Einführung
Die Verfassungen des Bundes und der Länder bilden die rechtliche Grundlage des staatlichen Lebens in Deutschland. Dazu zählen besonders die Grundrechte und die Staatsorganisation.
Was in der Verfassung steht, ist also wichtig – und wird auch als wichtig angesehen. Der jeweilige Verfassungsänderungsgesetzgeber kann seine konkreten Anliegen verfassungsgesetzlich umsetzen. Er ist in der Lage, neben verfassungsrechtlichen Notwendigkeiten der Anpassung beziehungsweise Reaktionen auf die Rechtsprechung der Verfassungsgerichte durchaus auch aktuelle gesellschaftspolitische Ziele zu setzen. Beispielhaft sei der Umweltschutz des Artikels 20a des Grundgesetzes (GG) genannt. 1994 in die Verfassung aufgenommen,
Erst seit Kurzem treten die Verfassungen einiger Bundesländer dem Antisemitismus entgegen, indem eine staatliche Verpflichtung zu einem Anti-Antisemitismus verfassungsrechtlich verankert ist. Vier Länder haben (Stand Dezember 2023) ihre Verfassungen dergestalt geändert.
Die verfassungsrechtliche Lage im Bund
Das Grundgesetz enthält keine Bestimmung, die sich explizit mit Antisemitismus beschäftigt oder einen staatlichen Umgang hiermit regelt.
Die verfassungsrechtliche Lage in den Ländern
Auch in den Ländern bedarf es regelmäßig für eine Änderung der Verfassung einer (besonders qualifizierten) Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament (siehe zum Beispiel Artikel 79 Satz 2 Verfassung des Landes Brandenburg). Ebenso gilt eine Ewigkeitsgarantie, die hinsichtlich bestimmter Fundamentalwerte als absolute Änderungsschranke für die Einführung von Antisemitismusbestimmungen jedoch keine Rolle spielt.
Mittlerweile haben vier Bundesländer Antisemitismusklauseln in ihre Verfassungen aufgenommen. Sie haben durchaus unterschiedliche verfassungsrechtliche Lösungen entwickelt, was – wie so oft – die föderale Breite eines rechtlich möglichen Handelns in Deutschland eindrucksvoll zeigt.
Sachsen-Anhalt
Sachsen-Anhalt hat als erstes Bundesland eine Antisemitismusbestimmung geschaffen.
Die Wiederbelebung oder Verbreitung nationalsozialistischen Gedankenguts, die Verherrlichung des nationalsozialistischen Herrschaftssystems sowie rassistische und antisemitische Aktivitäten nicht zuzulassen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt und Verantwortung jedes Einzelnen.
Die Norm wird wie folgt begründet:
Brandenburg
Der Brandenburger Landtag hat am 23. Juni 2022 ebenfalls eine Antisemitismusbestimmung in die Verfassung aufgenommen.
Artikel 7a Verfassung des Landes Brandenburg (Schutz des friedlichen Zusammenlebens)
(1) Das Land schützt das friedliche Zusammenleben der Menschen und tritt Antisemitismus, Antiziganismus
(2) Das Land fördert das jüdische Leben und die jüdische Kultur.
In der Gesetzesbegründung heißt es dazu:
Hamburg
Eine dritte Antisemitismusklausel findet sich seit März 2023 in der Hamburger Verfassung.
Präambel Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg Vielfalt und Weltoffenheit sind identitätsstiftend für die hanseatische Stadtgesellschaft. In diesem Sinne und mit festem Willen schützt die Freie und Hansestadt Hamburg die Würde und Freiheit aller Menschen. Sie setzt sich gegen Rassismus und Antisemitismus sowie jede andere Form gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit ein. Sie stellt sich der Erneuerung und Verbreitung totalitärer Ideologien sowie der Verherrlichung und Verklärung des Nationalsozialismus entgegen.
Die Begründung dazu lautet:
Bremen
Ebenfalls im März 2023 hat sich auch die Bremer Bürgerschaft als vorerst letztes Landesparlament eine Antisemitismusklausel per Verfassungsänderung gegeben.
(1a) Demokratiefeindlichen Bestrebungen, insbesondere der Wiederbelebung, Verherrlichung oder Rechtfertigung der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft, sowie rassistischen, antisemitischen und sonstigen menschenverachtenden Aktivitäten entschieden entgegenzutreten, ist Verpflichtung aller staatlichen Organisation und Verantwortung jeder und jedes Einzelnen. Die Freie Hansestadt Bremen fördert die Entwicklung einer offenen, vielfältigen und toleranten Gesellschaft sowie eines respektvollen und friedlichen Miteinanders.
Folgende Gesetzesbegründung findet sich hierzu:
Weitere Bestrebungen
Auch in anderen Ländern wird die Einführung einer verfassungsrechtlichen Antisemitismusbestimmung diskutiert.
Eine erste Analyse der Antisemitismusklauseln
Alle vier landesverfassungsrechtlichen Regelungen sind eindeutig als Staatsziele – und nicht als zwingende Grundrechte – formuliert. Das jeweilige Land mit seiner Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung wird in die Pflicht genommen. Es wird mit bindender Wirkung für die Staatstätigkeit die fortdauernde Erfüllung und Beachtung bestimmter Aufgaben vorgeschrieben. Diese programmatisch-appellativen Vorgaben beinhalten für den umsetzenden Staat einen weiten politischen Gestaltungsspielraum.
Unterschiedlich ist die systematische Platzierung der Bestimmungen in den jeweiligen Verfassungen. In Sachsen-Anhalt und Bremen findet sich die Bestimmung im hinteren Teil des Verfassungstextes. Der ergänzte Artikel 7a Verfassung des Landes Brandenburg (BbgVerf.) ist verfassungssystematisch an herausgehobener Stelle fixiert: Die Regelung findet sich zwischen der Menschenwürde des Artikel 7 BbgVerf. und dem Recht auf Leben nach Artikel 8 BbgVerf. An noch prominenterer Stelle, bereits in der Präambel, hat Hamburg die Staatszielbestimmung des Anti-Antisemitismus eingeordnet.
Nicht einheitlich zeigen sich die konkreten Formulierungen. Kommt der Verfassungstext in Brandenburg knapp, einfach und fast schon lakonisch daher, sind die Formulierungen in den anderen drei Ländern deutlich umfangreicher und grammatikalisch komplizierter ausgefallen; besonders der Bremer Text mutet dabei fast schon überladen an.
In Sachsen-Anhalt („Verpflichtung aller staatlichen Gewalt und Verantwortung jedes Einzelnen“) und in Bremen („Verpflichtung aller staatlichen Organisation und Verantwortung jeder und jedes Einzelnen“) findet sich eine augenfällige – und problematische – Nähe zur Menschenwürdegarantie des Artikel 1 Absatz 1 GG („Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“). Die Menschenwürdegarantie ist ein Grundrecht, das unter keinen Umständen (!) eingeschränkt werden darf. Jeder Eingriff in den Schutzbereich ist also rechtswidrig. Die beiden Regelungen verwenden eine noch stärkere Formulierung, da nicht nur der Staat, sondern auch der einzelne Bürger in die Pflicht genommen wird. Eine solche Formulierung erscheint daher als sehr, eigentlich als zu weitgehend und auch in weiten Teilen tautologisch. Antisemitismus betrifft die Mehrheit der Menschen zumindest nicht direkt. Die Menschenwürdegarantie als Basis des verfassungsrechtlichen Grundrechtsschutzes hingegen schützt unmittelbar alle Menschen. Sie wird durch die Ausweitung auf antisemitische Aktivitäten und durch die Vermischung von Grundrechtsberechtigung und Grundrechtsverpflichtung mittelbar verwässert und entwertet.
Einfachgesetzliche Regelungen
Der Schutz vor Antisemitismus im weiteren Sinne ist vielfach in einfachen Gesetzen des Bundes und der Länder fixiert. Exemplarisch seien einige genannt. Im Bund können gemäß Paragraph 15 Absatz 2 des Gesetzes über Versammlungen und Aufzüge Versammlungen verboten oder mit Auflagen versehen werden, wenn sie an einem Ort stattfinden, der als Gedenkstätte von historisch herausragender, überregionaler Bedeutung an die Opfer der menschenunwürdigen Behandlung unter der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft erinnert. Paragraph 86 Absatz 1 des Strafgesetzbuchs (StGB) stellt das Verbreiten von NS-Propagandamitteln und Paragraph 130 Absätze 3 und 4 StGB die Volksverhetzung hinsichtlich der NS-Herrschaft besonders unter Strafe. In Paragraph 46 Absatz 2 Satz 2 StGB wird festgelegt, dass antisemitische Motive grundsätzlich strafverschärfend wirken.
In Berlin gelten Beschränkungen bei Versammlungen, die zu Hass oder Gewalt gegen religiöse Gruppen aufrufen oder einen nationalsozialistischen Bezug aufweisen (Paragraph 14 Absatz 2 des Versammlungsfreiheitsgesetzes). In Brandenburg untersagt das Gräberstätten-Versammlungsgesetz NS-Gedenkversammlungen, insbesondere in Halbe, Ravensbrück und Sachsenhausen. In Nordrhein-Westfalen sind Beschränkungen und Verbote für Versammlungen an NS-Orten zulässig (Paragraph 19 Absatz 1 des Versammlungsgesetzes).
Der Bund und alle Länder (bis auf Bremen) haben überdies eigene Antisemitismusbeauftragte eingesetzt. Bei ihnen handelt sich um unabhängige Stellen, deren Aufgabe die Bekämpfung antisemitischer Haltungen und Äußerungen jeglicher Form sowie die Beratung hiervon betroffener Menschen ist.
Verfassungspolitische Erwägungen
Die bisherigen verfassungsrechtlichen Feststellungen sollen im Folgenden mit verfassungspolitischen Erwägungen zur Erforderlichkeit einer staatlichen Anti-Antisemitismusverpflichtung ergänzt werden. Angesichts quantitativ wie qualitativ signifikant anwachsender antisemitischer Vorfälle kann eine entsprechende verfassungsrechtliche Ergänzung als politisch sinnvoll und letztlich sogar geboten erscheinen. Das seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 steigende antisemitische Grundrauschen in Deutschland ist nicht zu überhören.
Für eine wirksame Strategie gegen Antisemitismus kann eine entsprechende Bestimmung eine wirkmächtige Basis bilden, auf der sich mithilfe eines verpflichtenden Staatsziels aufbauen lässt. Es handelte sich in diesem Fall um einen klaren Handlungsauftrag an den Staat – und damit um weit mehr als eine bloße Symbolpolitik. Mittel- bis langfristig ist mit erheblichen und substanziellen gesetzlichen Fernwirkungen zu rechnen. Die verpflichtende, wenn auch nicht grundrechtlich geltend zu machende Folge wäre eine dauerhafte Bindung des einfachen Gesetzgebers, die auch von zukünftigen einfachen Mehrheiten nicht ohne Weiteres wieder rückgängig gemacht werden könnte.
Auch die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung könnte zukünftig konkretisierend tätig werden und den Norminhalt auslegen und entwickeln; bisher gibt es keine entsprechende Judikatur. Der Blick auf die struktur- und wesensverändernden Folgen des Naturschutzes in Artikel 20a GG zeigt deutlich, dass zeitlich unbefristet Wirkung entfaltet wird. Die Fixierung einer Antisemitismusklausel in der Verfassung des Bundes oder eines Landes verschafft dieser Regelung als Staatszielbestimmung eine besondere Dignität und Gravitas. Normenhierarchisch oben angesiedelt, geht sie via Gesetzesvorrang dem anderen nationalen Recht vor. Allgemein formuliert ist sie flexibel und entwicklungsoffen und kann ohne Weiteres einfachgesetzlich konkretisiert und ausgefüllt werden.
Der Brandenburger Landtag etwa hat im Juni 2022 zur Bekämpfung des Antisemitismus und zur Förderung des jüdischen Lebens in Brandenburg einen entsprechenden Beschluss gefasst.
die jüdische Geschichte im Hinblick auf Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur weiterhin zu würdigen und deutlich zu machen, welche Bedeutung jüdisches Leben für die brandenburgische, deutsche und europäische Gesellschaft hatte und bis heute hat. So sind insbesondere universitäre und außeruniversitäre Forschungs- und Ausbildungsangebote weiterhin zu unterstützen;
zielgruppenspezifische Aufklärungskampagnen zu etablieren und das zivilgesellschaftliche Engagement gegen Antisemitismus in all seinen Erscheinungsformen weiterhin umfassend zu fördern und zu unterstützen;
die gute Zusammenarbeit zwischen Polizei- und Strafverfolgungsbehörden, dem Verfassungsschutz, den jüdischen Gemeinden, der Fachstelle Antisemitismus und der Koordinierungsstelle „Tolerantes Brandenburg/Bündnis für Brandenburg“, zum Beispiel im Rahmen der jährlichen Sicherheitsgespräche, aufrechtzuerhalten und weiter auszubauen;
die Antisemitismusprävention weiterhin als Daueraufgabe der schulischen und außerschulischen politischen Bildungsarbeit zu verstehen und zu verstetigen und hier der Wissensvermittlung über das heutige jüdische Leben in Brandenburg entsprechend Raum zu geben;
die Gedenkstättenarbeit im Land Brandenburg zu unterstützen und angemessen auszustatten.
Im November 2023 fasste der Brandenburger Landtag einen weiteren Beschluss („Antisemitismus entschlossen entgegentreten – Jüdisches Leben in Brandenburg schützen“)
die bestehenden Konzepte zur Bekämpfung des Antisemitismus zu prüfen und gegebenenfalls an die aktuellen Entwicklungen anzupassen;
die Strategien und Maßnahmen zum Schutz jüdischer Einrichtungen weiterhin fortlaufend zu prüfen und bei Bedarf anzupassen, um deren effektiven Schutz zu gewährleisten und das Sicherheitsgefühl unserer jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger zu stärken;
der Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus der Vergangenheit und der Gegenwart in den Schulen genügend Raum und Zeit zu verschaffen;
die Erwachsenenbildung im Bereich der Aufklärung über Antisemitismus weiter zu stärken.
Beide parlamentarischen Beschlüsse verdeutlichen anschaulich und beispielhaft (aber nicht abschließend!), in welcher Breite und Tiefe das Staatsziel eines Anti-Antisemitismus umgesetzt werden kann.
Fazit und Ausblick
Antisemitismusklauseln stellen sich zunächst als verfassungsrechtlich unauffällige Neuregelungen dar. Soweit sich in den Parlamenten verfassungsändernde Mehrheiten finden, bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen eine solche ergänzende Staatszielbestimmung. Die drei staatlichen Gewalten der Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung sind auf Verfassungsebene beständig aufgefordert, Antisemitismus effektiv zu bekämpfen. Antisemitismusbestimmungen können als klare verfassungsrechtliche Wegmarke Staat und Gesellschaft die richtige Richtung weisen. Das wäre gut für Jüdinnen und Juden in Deutschland – und für Gesellschaft und Staat insgesamt.
Zitierweise: Norbert Janz, "Anti-Antisemitismus als neue Verfassungsräson? Über Antisemitismusklauseln in deutschen Verfassungen zum Schutz jüdischen Lebens und der freiheitlichen parlamentarischen Demokratie", in: Deutschland Archiv, 22.12.2023, Link: www.bpb.de/544088