Deutschland Archiv (DA): In der aktuellen Ausstellung des Jüdischen Museums „In einem anderen Land. Jüdisch in der DDR“ steht die Reisetruhe deiner Familie, mit der deine Großeltern aus Großbritannien zurück nach Berlin gekommen sind. Wann hast du das erste Mal von dieser Truhe erfahren? Und wusstest du, was da drin war beziehungsweise ist?
Esther Zimmering: Meine Großeltern haben sich im Exil in England kennengelernt, und als Relikt gibt es diese Reisetruhe, die im Treppenhaus bei meinen Eltern steht. Sie stand zu DDR-Zeiten bei meinen Großeltern. Was da drin war? Bettwäsche, glaube ich. Aber was da drin war, als sie aus England kamen, das weiß ich nicht. Sie sind von London über Brüssel nach Berlin gekommen. Und dann muss die Truhe irgendwie nach Dresden gekommen sein. Das ist schon toll. Es gibt auch noch einen grauen Sack, da steht genau das gleiche drauf: „London - Brussels – Berlin“. Der Sack ist auch mitgereist.
DA: Dein Großvater väterlicherseits war der DDR-Politiker und Diplomat Josef Zimmering.
Esther Zimmering: Ich war nicht in der FDJ, weil ich zu jung dafür war. Als die Mauer fiel, war ich zwölf Jahre alt, und in die FDJ kam man mit vierzehn Jahren. Davor war man erst ein Jungpionier, dann ein Thälmann-Pionier, und danach kam die Jugendweihe. Mein Bruder ist eineinhalb Jahre älter als ich und war noch ein Jahr in der FDJ. Damals war ich sehr traurig, dass ich das nicht mehr tun konnte. Weil es ja auch ein Ziel war, da hinzukommen, diesen Ausweis zu bekommen und Mitglied in der Freien Deutschen Jugend zu sein, die mein Großvater in England mitgegründet hat. In Paris gab es auch Gründungsmitglieder, ebenso auf den Internierungsschiffen, die etwa um 1940 die jüdischen festgesetzten Männer, die aus England weg mussten, nach Kanada und Australien verschifft haben.
DA: 15 Verwandte deines Vaters wurden im Holocaust von Deutschen ermordet. Was wusstest du zu DDR-Zeiten über deine jüdischen Vorfahren und über deine Verwandten in Israel? In deinen Filmen erzählt deine Tante Moni – die sehr beeindruckend ist –, über welche Umwege sie Kontakt gehalten hat. Wie war das mit der jüdischen Geschichte in der DDR? Was wurde erzählt und wie?
Esther Zimmering: Was ich auch im Film „Swimmingpool am Golan“
Allerdings habe ich das „Tagebuch der Anne Frank“ schon sehr früh gelesen. Mit sieben oder acht Jahren hat mir meine Oma das Buch geschenkt. Und später habe ich in einer Theater-Gruppe Anne Frank gespielt. Ich wurde sehr früh mit dem Holocaust konfrontiert. Das war in meinem zweiten Film „Komm, wir fliegen übers Brandenburger Tor“ wichtig, und dort sage ich: „Meinen Kindern werde ich das nicht so früh erzählen, was im Holocaust mit unserer Familie passierte, und sie sollen später selbst entscheiden, wer und was sie sein wollen, und welche Traditionen sie begehen wollen.“ Weil mir das fehlte. Das war zu früh, mit sechs oder sieben Jahren zu erfahren, dass zehn, fünfzehn Familienmitglieder ermordet worden sind.
Auch politisch finde ich es interessant: Ich habe mich geschämt, jüdisch zu sein. Das habe ich im Film „Komm, wir fliegen übers Brandenburger Tor“ als Grundidee aufgegriffen. Es zeigt, aus welcher Motivation heraus ich überhaupt den Film gemacht habe. Und ich gehe der Frage nach, was mit mir als Kind eigentlich los war, dass ich mich tatsächlich geschämt habe, jüdisch zu sein, und dass unsere jüdischen Traditionen gar nicht mehr existierten. Das Schämen kam daher, dass ich von unseren 15 ermordeten Verwandten erfuhr und es nicht in meinen Kopf wollte, dass sechs Millionen Menschen ermordet worden sind, auf die schrecklichste Art und Weise. Damals, in meinem Kinderkopf, dachte ich, dass mit dem Jüdischsein etwas nicht stimmen kann und wollte damit nichts zu tun haben. Ein Glück, hat sich mein Bild vom Jüdischsein mit den Jahren verändert hat. Heute bin ich stolz darauf.
Mein Großvater hat sein Jüdischsein erst an dritter Stelle gesehen: „Als Erstes sind wir Kommunisten, als Zweites Deutsche und als Drittes Juden." Das haben sie in der DDR so beschlossen, es war nicht mehr wichtig. Aber ihm war es wichtig, dass sie eine neue Gesellschaft gründen, ohne Nazis und ohne Faschisten. Dass für ihn alle Religionen unwichtig wurden, damit hatte es bei ihm bereits als junger Mensch angefangen. Bei meiner Oma auch. Die sind atheistisch geworden, wirklich nicht gläubig, und haben zum Beispiel auch die christliche und erzgebirgische Weihnachtskultur übernommen.
Mein Opa guckte immer neidisch in die Fenster, in denen Weihnachtsbäume leuchteten – er ist in Pirna bei Dresden geboren und aufgewachsen – und wollte auch unbedingt einen haben. Das haben sie zu DDR-Zeiten dann auch so gemacht. Wir hatten alle einen Weihnachtsbaum mit echten Kerzen, den Weihnachtsmann und die erzgebirgischen Räuchermännchen. Das wurde zu unserer Kultur.
Das Jüdische war dagegen fast verschwunden. Das habe ich im Film auch aufgearbeitet. Es lag auch an meiner neuen Großmutter. Die Mutter meines Vaters, Lizzi, habe ich nie kennengelernt, weil sie bei einem Autounfall 1959 gestorben ist. Es wurde alles entfernt, was mit meiner echten jüdischen Oma Lizzi zu tun hatte. Dadurch war das Jüdische verschwunden, die Traditionen, das Essen, alles.
Bei der Filmpremiere im Jüdischen Museum fand ich sehr spannend, dass meine Tante betont hat, sie könne gar nichts mit der Aussage anfangen, eine Jüdin in der DDR gewesen zu sein. Aus ihrer Sicht ist sie heute keine Jüdin mehr. Ich gehöre zur nächsten Generation und betrachte das wiederum genau. So auch nach dem Mauerfall, als ich das erste Mal in Israel war – das war damals so toll für mich, für uns. Auch für meinen Bruder, glaube ich.
Wir waren sehr beeindruckt von unseren Verwandten, die wir zum ersten Mal erleben durften: von Lore, der Cousine meiner echten Oma, und dem unglaublichen Max Zimels, der 10.000 jüdische Menschen gerettet hat mit den Pässen, die er für junge Jüdinnen und Juden bis 1939 ausstellen durfte. Er hat in der Meinekestraße 10
Esther Zimmering am Bahnhof Friedrichstraße in Berlin vor dem Denkmal „Züge in das Leben, Züge in den Tod“ in Erinnerung an die geretteten und ermordeten Kinder in der Shoah. Mehr als 10.000 Kinder konnten bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs nach Großbritannien flüchten, viele auch in die Niederlande, Schweden, Belgien, die Schweiz, Frankreich, Palästina, Australien, Neuseeland und die USA. 1,5 Millionen Kinder wurden während der Shoah ermordet. Esther Zimmerings Großmutter Lizzi konnte 1939 als Begleiterin von jüdischen Kindern mit dem vorletzten Kindertransport von Berlin nach Großbritannien aus Nazi-Deutschland fliehen. (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2023)
Esther Zimmering am Bahnhof Friedrichstraße in Berlin vor dem Denkmal „Züge in das Leben, Züge in den Tod“ in Erinnerung an die geretteten und ermordeten Kinder in der Shoah. Mehr als 10.000 Kinder konnten bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs nach Großbritannien flüchten, viele auch in die Niederlande, Schweden, Belgien, die Schweiz, Frankreich, Palästina, Australien, Neuseeland und die USA. 1,5 Millionen Kinder wurden während der Shoah ermordet. Esther Zimmerings Großmutter Lizzi konnte 1939 als Begleiterin von jüdischen Kindern mit dem vorletzten Kindertransport von Berlin nach Großbritannien aus Nazi-Deutschland fliehen. (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2023)
DA: Deine Mutter ist nichtjüdisch, weshalb du nach der jüdischen Halacha,
Esther Zimmering: Meinen Opa habe ich als sehr schweigend und sehr krank erlebt. Er überlebte den Autounfall 1959, bei dem meine Großmutter Lizzi verstarb, aber ihm wurden fast alle seiner Knochen gebrochen. Er war über ein Jahr im Krankenhaus und wurde oft operiert. Danach ist er nie wieder so geworden, wie er vorher wohl war. Er soll ein sehr witziger, ein sehr lustiger Mensch gewesen sein und hat viele politische Geschichten erzählt und immer jiddische Arbeiterlieder gesungen. Was noch geblieben war, waren ein paar jiddische Witze. Er konnte wirklich gut erzählen. Das habe ich mit ihm erlebt. Mein Vater kann auch diese schönen, jüdischen Witze erzählen und jiddische Lieder singen.
Wir haben auch Lin Jaldati
Meine Eltern haben später in den 80ern versucht, in den jüdischen Kulturverein „Wir für uns“
Esther Zimmering vor dem Jüdischen Museum Berlin, für das sie ihren Kurzfilm Komm, wir fliegen übers Brandenburger Tor gedreht hat. Der Film wurde 2023 im Rahmen der Ausstellung „Ein anderes Land. Jüdisch in der DDR“ erstmalig gezeigt. Die bpb hat die Produktion des Films gefördert. (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2023)
Esther Zimmering vor dem Jüdischen Museum Berlin, für das sie ihren Kurzfilm Komm, wir fliegen übers Brandenburger Tor gedreht hat. Der Film wurde 2023 im Rahmen der Ausstellung „Ein anderes Land. Jüdisch in der DDR“ erstmalig gezeigt. Die bpb hat die Produktion des Films gefördert. (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2023)
Bei Karsten Troyke
Mein Tagebuch habe ich, nach dem Mauerfall, „Goldener Stern“ genannt und auf jede Seite einen Davidstern in Gold gemalt. Das Jüdische bekam eine andere Bedeutung. Es hatte auf einmal etwas sehr Positives für mich. Ein Glück. Es gab auf einmal meine israelischen Verwandten, israelische Musik und Kibbuzim, die sozialistisch funktionierten. Und es gab ein Land, wo jüdische Menschen hin können, wenn sie verfolgt werden. Deswegen ist es so wichtig, dass es dieses Land gibt. Davon bin ich absolut überzeugt.
Was war jüdische Kultur in der DDR? In der Familie Zimmering hat es etwas Tieferes, Intellektuelleres gegeben. Lea Grundig
DA: In deinem Film „Swimmingpool am Golan“ von 2019 erzählst du die Geschichte, wie du mit deiner Stief-Großmutter Margit Zimmering im November 1989 nach Westberlin gegangen bist, weil du sehen wolltest, wie es dort ist. Wie war für die zwölfjährige Esther der erste Eindruck vom Westen?
Esther Zimmering: Der Hintergrund der Geschichte ist, dass mein Vater ab den 80er-Jahren beim DDR-Militär-Geheimdienst als Arzt und Offizier gearbeitet hat – worüber er heute offen spricht. Mein Bruder und ich durften am Tag des Mauerfalls nicht „rüber in den Westen“ – als die ganze Klasse und die ganze Schule nach Westberlin gegangen ist –, und so waren wir alleine in der Schule, weil niemand mehr da war, außer eine oder zwei Lehrerinnen vielleicht.
Wir durften dann drei Tage später nach Westberlin. Mein Vater noch später. Zum Glück wurde es eine friedliche Revolution. Aber ich war dann zum ersten Mal mit meiner Stief-Oma Margit, der zweiten Frau meines Opas, drüben. Wir haben an der Grenze Kaugummis geschenkt bekommen. Die habe ich sofort weggeworfen, weil ich Angst hatte, dass da Drogen drin sind. Meine Idee war: „Nichts annehmen, weil es im ‚Westen‘ Drogen gibt.“ Dann kamen wir zu einem Kino, und es stellte sich heraus – wie ich das im „Swimmingpool am Golan“ erzähle –, dass das ein Porno-Schuppen war. Und dann sind wir nicht mehr rausgekommen, weil es zwei Etagen waren und wir komplett durchgehen mussten, weil alle von hinten drängelten. Meine Oma meinte: „Erzähle es nicht dem Papa, dass wir da drin waren.“ Diese Szene ist immer ein großer Lacher im Kino.
Als wir den Film gedreht haben, bin ich zu meiner alten Schule, „Judith Auer“, gefahren und habe den Klassenraum so vorgefunden, wie er im Film zu sehen ist. Das ist nicht inszeniert, sondern der war komplett leer, und es ist in dieser Schule niemand mehr gewesen, weil sie umgebaut oder entkernt wurde. Das passte sehr gut zu der Erzählung, in diesen leeren Klassenraum zu kommen.
DA: In dem Film berichtest du auch aus diesem leeren Klassenzimmer über erste rechtsradikale Äußerungen, die Klassenkameraden in der Schule losgelassen haben. Wussten deine Mitschülerinnen und Mitschüler, dass du einen jüdischen Vater hast? Änderte sich da etwas im Verhalten nach der sogenannten Wende dir gegenüber?
Esther Zimmering: Diese Szene ist ein dramaturgischer Wendepunkt im Film. Denn ich erzähle direkt davor die Geschichte mit meiner Oma in diesem „Kino“. Es ist relativ schnell passiert, dass zuvor vermeintlich linke Leute von einer Nacht auf die andere, oder innerhalb einer Woche, zu Nazis wurden. So war das bei zweien aus meiner Klasse. Es war eine Schock-Situation. Weil auch mein Name, Esther, jüdisch ist und irgendwie bekannt war, dass ich aus einer jüdischen und linken Familie komme. Und dann wurde ich mit angegriffen.
Bei einem Workshop mit den Schülerinnen und Schülern, an dem ich mich mit meinem neuen Film beteiligt habe, wurde ich darauf angesprochen, ob ich mal antisemitisch angegriffen wurde. Ich habe geantwortet: „Nicht von arabischen oder muslimischen Menschen, sondern tatsächlich von Nazis.“ Da meinten die: „Was? Okay…“ Dann habe ich die gleiche Geschichte noch in einer anderen Schule erzählt und wurde gefragt: „Das gab’s? Dass da Neo-Nazis rausschossen aus jeder Ecke?“
Es gab auch eine Situation, dass ein Nazi in Köpenick auf mich zukam und meinte: „Du bist halbjüdisch? Ich habe noch nie einen jüdischen Menschen erlebt.“ Und er holte einen Hakenkreuz-Anstecker raus und sagte: „Okay, dann schmeiße ich den jetzt in die Spree.“ Und er hat ihn dann vor meinen Augen in die Spree geworfen. Das war ziemlich beeindruckend. Aber so war Köpenick damals: Das war rechts und links. Die NPD-Zentrale fast neben dem Haus der Jugend, wo sich Linke trafen. Die haben sich andauernd bekriegt. Wir sind zum Beispiel auch während des Golf-Kriegs auf die Straße und haben dagegen demonstriert. Da wurde ich fast überfahren beim Halten eines Banners gegen den Krieg.
Raina Zimmering - die Mutter
DA: Einige Verwandte deines Vaters Klaus – so heißt es in deinem aktuellen Film – haben ihm vorgeworfen, eine „Schickse“ – eine Nichtjüdin – geheiratet zu haben. Wie war das für deine Mutter?
Esther Zimmering: Was im Film „Komm, wir fliegen übers Brandenburger Tor“ nicht vorkommt, ist, dass - meine Mutter darunter gelitten hat. Der ging es nicht so gut in der Familie, weil sie sich ausgeschlossen gefühlt hat. Das ist merkwürdig, weil zuerst jüdische Menschen in Deutschland ausgeschlossen wurden, später in England war es auch eine Gruppe für sich, und dann passierte es auch ihnen selbst, dass sie andere ausschlossen. In der Dramaturgie des Films geht es darum, darzustellen wie sich Zugehörigkeit und Ausgeschlossensein zeigt und die Identität bestimmt.
Dazu gibt es eine kleine Geschichte: Früher unterschrieb man doch Schecks. Meine Mutter musste immer mit „Zimmering“ unterschreiben, und jeder in der DDR hat gefragt: „Sind Sie verwandt mit dem Max Zimmering?“ Der sehr bekannt war in der DDR, alle mussten in der Schule seine Gedichte auswendig lernen. Und das ging ihr wahnsinnig auf den Nerv. Sie wollte eigentlich ihren alten Namen „Pinkert“ wiederhaben, weil sie das nicht mehr ertragen konnte.
DA: Deine Mutter hat selbst eine beachtliche Karriere hingelegt: Sie ist Historikerin, Politologin und Soziologin, war von 2007 bis 2013 Professorin für sozio-kulturelle Transformationsforschung und Leiterin der Abteilung für politische und Entwicklungsforschung an der Johannes Kepler Universität (JKU) Linz. Wie war ihr Weg dorthin?
Esther Zimmering: Meine Mutter hat sich ihre eigene Identität aufgebaut. Weil sie Lateinamerikanistik studieren wollte, was es aber in den 70er-Jahren in der DDR so nicht gab, hat sie Geschichte und Ethnologie studiert und später Politikwissenschaften. Nach dem Mauerfall hat sie sehr viel mit Lateinamerika zu tun gehabt und war viel in Mexiko und Argentinien. Zur Wendezeit durfte sie endlich ihre erste große Argentinienreise antreten. Sie durfte lange nicht ins westliche Ausland, was vielleicht mit dem Beruf meines Vaters zu tun hatte. Ich finde, sie ist eine starke Frau, weil sie sehr viel studiert, gearbeitet und Sprachen gelernt hat, trotz Kindern. Sie ist Doktorin und Professorin geworden und war einfach immer sehr fleißig.
Sie lernte alleine zu Hause mit einem Tonband Spanisch, abends, nachdem sie uns Kinder zu Bett gebracht hatte. Mein Vater war beruflich sehr viel eingespannt, und das ist schon eine beachtliche Arbeit gewesen, die sie geleistet hat. Nach dem Mauerfall wurde sie an der Harvard-Universität in Boston aufgenommen. Dort haben sie Wissenschaftlern aus dem Sozialismus den Kapitalismus erklärt und ihnen beigebracht, was sie lernen müssen und was anders ist. Da war sie ein halbes Jahr in den USA.
Sie bekam später in den 2000er-Jahren eine Professur in Kolumbien. Aber von dort musste sie zurückkommen, weil es in Bogota zu gefährlich wurde. Zu dem Zeitpunkt wurden viele Menschen dort ermordet – zwei ihrer Kollegen, als sie dort war. Und dann ist sie nach einem halben Jahr zurückgekommen und hat in Linz eine Professur angenommen. Diese Argentinien-Reise während der Wendezeit war sehr ausgedehnt.
Im Nachhinein finde ich, dass es für uns relativ viel war in so kurzer Zeit: der Mauerfall ohne meine Mutter, das war schon schwierig für uns Kinder. Ich hätte auch nicht gedacht, dass mein Vater in dem Film so darauf reagiert. Dass er sagt, dass es gar nicht so leicht gewesen sei, das alleine zu erleben. Er hatte in seiner Wahrnehmung seine Heimat verloren, von einem Tag auf den anderen . Der Satz von meinem Bruder dazu ist auch spannend: „Meine Mutter ist aus einem Land rausgegangen und nie wieder in dieses Land zurückgekommen, sondern in ein komplett anderes Land.“
DA: Deine Tante Moni ist auch eine sehr starke Frau. Sie hat als Simultanübersetzerin in der DDR fürs Zentralkomitee der SED gearbeitet und war viel im Ausland unterwegs. Welche Erinnerungen hast Du daran?
Esther Zimmering: Tante Moni war Simultandolmetscherin Französisch/Deutsch. Russisch konnte sie natürlich auch gut. Sie war unentwegt auf Reisen. Als ich den Workshop in der Schule hatte, kam die Erinnerung als Bild wieder: Moni brachte immer Früchte von diesen Reisen mit. Sie kam mit ihren Koffern an und holte eine Ananas heraus, eine Avocado und eine Kokosnuss. Avocados und Kokosnüsse gab es gar nicht zu DDR-Zeiten. Wir wussten überhaupt nicht, was das ist. Und dann hat sie eine Soße angerichtet und mit der Avocado gemischt – ich kann mich genau an den Geschmack erinnern. Es war sehr speziell, sie als Kind zu besuchen – sie lebte am Leninplatz,
Esther Zimmering bei Dreharbeiten für den Kurzfilm Komm, wir fliegen übers Brandenburger Tor im Gespräch mit ihrer Tante Moni. (© Esther Zimmering, Axel Schneppat, 2023)
Esther Zimmering bei Dreharbeiten für den Kurzfilm Komm, wir fliegen übers Brandenburger Tor im Gespräch mit ihrer Tante Moni. (© Esther Zimmering, Axel Schneppat, 2023)
Schauspielstudium und Karriere
DA: Du selbst hast an der Ernst-Busch-Hochschule Schauspiel studiert. Was hat dich dazu inspiriert? Dein Bruder ist auch Schauspieler geworden. Wer war dein Vorbild?
Esther Zimmering: Eigentlich wollte ich zu DDR-Zeiten LPG-Bäuerin werden. Was mein Bruder als Kind werden wollte, weiß ich gar nicht. Ich glaube, Kosmonaut. Dann kam die Wendezeit und unsere Träume sind erstmal zusammengebrochen, und wir lernten, andere Wünsche zu entwickeln.
Ich habe dann auch in einer West-Theatergruppe gespielt und war nun in zwei Theatergruppen. Mit zwölf habe ich Anne Frank in der Ost-Theatergruppe gespielt, und in der West-Theatergruppe spielte ich in „1789“ von Ariane Mnouchkine
Ab diesem Moment wollte ich Schauspielerin werden. Mein Bruder sagt, dass er zuerst Schauspieler werden wollte, aber meiner Meinung nach bin ich zuerst auf diese Idee gekommen. David hat dann in einer Möbelfabrik in Köpenick Theater gespielt. Ich habe mein Abitur gemacht und dachte, ich sollte vielleicht Ärztin werden, weil sich so die Familiengeschichte fortschreiben würde. Und dann wurde ich an der Schauspielschule Ernst Busch sofort nach der ersten Aufnahmeprüfung (was selten passiert) aufgenommen, und das war mein Dilemma: Ich musste und wollte sofort dort studieren, ohne ein Auslandsjahr oder eine Pause nach dem Abitur.
Heutzutage würde ich empfehlen, erstmal raus ins Leben zu gehen und danach das Schauspielstudium zu beginnen. Für mich war es zu früh. Das Medizinstudium und auch der Traum, in Israel in einem Kibbuz zu leben, rutschten mit dem Schauspielstudium in den Hintergrund. Auf der Schauspielschule ging es zum Teil zu wie in einer Armee. Klar, denn die Schule galt als die „beste“ Schauspielschule von Deutschland, die einen sehr guten Ruf hatte, aber auch als sehr hart galt. Und so habe ich dort angefangen zu studieren und mich gegen den Arztberuf entschieden.
Ein Vorbild war für mich damals Sophie Marceau. „La Boum“ war zum Niederknien. Den Film habe ich mir hundert Mal angeguckt. Die Musik kann ich auswendig. Am Theater gefiel mir „Der kaukasische Kreidekreis“ von Brecht richtig gut. Das war noch eine alte DDR-Inszenierung am Berliner Ensemble. Da bin ich mit offenem Mund raus und wollte einfach dort auf der Bühne mitmachen. In meinen Tagebüchern habe ich gefunden, dass ich „Filmschauspielerin“ werden wollte.
Mein Ideal hat mich weit getragen, und ich habe wirklich sehr viel gespielt, auf Bühnen und auch in Filmen. Ich war mit 21 Jahren in Neuseeland und habe einen Dreiteiler für das ZDF gedreht. Da habe ich neben Anna Loos und Katja Studt eine Deutsche gespielt, die in den Fünfzigerjahren nach Neuseeland auswandert. Wir haben ein halbes Jahr in Neuseeland gedreht und gelebt und noch mal ein Vierteljahr in Prag. Für die Rolle habe ich dann auch einen Preis bekommen.
DA: Deine Filmografie ist umfangreich. Hast du auch Jüdinnen in einem Film verkörpert/gespielt?
Esther Zimmering: In Wien durfte ich in dem Mehrteiler „Mutig in die neuen Zeiten“ unter der Regie von Harald Sicheritz eine Jüdin spielen. Er ist ein bekannter Regisseur in Österreich. Lange Zeit habe ich überhaupt keine Jüdin verkörpert. Ich glaube, dass dadurch auch die Idee zu dem Film „Swimmingpool am Golan“ gewachsen ist. Weil nie die jüdische Geschichte angesprochen wurde, außer bei „Anne Frank“ und dann in „Mutig in die neuen Zeiten“. Ich war mir sicher, dass ich diese Geschichte rausbringen muss. Das liegt so tief drin, und ich bin über zwanzigmal nach Israel geflogen und wollte nicht mehr meine jüdischen Wurzeln verleugnen. Ich wollte das aufbrechen, was sich über meine Familie gelegt hatte. Ich habe immer wieder die israelische Familie besucht. Diese Familiengeschichte, die immer im Hintergrund war, musste einfach raus.
Dadurch ist dann die Idee zu meinem ersten Dokumentarfilm entstanden. Aber auch über Lores Mann, Max Zimels, weil ich die Erzählungen so stark fand von ihm; wie er über die Entstehung des Zionismus redete, das war beeindruckend – ganz im Norden von Israel, im Kibbuz, an den Golanhöhen. Dieser Kibbuz war kommunistisch und musste leider nach zwanzig Jahren aufgeben. Ich fand es so toll in dem Kibbuz. Da erzählte mein Onkel auf Deutsch die ganzen Rettungsgeschichten und über seine zionistische Arbeit . Und ich dachte, dass ich das weitertragen muss. Ein Film über ihn war meine erste Idee. Leider verstarb er zu früh, sodass ich die nächsten beiden Generationen über ihn erzählen lasse.
DA: Nochmal zurück zu dir als Schauspielerin: Was war deine Lieblingsrolle und warum?
Esther Zimmering: Das war die Geschichte, die wir in Neuseeland gedreht haben. Die hieß: „Der Liebe entgegen“. Ich kam vom Theater, aus Senftenberg. Da hatte ich vorher ein Jahr gespielt, und in Dessau, nach der Schauspielschule. Ich habe immer sehr, sehr tief recherchiert. Das tue ich gerne für meine Rollen und mache dann auch die Arbeit, die die Filmfigur macht, denke mir Bewegungsabläufe aus, verinnerliche ihre „Gedanken“ und arbeite stark an der Dramaturgie. Die Figur hat zum Beispiel in der Wäscherei gearbeitet, ich bin dann in Köpenick in eine alte Wäscherei gegangen und habe dort gearbeitet – und auch 50er-Jahre-Musik gehört, tagein, tagaus.
„Kleine Schwester“ war auch eine meiner Lieblingsrollen, Regie führte Sabine Derflinger, eine Österreicherin. Da habe ich eine Neonazi-Braut gespielt, mit Maria Simon und Benno Fürmann zusammen. Dafür wurden wir damals auch prämiert und haben einige Preise gewonnen. Ich liebe es, Figuren zu spielen, die weiter von mir weg sind und nicht so nah an mir dran. Deswegen ist das gar nicht so falsch gewesen, dass ich kaum Jüdinnen gespielt habe. Weil das einfacher war. Nun fehlt noch eine Figur aus einer Armee oder der Polizei, danach suche ich gerade. Wenn ich weiter von der Figur entfernt bin, kann ich leichter die Grenzen ziehen.
Dieser Neuseeland-Film war ja ein Dreiteiler, und ich habe für jede einzelne Szene einen Bogen gemacht. Wie ist die Spielsituation? Was fühlt die Figur? Warum macht sie es? Was passiert körperlich und psychisch? Ich habe sehr genau gearbeitet. Das mag ich sehr beim Schauspielen. Zuletzt durfte ich in der Serie „Therapy“ spielen und habe eine kleinere Rolle sehr komödiantisch gespielt. Das kam sehr gut an und hat riesigen Spaß gemacht an der Seite guter DarstellerInnen, eines guten Buches und klugen Regisseuren. Man kann die Serie auf Amazon Prime sehen.
Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte, Film- und Ausstellungsprojekte
DA: Über die Stiftung Zurückgeben hast du die Förderung für ein Ausstellungsprojekt im FEZ erhalten. Wie kamst du zu dieser Idee?
Esther Zimmering: Die Ausstellung heißt „Susi und wir “ und ist für Kinder ab zehn Jahren geeignet. Sie war vom 2. Januar bis 22. Dezember 2023 im FEZ zu sehen. Danach soll sie als Wanderausstellung an verschiedenen Orten in Deutschland, Österreich und auch in der Schweiz gezeigt werden. Dafür habe ich drei Interviews gemacht. Eins mit Rabbi Rothschild
Das war ursprünglich ein Buch
Die Menora ist das einzige jüdische Relikt, das Esther Zimmering zu DDR-Zeiten besaß. Esther Zimmering: „Mein Tagebuch habe ich, nach dem Mauerfall, „Goldener Stern“ genannt und auf jede Seite einen Davidstern in Gold gemalt. Das Jüdische bekam eine andere Bedeutung. Es hatte auf einmal etwas sehr Positives für mich.“ (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2023)
Die Menora ist das einzige jüdische Relikt, das Esther Zimmering zu DDR-Zeiten besaß. Esther Zimmering: „Mein Tagebuch habe ich, nach dem Mauerfall, „Goldener Stern“ genannt und auf jede Seite einen Davidstern in Gold gemalt. Das Jüdische bekam eine andere Bedeutung. Es hatte auf einmal etwas sehr Positives für mich.“ (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2023)
DA: Mit dem Film „Komm, wir fliegen übers Brandenburger Tor“, eine Auftragsarbeit für das Jüdische Museum und unterstützt von der bpb, beschreibst du das Leben deiner jüdischen Familie in der DDR. Den Film erzählst du so, dass er sich für Schülerinnen und Schüler im Alter ab zwölf Jahren eignet. Warum wolltest du einen Film für Schülerinnen und Schüler machen?
Esther Zimmering: Dadurch, dass der Zugang wieder sehr persönlich ist, ist es ganz gut, wenn man über die Familiengeschichte in das Thema reinkommt. Die Schülerinnen und Schüler waren während unserer ersten Workshops zum Film sehr aufmerksam, was ich toll fand. Ich habe mich während der Filmvorführung immer wieder umgeguckt und gesehen, dass sie sehr konzentriert waren. Nach dem Film stellten sie auch gute Fragen und wollten dann – witzigerweise beide Klassen – wissen, ob ich jüdisch bin oder nicht. Und über das Jüdischsein und die DDR-Geschichte diskutierten wir dann.
DA: Bei der Vorstellung des Films sagtest du auch, dass du eine andere Sicht auf die Bundesrepublik hast als deine Eltern, die beide in der DDR gute Jobs hatten und deren Traum von einem Leben im Sozialismus – in einem besseren Deutschland – 1989 untergegangen ist. Wie war das, was wurde in dieser Zeit am Küchentisch der Familie Zimmering diskutiert?
Esther Zimmering: Ich glaube, da waren unglaublich viele Heimatverlustängste, die aufkamen. Mein Bruder sagt es so schön in dem Interview heraus: „Oh der Mauerfall, das kann nichts Gutes bedeuten.“ Ich finde, das ist der Satz der Familie. Man sieht meinen Opa in einer kurzen Videofilmaufnahme von 1990 in dem neuen Film – er sitzt vollkommen zusammengesackt da. Für ihn und für meine Familie ist alles, für das sie gekämpft und gelebt hatten, komplett zusammengebrochen – all ihre Ideale. Mein Opa war nur noch eine leere Hülle und ist dann relativ schnell verstorben.