger, Labs, Postler, Lorenz und Schalck. Da kann ich ihm eigentlich nur dankbar sein, nicht in dieser Reihe aufzutauchen, hält er mich doch für einen Gewendeten, einen Abtrünnigen und Narzissten, nur weil ich mich später mal ehrlich der Frage zugewandt hatte, warum es einen ZUSAMMENBRUCH des Sozialismus gab. Das konnte er allerdings 1983 noch nicht ahnen. Im Buch heißt es: „Wolfgang Herger und ich hatten lange nachgedacht, wer mein Nachfolger werden könnte. Nach gründlicher Überlegung schlugen wir Eberhard Aurich vor. Er war zehn Jahre jünger als ich und hatte in verschiedenen Funktionen eine Menge Erfahrung gesammelt, zuletzt als 2. Sekretär des Zentralrats. Er hatte den Beruf eines Betonfacharbeiters mit Abitur erlernt, ein Hochschulstudium als Lehrer für Deutsch und Staatsbürgerkunde absolviert, sich als FDJ-Bezirkschef von Karl-Marx-Stadt und in politischen Auseinandersetzungen bewährt. Er kannte die FDJ von innen und außen, war ein parteitreuer Weggefährte. Ihm trauten wir zu, den Jugendverband gut leiten zu können.“
Endlich wird mir nun meine Frage beantwortet, warum ich 1983 von Krenz und Herger zum Kadergespräch und anschließend in die Sauna gebeten wurde. Da macht es nichts, wenn mein Abitur mit Auszeichnung und mein Pädagogik-Diplom keine besondere Rolle spielte und ich kein Betonbauer mit Abitur war, sondern ein EOS-Abitur mit einem Berufsabschluss als Betonfacharbeiter hatte, dass ich fast sechs Jahre in der Studentenabteilung im Zentralrat der FDJ bereits gearbeitet hatte, denn wichtiger war, ich konnte ja Ziegel korrekt setzen, Beton mischen, diesen mit Stahl verbinden und Schutt wegräumen, war also ein „lupenreiner Proletarier“ wie mein Vater. Und ich konnte mich politisch auseinandersetzen. Mit wem eigentlich? Dass ich weder auf der Komsomolhochschule noch auf einer Parteischule in Moskau oder Berlin war, verschwieg er gegenüber Honecker.
Warum trägt das Buch den Untertitel GESTALTUNG und VERÄNDERUNG. Was hat der Autor denn gestaltet und verändert? Er war im obersten Parteizirkel zuständig für Sicherheit und Verteidigung, für Staat und Recht, für Jugend und Sport. Zu dieser seiner konkreten Verantwortung schreibt er fast nichts. Weder zu seinen Zielen und Absichten, zu Erfolg oder Misserfolg, zu Enttäuschungen oder Irrwegen. „Er beschreibt an keiner Stelle, was er genau wie tat.“ (Kowalczuk) Es geht fast ausschließlich um sein Verhältnis zu Erich Honecker, also um seine Karriere und die sie beeinflussenden Störungen seitens seiner „Kollegen“ oder „Freunde“ oder „Genossen“. Nur seine Ideale waren und sind bis heute unerschütterlich: Er denkt immer noch Im „Thälmannschen Geist“, die Sowjetunion ist seine zweite Heimat und die DDR sein „Unikat von bleibender Bedeutung“. Noch heute ist er stolz, dass sie 40 Jahre durchgehalten hat. Mit Marx und Engels hat er nicht mehr viel am Hut. Jetzt hofft er auf den Kommunismus, den uns China bringen wird. Dafür bekommt er auf Lesungen Beifall und merkt gar nicht, wie respektlos er sich gegenüber den früheren FDJ- und SED-Mitgliedern verhält, die nicht so jauchzen wie er über das, was früher „unsere DDR“ war, die ihre täglichen Sorgen und Ärger hatten und irgendwann dann auch die ganze Gängelei seitens der Partei, des Staates und der FDJ und das Gerede vom Sozialismus satthatten. Da labt er sich wohl immer noch in dem von ihm organisierten Jubel auf FDJ-Vorbeimärschen wie zum Beispiel 1979, als er auf der Karl-Marx-Allee Jubel und Sprechchöre über Lautsprecher manipulativ einspielen ließ. Angeblich hätten laut Krenz immer wieder Studien des Zentralinstituts für Jugendforschung Leipzig bewiesen, dass die Jugend treu zur DDR stand. Warum befahl er aber dann den wenigen, die Zugang zu diesen Aussagen hatten (ich gehörte dazu), diese in ihre Panzerschränke einzuschließen und nichts daraus verlauten zu lassen. Im Januar 1988 stellte allerdings Prof. Dr. Walter Friedrich, der Leiter des Leipziger Instituts, auf einer von mir nun schon ohne Wissen von Krenz anberaumten Versammlung im Zentralrat der FDJ einen „zunehmenden Trend der Betonung der Selbständigkeit, der persönlichen Unabhängigkeit, der Individualität“ fest. Er verwies auf eine „tendenzielle Abschwächung des Engagements, des Interesses an politischen Zielen und Aufgaben, so wie sie vermittelt werden.“ Wenn ich allerdings solche Einschätzungen und Wertungen an meinen „Vorgesetzten“ Egon Krenz schickte, bekam ich aber als Antwort: „Lieber Eberhard! Ich halte es für notwendig, dass immer wieder die eigene Verantwortung der Funktionäre des Zentralrats, der Bezirks- und Kreisleitungen betont wird. Der Verweis darauf, dass andere noch weniger mit der Jugend reden, ist wenig produktiv.“ Gleichzeitig bestellte er mich dann zu einer Aussprache ins ZK. Da nahm er seine Verantwortung auf die ihm eigene Art wahr, die er jetzt in seinem Buch verschweigt.
Und wie schon im Buch „Wir und die Russen“ offenbart er weitere Details aus dem Dauerkonflikt mit der sowjetischen Führung, den er uns in der FDJ-Führung damals natürlich im Interesse seiner Freundschaft zur Sowjetunion verbarg. Hätte es die DDR gerettet, wenn die Russen Erich Honecker hätten machen lassen, was ihm geradeso so bei der Jagd oder im Kontakt mit Westpolitikern einfiel? Einen zentralen Knick in der DDR spart Krenz völlig aus, er hat ihn offensichtlich gar nicht verstanden: 1976 korrigierte die SED auf Befehl von Breshnew endgültig das Reformkonzept von Ulbricht, seine Vorstellung von der eigenständigen Gesellschaftsformation Sozialismus wurde mit einem neuen Parteiprogramm entsorgt. Jetzt sollte es nahtlos bald zum Kommunismus gehen. Das hatte verheerende Auswirkungen auf die Jugend. Die sollte nämlich nicht mehr bloß sozialistisch, sondern nun kommunistisch erzogen werden. Keiner wusste eigentlich, was außer Parteitreue damit gemeint war. Krenz feiert das in seinem Buch, indem er über die von ihm initiierten roten Halstücher der Pioniere jubelt. Und die im gleichen Jahr folgende Biermann-Ausbürgerung war seiner Meinung nach natürlich ein „Fehler“, der angeblich auch im Politbüro umstritten war. Kein Wort darüber, dass uns danach die besten Künstler verließen und kein Wort von ihm, welche Treueschwüre gegenüber dieser Entscheidung der Parteiführung er da von den FDJ-Funktionären verlangte. Und dass die DDR zu dieser Zeit eine eigenständige deutsche Nation werden sollte, sogar die Verfassung der DDR deshalb geändert wurde, auch dazu kein Wort. Egon Krenz hatte sogar den kühnen Einfall, für die DDR-Nationalhymne einen neuen Text schreiben zu lassen. Wenigstens das hat dann Honecker verhindert.
Was war das doch für eine tolle Mannschaft da oben, die auch ich als ZK-Mitglied 1981 und 1986 mit gewählt habe. Man muss Mittag, Schabowski, Mielke, Stoph, Krolikowski, Kleiber nicht mögen, aber die „Nachrufe“ (alle Betroffenen sind schon tot!) von Krenz sind nur unanständig. Warum hat er nicht den Aufstand geprobt, wenn in seinen Augen das alles nur Dumme und Karrieristen waren. Noch Ende Oktober 1989 hat er mich angebrüllt, nur weil ich gefordert hatte, dass einige aus dieser Truppe zurücktreten sollen: Ich hätte keinen Respekt vor den antifaschistischen Widerstandskämpfern! Ich saß oft in seinem Vorzimmer und habe natürlich bemerkt, dass er sich mit Schalck und Junker traf. Der Leiter der Abteilung Jugend Gerd Schulz und ich waren ihm wohl zu wenig vertrauenswürdig, als dass er uns hätte in seine Gedanken (welche hatte er denn eigentlich?) eingeweiht hätte. Das Papier, das zwei meiner Mitarbeiter ohne mein Wissen (also illegal!) in seinem Auftrag ausgearbeitet hatten und Honecker für einen Gorbatschow zugewandten Kurs gewinnen sollte, habe ich nie zu lesen bekommen. Was für ein Vertrauen in die Jugend und in die ihm unterstellte FDJ-Führung!
Überhaupt: Als Sekretär des ZK war er auch für die Jugendpolitik der SED zuständig. In diesem Buch gibt es keinen Beleg dafür. Warum schreibt er nichts über die Jugend und die FDJ? Als FDJ-Chef von 1974-1983 initiierte er das zentrale Jugendobjekt „Drushba-Trasse“ und die „FDJ-Initiative Berlin“. Tausende machten sich aus ihren Heimatorten auf den Weg nach Berlin oder in die Sowjetunion. Die FDJ schickte Brigaden der Freundschaft nach Afrika und Lateinamerika. Hat er diese engagierten jungen Leute alle vergessen? Die FDJ organisierte schon in seiner Zeit Freundschaftstreffen mit Jugendlichen aus den sozialistischen Ländern und half Kuba 1978 wunderbare Weltfestspiele der Jugend und Studenten vor den Toren der USA auszurichten. 1982/1983 fanden auch Demonstrationen in der DDR gegen den NATO-Raketenbeschluss statt. 1987 organisierte die FDJ das weltgrößte Friedensseminar von kommunistischen und sozialdemokratischen Jugendverbänden aus aller Welt und fand der Olof-Palme Friedensmarsch quer durch die DDR statt. Die FDJ knüpfte als erste 1986 wieder Kontakte hin nach China. Alles vergessen? Warum gesteht er nicht ehrlich, dass er mit Schuld daran trägt, dass die Statistiken der FDJ kaum der Wahrheit entsprachen und Versuche, ehrlicher Erfolg und Misserfolg auszuweisen, von ihm missbilligt wurden. Und warum schreibt er nichts darüber, dass er das FORUM, die Zeitung für geistige Probleme der Jugend, 1983 endgültig verbot? Warum musste man am Morgen als FDJ-Chef besorgt auf einen Anruf von Egon warten, um seine Kritik an der aktuellen Ausgabe der Jungen Welt zu vernehmen oder um seine Frage zu beantworten, warum die Zeitschrift Neues Leben wieder einmal so viele Nackte und andere wenig prüde Artikel abgedruckt hat. Warum untersagte er mir 1984, den ehrlichen DEFA-Film „Erscheinen Pflicht“ zum Jugendfestival zu zeigen? Und warum diktierte er einen Verriss des Filmes „Insel der Schwäne“? Die Kritik des Anti-Stalin-Films „Die Reue“ hält er heute noch für richtig. Auf seine Antwort, ob wir den kritischen Brief von Hermann Kant 1989 in der Jungen Welt abdrucken sollten, warte ich bis heute, was ihn nicht davon abhält, in der UZ zu behaupten, der Abdruck sei mit seinem Zutun geschehen. Dabei hatten dies der Chefredakteur und ich am Abend des 7. Oktober im Palast der Republik aus Wut ohne seine Zustimmung entschieden. Auch behauptet er in seinem Buch und in anderen Medien, dass er 1984 nach einem Gespräch mit Jungsozialisten (Olaf Scholz war unter ihnen) für die Freilassung von Bärbel Bohley und Ulrike Poppe gesorgt zu haben. Ich war bei dem Gespräch dabei, die Jusos hatten diesbezüglich gar keine Forderung gestellt. Das musste selbst ihr damaliger Vorsitzender einräumen.
Egon Krenz war von 1974-1989 in unterschiedlichen Funktionen mein Vorgesetzter, 1. Sekretär des Zentralrats der FDJ, Mitglied des Politbüros und Sekretär des Zentralkomitees, aber nicht mein Freund, ich gehörte nicht zu den „Fans von Krenz“. Er war der Meinungs-Dominator, hörte nur selten wirklich zu, deklamierte lieber in Phrasen, egal ob auf Zentralratstagungen, Jugendforen oder der FDJ-Kulturkonferenz. Zeitweise meinte er zu mir, ich sei wohl nicht richtig dabei und ließ offen, was er damit meinte. Er rüffelte uns im Zentralrat, wenn wir seiner Meinung nach nicht richtig gekleidet waren oder sein früheres Arbeitszimmer ein wenig umbauten. Und wenn ich zu Funktionärsessen mit unseren Ehefrauen gar ausnahmsweise meinen Sohn mal mitbrachte, fand das seine Kritik. Er verlangte von uns im Zentralrat vasallenhafte Treue zu Erich Honecker. Er achtete sehr darauf, dass die FDJ Honecker keinen Anlass bot, sie und damit auch Egon zu kritisieren. Als die Junge Welt 1988 fragte, warum wir in der FDJ Blauhemd tragen, war das schon ein Grund, an der Treue der FDJ-Führung zu zweifeln. Selbst als ich 1987 in einem Artikel in der Jungen Welt an die Arbeiter erinnerte, die die Krupp-Villa Hügel in Essen stürmten und dies mit den schlesischen Webern verglich, kritisierte er nicht meine illusionären Vorstellungen von Sozialismus, sondern meinte, dass Erich Honecker in schlechtes Licht gerate, nur weil dieser dort kurz zuvor gemeinsam mit den Kapitalisten gespeist hatte. Hat er jetzt Angst vor uns, die wir noch leben und ihm in seinen wertenden Erinnerungen widersprechen könnten? 1982 hat er gemeinsam mit Wolfgang Herger die Endfassung der Geschichte der FDJ bis 1979 redigiert. Kein Wort von ihm dazu, was darin wirklich Wahrheit ist, was Schönfärberei oder Lobhudelei auf Honecker. Ich hatte jedenfalls bereits 1988 eine weitere Auflage untersagt. Selbst unsere Versuche, in den 80er Jahren den Jugendlichen ihren kulturellen Wünschen und Vorstellungen mehr entgegenzukommen, spielen bei ihm im Buch keine Rolle. Dabei war er doch selbst in Weißensee auf den Rockkonzerten zu Gast. Er war es aber auch, der die von ihm 1983 versprochene, schon 1984 verworfene, von uns in der FDJ aber nach dem Honecker-Besuch in der BRD bereits komplett vorbereitete Lindenberg-Tournee der FDJ 1988 endgültig verbot. Er war es, der mich 1988 aufforderte, vom Ministerium für Kultur das Verbot sowjetischer Filme zu fordern, was ich energisch abgelehnt habe, was ihn nicht hinderte, trotzdem für das Verbot zu sorgen. Unsere kritischen Meinungen zum Sputnik-Verbot hat er wenigstens Honecker wissen lassen. Er war es aber auch, der 1988 von mir verlangte, den Kulturminister Hoffmann auf der damaligen ZK-Tagung wegen seiner Konvergenz-Gedanken in einer westdeutschen Theaterzeitschrift anzugreifen. Das ist ihm alles keine selbstkritische Erinnerung wert. Die Liste könnte ich fortsetzen.
In meinem Buch habe ich mich 2019 ehrlich mit der Frage beschäftigt, warum der Sozialismus in der DDR zusammenbrach. Mich würde schon die Meinung von Krenz zu meinen Argumenten interessieren. Ich habe da die Auffassung vertreten, dass es nicht an den Personen lag, die regiert haben, sondern es gewichtige objektive Gründe gab. Der Meinung bin ich auch nach dem Lesen des Buches von Krenz immer noch. Krenz will aber offensichtlich das Gegenteil beweisen. Das gelingt ihm wohl sogar, denn mit dieser Führung war nichts mehr zu retten. Merkt er aber gar nicht, welches Urteil über die DDR er damit bestätigt? ...".
Eberhard Aurich 3.2.2024
Zitierweise: Ilko-Sascha Kowalczuk, "Anhaltende Vernebelung - Über die Fortsetzung der Memoiren von Egon Krenz“, in: Deutschland Archiv, 19.01.2024, Link: www.bpb.de/544645. Veröffentlichte Texte im Deutschland Archiv sind Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar. Interner Link: Hier Teil 1 von Kowalczuks Buchkritik.
Ilko-Sascha Kowalczuk ist Zeithistoriker, lange Zeit arbeitete er mit Leitungsaufgaben in der Forschungsabteilung der Stasi-Unterlagenbehörde. Er war in den 1990er Jahren sachverständiges Mitglied der Enquete-Kommission zu Geschichte und Folgen der SED-Diktatur des Deutschen Bundestages und er war Mitglied der Regierungskommission "30 Jahre Revolution – 30 Jahre Deutsche Einheit“. Er hat zahlreiche Bücher und Publikationen vorgelegt, zuletzt erschienen von ihm eine umfangreiche Biographie von Walter Interner Link: Ulbricht, deren zweiter Band im März 2024 herauskommt. Außerdem erschienen zuletzt 2021 in der bpb: Interner Link: (Ost)Deutschlands Weg I+II, 80 Studien, Prognosen, Essays (bpb-Schriftenreihebände 10676 I+II) und 2020 "Interner Link: Die Übernahme. Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde" (bpb-Schriftenreiheband 10517).
Ihre Meinung ist uns wichtig!
Wir laden Sie zu einer kurzen Befragung zu unserem Internetauftritt ein. Bitte nehmen Sie sich 5 Minuten Zeit, um uns bei der Verbesserung unserer Website zu helfen. Ihre Angaben sind anonym.