Die Ausstellung „Ein anderes Land. Jüdisch in der DDR“ im Jüdischen Museum Berlin
Sharon Adler: Du bist eine von zwölf Protagonist*innen, deren individuelle Erfahrungen im Ausstellungsbereich „Stimmen aus der DDR. Jüdische Perspektiven auf das Leben und das politische System“ zu Wort kommen. Warum ist diese Ausstellung deiner Meinung nach wichtig? Denkst du, dass diese Ausstellung überfällig war?
Ruth Zadek: Es ist auf jeden Fall noch nicht zu spät. Denn die meisten, um die es in der Ausstellung geht, leben zum größten Teil nicht mehr. Für uns, die Kinder der Protagonist/innen dieser Ausstellung, und für unsere Familien heute ist es wichtig, dass endlich mal auch der Anteil der Kommunist/innen jüdischer Herkunft gezeigt wird, die aktiv am Aufbau der DDR beteiligt waren. Und was diese Menschen in der DDR geleistet haben. Das wurde noch nie thematisiert.
Vielen nichtjüdischen Freunden und Bekannten war es überhaupt nicht klar, welche Lebensleistung unserer Eltern dahintersteckt. Obwohl meine Eltern ihre jüdischen Wurzeln nicht geheim hielten, glaubten sie, dass sie aus politischen Gründen emigriert sind. Viele wussten auch nicht, dass ich aus einer jüdischen Familie komme. Das war auch kein Thema. Weder im Negativen noch im Positiven. Es gab kein Bewusstsein dafür. Wenn ich heute Leuten aus der ehemaligen DDR davon erzähle, antworten die allermeisten: „Ach ja, stimmt, darüber haben wir noch nie nachgedacht.“ Das ist die Kernaussage.
Sharon Adler: Du bist berlinweit auf dem offiziellen Ausstellungsplakat zu sehen. Wie fühlt es sich an, mit einem Foto aus deinem Privatarchiv das „Key Visual“ der Ausstellung zu sein?
Ruth Zadek: Für mich ist es ganz großartig, dass meine Mutter darauf zu sehen ist und so im Fokus steht. Denn oft werden ja die männlichen Leistungen hervorgehoben. Aber meine Mutter war diejenige, die eine beachtliche Karriere in der DDR gemacht hat. Als das Foto entstand, war sie schon Werksleiterin in einem Betrieb mit etwa eintausend Mitarbeitern. Mich erkennt man eigentlich nicht, wobei ich mein“ energisches“ Kinn ja beibehalten habe. Mein Vater hat wunderbar fotografiert, und ich habe noch eine Menge schöner Fotos. Anfänglich habe ich gar nicht verstanden, wieso ausgerechnet dieses Foto ausgewählt wurde, das ist mir ist erst später klargeworden. Es ist eine Botschaft und ein Zeichen des Aufbruchs dafür, eine neue Gesellschaft aufzubauen, mit fröhlichen Menschen, die etwas erreicht haben. Ich kann es nicht erklären, aber es macht mich glücklich.
Sharon Adler: Das Foto wurde wahrscheinlich 1956 anlässlich der 1. Mai-Feier auf der Stalinallee in Ostberlin aufgenommen. Du warst etwa drei Jahre alt und hast sicher keine konkreten Erinnerungen an den Moment der Aufnahme, aber wie erinnerst du die 1. Mai-Feiern der folgenden Jahre?
Ruth Zadek: Für uns war der 1. Mai natürlich eine Pflichtveranstaltung. Der 1. Mai bedeutete für mich, im Fanfaren-Zug durch die Straße zu gehen. Ich habe eine Zeitlang auch eine große Pauke getragen. Aber weil ich ein kleines, zierliches Mädchen war, haben sie mir irgendwann eine Trommel gegeben, die konnte ich einfacher händeln.
Alice und Gerhard Zadek. Rückkehr aus dem Exil in die Sowjetische Besatzungszone (SBZ)
Sharon Adler: Deine Eltern konnten 1939 gerade noch rechtzeitig nach Großbritannien emigrieren. Sie sind 1947 aus dem Exil bewusst in die sowjetisch besetzte Zone zurückgekehrt. Mit welchen Träumen und Idealen? Was erhofften sie sich als jüdische Remigrant*innen vom Sozialismus?
Ruth Zadek: Es war die Hoffnung auf eine andere und bessere, klassenlose Gesellschaft. In der illusorischen Hoffnung, dass dann auch das Problem mit dem Antisemitismus aufhört. Aber das war eben eine Illusion. Meine Eltern waren keine Traumtänzer, die in politischen Luftblasen gelebt haben. Meine Mutter hat sich sehr konkret für Themen eingesetzt, vor allem in Frauenfragen. Ihr großes Thema war die Gleichberechtigung der Frau, die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Frauen. Bei der Abschaffung des Paragrafen 218 war die DDR ja Vorreiter. Meine Mutter hat sich aufgeopfert und ist landauf und landab gefahren, auch für kleinste Dinge, selbst wenn es um die Preise der Nylonstrümpfe ging, damit die Frauen sie sich leisten konnten.
In meinem Kinderzimmer stand das Buch „Die Frau und der Sozialismus“ von August Bebel. Damit bin ich groß geworden, und das habe ich auch gelesen. Mein Vater, der eigentlich gelernter Werkzeugmacher und ein Ingenieurdiplom hatte, wurde Journalist. Seine Themen drehten sich mehr um Planerfüllung, wie gut es voranging und um den Aufbau der Betriebe. Seinen Berufsweg kann ich gar nicht so konkretisieren, weil er viel zu oft seine Berufe gewechselt hat. Für ihn stand immer fest: Das sagt die Partei, da geht es lang, und da gehen wir jetzt hin. Die Parteibeschlüsse waren ihm schon heilig, aber natürlich hat er auch gemerkt, dass es beim Umsetzen oft gehapert hat.
Meine Eltern waren schwerstbeschäftigt, sehr bildungshungrig und haben neben ihrer Arbeit noch ein Fernstudium gemacht. Ich kann mich erinnern, dass wir im Winter jedes Wochenende in einem Museum oder einer Ausstellung waren. In ganz Berlin. Das war eigentlich das Besondere. Mein Vater hat uns Kindern auch von der Spartakus-Verfilmung mit Kirk Douglas erzählt. Spartakus war der Held unserer Kindertage. Der Kämpfer für Freiheit und Gerechtigkeit. Das hört sich sehr idealistisch an, aber das war die Denkart meines Vaters.
Sharon Adler: Wie ist es ihnen als „West-Remigrant*innen“ ergangen, wie wurden sie als Jude und als Jüdin behandelt? Wurden ihre Hoffnungen erfüllt oder enttäuscht?
Ruth Zadek: Sehr unterschiedlich. Sie sind nach Deutschland zurückgekehrt, um am Aufbau des Sozialismus mitzuarbeiten. Sie hatten anfangs auch interessante Berufe. Meine Mutter war in zwei Handelsgesellschaften tätig und hat dann später im Zentralkomitee (ZK) der SED als politische Mitarbeiterin unter Inge Lange gearbeitet, mein Vater war unter Gerhart Eisler und Albert Norden im Presseamt, wo er sehr aktiv war. 1951 hat er noch einen Orden bekommen. 1952 ist er dann mehr oder weniger zum Arbeiten in die Provinz geschickt worden. Insgesamt sind sie viermal umgezogen.
Am Ende sollte er als Gießereifacharbeiter in Trebelow anfangen und aufhören, als Journalist zu arbeiten. Da hat es ihm dann gereicht. Meine Eltern sind zwei Monate nach meiner Geburt in Neustrelitz mit Sack und Pack nach Berlin zurück. Dann kam zum Glück der Tod Stalins und die Aufarbeitung des Stalinismus. Der stark mit dem Antisemitismus verbunden ist. Stalin hat die Juden gehasst und wollte sie vernichten. Dazu gibt es lange Ausführungen und man kann heute wirklich gruselige Sachen erfahren. Die Aufarbeitung kam später. Mit meinem Vater war es immerhin möglich über diese Zeit zu sprechen, mit meiner Mutter konnte ich nichts mehr aufarbeiten. Sie hatte über zehn Jahre Alzheimer und war ein bisschen so, wie die Frau in „Good Bye, Lenin !“.
Alice und Gerhard Zadek kehrten 1947 aus dem britischen Exil nach Berlin zurück. Über ihre erzwungene Emigration veröffentlichten sie 1992 das Buch „Mit dem letzten Zug nach England“ und über die Zeit nach ihrer Rückkehr 1998 das Buch „Ihr seid wohl meschugge“. (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2023)
Alice und Gerhard Zadek kehrten 1947 aus dem britischen Exil nach Berlin zurück. Über ihre erzwungene Emigration veröffentlichten sie 1992 das Buch „Mit dem letzten Zug nach England“ und über die Zeit nach ihrer Rückkehr 1998 das Buch „Ihr seid wohl meschugge“. (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2023)
Beide mussten auf Aufforderung der SED aus der Jüdischen Gemeinde austreten. Nach dem Motto: „Karl Marx hat gesagt, Religion ist das Opium des Volkes. Also verlasst doch bitte die Jüdische Gemeinde.“ Meine Eltern haben erst einmal geschluckt, haben das aber gemacht. Sie waren sehr parteitreu. Gegen Ende der DDR sind sie wieder in die Jüdische Gemeinde Ostberlin eingetreten und haben für den Aufbau der Synagoge viel Geld gespendet und das Centrum Judaicum und den Jüdischen Kulturverein unterstützt.
Sharon Adler: Wie wurde Jüdisches in eurer Familie gelebt?
Ruth Zadek: Wir hatten in unserer Wohnung eine kleine Ecke mit Fotos der Großeltern und eine Menora. Das war wie ein kleiner Altar im Wohnzimmer. Meine Mutter konnte wunderbar jüdische Witze erzählen. Ich kann das leider nicht. Ich habe mir nur die Pointen gemerkt, aber nicht die schönen langen Witze, die sehr selbstironisch sind. Meine Mutter hat uns immer viele jüdische Lieder vorgesungen, sie konnte sehr schön singen.
Und wir hatten jüdische Freunde, darunter Rita Zocher
Sharon Adler: Wie hast du den Alltag in der DDR, in diesem „Anderen Land“ erlebt? Hast du als Kind oder als Heranwachsende Antisemitismus erlebt?
Ruth Zadek: Natürlich gab es Antisemitismus. Schon in der Sprache. Und das reicht ja schon. Ich erinnere mich gut daran, wie ich als kleines Mädchen in einer Eisdiele in der Karl-Marx-Allee ein leckeres Eis gekauft habe. Ich war ein bisschen albern und laut, wie kleine Mädchen oft so sind. Und dann sagte der Eisverkäufer laut und ziemlich gehässig: „Das ist ja hier wie in einer Judenschule.“ Ich habe einen ziemlichen Schreck bekommen. Du spürst ja in der Intonation der Stimme, dass das etwas Schlechtes sein muss.
Ich bin auch mit dem Wort „vergasen“ groß geworden. „Man müsste euch vergasen.“ Das hat man damals öfter gehört. Das ist zum Glück heute aus dem Sprachgebrauch relativ verschwunden. Oder „Juden sind geizig“, „Juden haben Geld“. Das sind die üblichen Dinge, die man auch heute noch denkt und hört. Das hört nicht auf.
Im Gegensatz zu meiner Schwester konnte ich die Schimpfworte gut wegstecken. Mich hat es eher sensibilisiert hinzuhören, wenn andere Gruppen diskriminiert werden. Das treibt mich bis heute immer noch um. Deshalb war ich später auch in der Integrationskommission. Das war mir wichtig. Es hilft der Menschheit nicht, sich als Mensch über andere zu erheben, nur weil einer anders ist, eine andere Religion, Herkunft oder sexuelle Orientierung hat.
Widerstand und Exil
Sharon Adler: Deine Eltern gehörten seit 1933 der
Ruth Zadek: Meine Eltern haben uns Kindern immer alles erzählt. Auch darüber, dass sie sich in Großbritannien nicht wohl gefühlt haben und dort sehr schwer arbeiten mussten. Es wurde sehr offen darüber gesprochen. Alles ist miteinander verquickt. Meine Eltern haben ihr Jüdischsein immer auch mit der Vision einer neuen Gesellschaft verknüpft und wurden Kommunisten. Jüdische Kommunisten eben. Das eine bist du von deiner Herkunft oder Religion her – da kann man eh drüber streiten, ob man jüdisch von der Herkunft oder ob man jüdisch von der Religion ist.
Weil man nach dem Krieg den Juden eine Opferrolle zugeschrieben hat und sie sich „wie Lämmer zur Schlachtbank“ hätten abführen lassen, ist es wahnsinnig wichtig, davon zu berichten, dass und wie Juden Widerstand geleistet haben. Mein Vater hat uns von vielen Episoden des Widerstands erzählt, zum Beispiel von einer Flugblattaktion am Alexanderplatz.
Er hat sich auch sehr dafür engagiert, dass der Name Herbert Baum und die Gruppe nicht in Vergessenheit geraten. Die Widerstandsgruppe war ursprünglich eine Bildungsgruppe. Herbert Baum hat junge Leute um sich versammelt, und man hat gemeinsam Bücher gelesen. Meine Eltern kamen aus einfachen Verhältnissen und waren, wie gesagt, sehr bildungshungrig. Dass Juden ab einem gewissen Alter nicht mehr in die Schule gehen durften,
Meine Großmutter hat ihre Kinder rechtzeitig weggeschickt. Meine Mutter, die große Schwester und den kleinen Bruder. So konnten sie ihre Leben retten. Meine Mutter wollte eigentlich gar nicht nach England. Sie ist etwas früher als mein Vater emigriert. Sie kannten sich seit ihrer Kindheit und waren damals sicherlich ein Liebespaar, aber noch nicht verheiratet. Sie hat auch vorbereitet, dass er ein Permit, eine Externer Link: Einreiseerlaubnis bekommt. Das war wichtig. Er ist über Umwege mit dem letzten Zug nachgekommen.
In unserer Familie wurde nicht geschwiegen. Ich finde das wichtig, denn man muss ja wissen, wo man herkommt. Soweit es möglich ist, spreche ich darüber auch mit meinen Enkelkindern.
Sharon Adler: Du und deine Schwester wurden in Erinnerung an eure Großcousinen Ruth und Hanna
Ruth Zadek: Das Dramatische ist, dass sie ein Ticket für die Schiffspassage am 25. Februar 1941 von Lissabon nach New York hatten. Sie wurden aber vorher denunziert, von einer Frau Obst. Sie hatte sich beschwert, dass die Mädels so „unverschämt“ seien und „so laut lachen“ würden. Wahrscheinlich, weil die Russen im Vormarsch waren. Kurz darauf wurden sie abgeführt. Dazu gibt es eine Polizeiakte. Sie waren die Lieblingscousinen meines Vaters. Sie wollten Kinderkrankenschwestern werden.
Sharon Adler: In welchem Gefühl seid ihr aufgewachsen, wie sehr waren die Shoah und die Toten in eurer Familie präsent? Wie hat das euch Kinder geprägt?
Ruth Zadek: Wie alt ich war, als man uns davon erzählte, weiß ich nicht mehr. Wir sind damit groß geworden, mit dem Bewusstsein, dass wir nach den ermordeten Cousinen meines Vaters benannt wurden. Das hat uns geprägt.
Ruth Zadek und eine ihrer beiden Schwestern wurden in Erinnerung an ihre 1942 ermordeten Großcousinen Ruth und Hanna benannt, für die in der Schierkerstraße 5 in Berlin-Neukölln Stolpersteine verlegt wurden. Ruth Zadek: „Wie alt ich war, als man uns davon erzählte, weiß ich nicht mehr. Wir sind damit groß geworden, mit dem Bewusstsein, dass wir nach den ermordeten Cousinen meines Vaters benannt wurden. Das hat uns geprägt.“ (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2023)
Ruth Zadek und eine ihrer beiden Schwestern wurden in Erinnerung an ihre 1942 ermordeten Großcousinen Ruth und Hanna benannt, für die in der Schierkerstraße 5 in Berlin-Neukölln Stolpersteine verlegt wurden. Ruth Zadek: „Wie alt ich war, als man uns davon erzählte, weiß ich nicht mehr. Wir sind damit groß geworden, mit dem Bewusstsein, dass wir nach den ermordeten Cousinen meines Vaters benannt wurden. Das hat uns geprägt.“ (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2023)
Das Nachdenken darüber, was mit der Familie passiert ist, haben wir eher eine Zeitlang verdrängt. Du willst deine Kindheit und Jugend nicht so belasten. Das Gefühl oder das Bewusstsein kam bei mir erst sehr viel später, als ich mich künstlerisch mit dem Thema Kaspar Hauser und mit dem Thema meiner Herkunft beschäftigt habe.
Künstlerische Ausbildung und Tätigkeiten. Ausreiseantrag
Sharon Adler: Von 1978-1980 hast du Kunst- und Kulturveranstaltungen im Kreiskulturhaus Treptow mit dem legendären Externer Link: Jazzkeller 69 in Berlin organisiert. An welche Begegnungen erinnerst du dich?
Ruth Zadek: Ich habe vor allen Dingen Kunstausstellungen organisiert. Zum Beispiel eine der ersten Ausstellungen von Ulli Wüst oder von Klaus Storde. Das sind Namen, die mir in Erinnerung geblieben sind. Und eine beeindruckende Plakatausstellung. Es gab gute Plakatkunst in der DDR. Und Konzerte. Das Kreiskulturhaus Treptow war ein besonderer Ort, alle Jazzgrößen aus ganz Europa sind dort aufgetreten. Wir alle waren in dem Haus kulturpolitische Mitarbeiter*innen.
Sharon Adler: Du hast auch im Jugendklubhaus Langhansstraße gearbeitet. In welchen Bereichen? Und konntest du frei arbeiten oder wurdest du in deiner Arbeit eingeschränkt, auf bestimmte Themen festgesetzt oder kontrolliert?
Ruth Zadek: Ich habe vor allem Veranstaltungen für Kinder, Jugendliche und Familien organisiert. Das war mir wichtig. Und da bin ich auch das erste Mal angeeckt. In diesem Jugendklub gab es auch politische Veranstaltungen, Musikveranstaltungen, Jazz. Als ich die Veranstaltungsreihe „Langhansels Spielkiste“ ins Leben gerufen habe, hat sich die Kulturleitung – Kuschkowitz hieß die Dame – tierisch darüber aufgeregt, dass ich mich vom Westen habe inspirieren lassen. Die hat wohl an die Augsburger Puppenkiste oder Sesamstraße gedacht, aber die kannte ich zu dem Zeitpunkt gar nicht. Da hatte ich die ersten Gedanken daran, dass man doch den Menschen für ihre Fantasie Freiräume lassen müsse. Es ist auch wichtig zu erzählen, wieviel Misstrauen es gegenüber Kreativen in der DDR gab.
Sharon Adler: 1979 hast du einen Ausreiseantrag gestellt. Aus persönlichen oder aus politischen Motiven?
Ruth Zadek: Ich habe bei Freunden, die sogenannten Westkontakt hatten, jemanden kennengelernt. Er war Jazz-Musiker, und es interessierte ihn, was in der Jazz-Szene der DDR los war. Ich habe gesungen, zwar nicht gut, aber ich singe gerne, und er spielte Gitarre. Ich bin aus persönlichen und aus politischen Motiven ausgereist. Natürlich, weil ich verliebt war, aber es kam hinzu, dass mein Freundeskreis inzwischen auch fast vollständig fort war. Und die ganze politische Situation in der DDR hat mich nur noch eingeengt. Ich wollte einfach weg.
Nachdem ich meinen Ausreiseantrag gestellt hatte, dauerte es ewig, und die Wartezeit war nicht einfach. Im Kreiskulturhaus bin ich natürlich entlassen worden, konnte aber in der Keramikwerkstatt meines guten Freundes Tilman Beyer arbeiten. Das war trotz allem eine schöne Zeit und eine gute Lehre für mich. Ich hatte schon immer eine Vorliebe für Farben und Strukturen. Das hat sich auch schon im Studium gezeigt. Wir haben neben Aktstudien und Anatomie auch gelernt, wie Zeichnen funktioniert.
Die Kunsterziehungsausbildung war sehr gut, weil du alle malerischen und Druck Techniken kennengelernt hast. Ich hatte in der DDR in der Ausbildung zur Kunsterzieherin eine gute Lehrerin, Barbara Müller. Sie war eine sehr anerkannte Künstlerin in der DDR, die auch in einer großen Kunstaustellung gelobt wurde für ihr Bild Externer Link: „Bauarbeiter-Lehrling Irene“. Das war in jedem Lehrbuch abgebildet. Irene war eine kecke junge Frau, die ihren Helm ganz adrett auf den Kopf setzte. Das war das Bild des neuen sozialistischen Menschen. Und die Frau hatte ich als Lehrerin, und sie hat aber sehr gut verstanden, dass nicht jeder so malen möchte und hat mich machen lassen. Dafür bin ich ihr dankbar. Sie fand ihr eigenes Bild damals auch nicht so doll. Aber man hat sich halt angepasst, als Auftrag.
Während ich auf die Ausreisepapiere wartete, wurde ich schwanger und bin hochschwanger ausgereist. 1981. Andere haben ewig gewartet und sind nicht rausgekommen.
Von der Deutschen Demokratischen Republik in die Bundesrepublik Deutschland
Sharon Adler: War deine Ausreise aus der DDR, von Ostberlin nach Nürnberg, eine Zäsur in deinem Leben als Künstlerin?
Ruth Zadek darüber, was die Ausreise aus Ostberlin nach Nürnberg für sie als Künstlerin bedeutete: „Wenn du mit einem sozialistischen Hintergrund großgeworden bist, ist es nicht das, womit du weitermachen möchtest. Die Zäsur kam für mich, als ich Malerei und freie Grafik an der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg studiert habe. Das war für mich absolutes Neuland.“ (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2023)
Ruth Zadek darüber, was die Ausreise aus Ostberlin nach Nürnberg für sie als Künstlerin bedeutete: „Wenn du mit einem sozialistischen Hintergrund großgeworden bist, ist es nicht das, womit du weitermachen möchtest. Die Zäsur kam für mich, als ich Malerei und freie Grafik an der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg studiert habe. Das war für mich absolutes Neuland.“ (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2023)
Ruth Zadek: Das war der Hammer. In der DDR hatte ich Kunsterziehung studiert, ich empfand mich als Künstlerin und habe immer gemalt und gezeichnet. Aber die Kunst in der DDR war geprägt vom sozialistischen Realismus. Alles andere war uns völlig unbekannt. Es sei denn, du hattest Westkontakte oder konntest Westfernsehen gucken. In meiner Ausbildung habe ich mich von politischen Aussagen in der Kunst entfernt. Wenn du mit einem sozialistischen Hintergrund großgeworden bist, ist es nicht das, womit du weitermachen möchtest.
Die Zäsur kam für mich, als ich Malerei und freie Grafik an der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg studiert habe. Das war für mich absolutes Neuland. Ich musste mein Wissen über Kunst völlig neu hinterfragen und von vorne anfangen. Zum Glück hatte ich einen sehr guten Professor,
Ich habe dann sehr wild gemalt. Ich bin einfach in die Vollen gegangen, richtig wilde Malerei mit leuchtenden Farben, so, dass es für viele schon ein Augenschocker war. Für mich war es eine Befreiung. Und im Studium fängst du natürlich anders an, dich mit deinem Wissen vielleicht auch zu disziplinieren und andere Wege zu gehen. Über die Malerei habe ich angefangen, Objekte zu bauen.
Sharon Adler: Eine Arbeit in deiner ersten Ausstellung in Nürnberg trug den Titel „wächst zusammen, was zusammengehört “.
Die Arbeit mit dem Titel „wächst zusammen, was zusammengehört“ wurde in Ruth Zadeks erster Ausstellung in Nürnberg gezeigt. Ruth Zadek: „Es ist so, es wohnen zwei Seelen in meiner Brust. Die Arbeit habe ich nach der Wende erstellt, 1992. Sie hat beinahe menschliche Körpergröße und besteht aus zwei Teilen. Mit ein bisschen Fantasie kannst du sagen, der kleinere und der größere Teil ergeben zusammen eine Einheit.“ („wächst zusammen, was zusammengehört“. 210 cm x 210 cm x100 cm, 2-teilig. Holz, Rattan, Leinen, Acryl. (© Ruth Zadek, 1992)
Die Arbeit mit dem Titel „wächst zusammen, was zusammengehört“ wurde in Ruth Zadeks erster Ausstellung in Nürnberg gezeigt. Ruth Zadek: „Es ist so, es wohnen zwei Seelen in meiner Brust. Die Arbeit habe ich nach der Wende erstellt, 1992. Sie hat beinahe menschliche Körpergröße und besteht aus zwei Teilen. Mit ein bisschen Fantasie kannst du sagen, der kleinere und der größere Teil ergeben zusammen eine Einheit.“ („wächst zusammen, was zusammengehört“. 210 cm x 210 cm x100 cm, 2-teilig. Holz, Rattan, Leinen, Acryl. (© Ruth Zadek, 1992)
Ruth Zadek: Es ist so, es wohnen zwei Seelen in meiner Brust. Die Arbeit habe ich nach der Wende erstellt, 1992. Sie hat beinahe menschliche Körpergröße und besteht aus zwei Teilen. Mit ein bisschen Fantasie kannst du sagen, der kleinere und der größere Teil ergeben zusammen eine Einheit. Deswegen auch der Titel, weil das für mich natürlich auch ein Beispiel war, wie ich denke und fühle. Ich will es nicht überinterpretieren, weil ich nicht so arbeite. Ich denke mir meinen Teil, aber ich möchte das im Auge des Betrachters immer offenlassen. Ich sträube mich dagegen, meine eigenen Kunstwerke zu interpretieren.
Die Wiedervereinigung war für mich ein wichtiges Ereignis, das kann man sich ja vorstellen. Ich hatte meine Eltern fast zehn Jahre nicht gesehen und diesen Titel auch deswegen gewählt.
Nürnberg
Sharon Adler: Wie hast du diese Stadt, die Hitler 1933 zur Externer Link: „Stadt der Reichsparteitage“ erklärt hat und in der vom 20. November 1945 bis 14. April 1949 die Prozesse gegen NS-Kriegsverbrecher stattgefunden haben, damals empfunden?
Ruth Zadek: Ich kann dir zahlreiche Projekte nennen, wie Nürnberg es schafft, sich mit seiner Vergangenheit auseinanderzusetzen. Das Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände
Das war auch wichtig für meine Eltern, als sie für die Dreharbeiten zum FilmExterner Link: „Schalom, Genossen“ nach Nürnberg gekommen sind. Da konnten sie dann auch ihren Frieden mit mir machen und haben dieses Stigma abgelegt: „Ruth geht ausgerechnet nach Nürnberg“. Und auch für mich war das wichtig, denn als ich nach Nürnberg kam, waren gerade die Prozesse um dieses große Kommunikationszentrum KOMM
Kunst und Politik
Sharon Adler: Siehst du in der Kunst auch einen politischen Auftrag, eine politische Verantwortung? Kann Kunst etwas bewirken, einen Einfluss nehmen im Sinne einer gerechteren Welt, und ist das überhaupt dein Anspruch?
Ruth Zadek: Schwierig. Es gibt sicherlich Grenzen in der Kunst, andererseits ist für mich persönlich Kunst auch ein Mittel, mich auszudrücken. Kunst und die Kunstvermittlung sehe ich als wichtigen Schritt, Menschen für Dinge zu sensibilisieren, die sie vielleicht nicht kennen. Das ist ja eigentlich der Knackpunkt. Tolerant zu sein und sich dann aber auch zu öffnen und zu sagen: „Ich verstehe es nicht, aber ich würde es gerne kennenlernen.“ Ich habe das große Glück, dass ich ein sehr offenes Elternhaus hatte, und genau so habe ich es später auch mit meinen Kindern und Enkelkindern gemacht. Sie können sich mit Kunst und Kultur leichter auseinandersetzen, weil sie es von Kindesbeinen an kennengelernt haben. Aber ich sehe auch, dass nicht alle diese Chancen für eine gute Entwicklung haben.
Mit dem Theaterticket konnten wir in der DDR ins Theater gehen wie ins Kino oder Schwimmbad. Und das macht ja was mit einem. Es gibt dieses wunderbare Wort der Schlüsselkompetenzen. Aber das möchte ich jetzt gar nicht weiter strapazieren. Du gehst mit offenen Augen durch die Welt, bist neugierig und tolerant und möchtest andere Kulturen kennenlernen. Und Sie nicht als Feinde sehen, sondern zu erfahren, was man von einer anderen Kultur auch lernen kann. Offenheit und die Sensibilität und Empathie für andere zu entwickeln, gehört für mich ins Gesamtpaket hinein. Ich habe Freunde aus verschiedensten Kulturen, und das hat mich immer ein Stück weitergebracht.
Ruth Zadek: „Offenheit und die Sensibilität und Empathie für andere zu entwickeln, gehört für mich ins Gesamtpaket hinein. Ich habe Freunde aus verschiedensten Kulturen, und das hat mich immer ein Stück weitergebracht.“ (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2023)
Ruth Zadek: „Offenheit und die Sensibilität und Empathie für andere zu entwickeln, gehört für mich ins Gesamtpaket hinein. Ich habe Freunde aus verschiedensten Kulturen, und das hat mich immer ein Stück weitergebracht.“ (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2023)
Und es gibt natürlich auch Themenbereiche, zum Beispiel, wenn es um Umweltverschmutzung geht, die mich als Künstlerin auch schon zu DDR-Zeiten total aufgeregt haben. Ich habe in der Karibik, wo ich Freunde habe und immer mal wieder hingefahren bin, am Strand Müll gesammelt, da gab es Fridays for Future noch gar nicht. Du siehst einfach die Entwicklung und wie die Meere verdrecken. Ich habe dann auch eine Serie gemacht, bei der ich angeschwemmte Sachen mit in die Arbeit eingebaut habe, für eine Ausstellung in der Galerie in der Sternengasse. Die hieß „My private land“. Da habe ich meinen zweiten Sehnsuchtsort in der Karibik benutzt, um Arbeiten zu erstellen, die sich auch kritisch mit der Umweltverschmutzung auseinandersetzen.
Politisches Engagement als ehrenamtliche Stadträtin in Nürnberg
Sharon Adler: Du bist nicht nur selbst Künstlerin, sondern hast dich als ehrenamtliche Externer Link: SPD-Stadträtin auch aktiv als Fürsprecherin
Ruth Zadek: Der Spruch ist ja schon ziemlich alt, aus den Siebzigern. Übernommen habe ich ihn, weil er für mich ein Leitfaden war. Mein Leben ist immer von Zufällen bestimmt. Ich habe mein Leben nicht durchgeplant. Da sind meine Töchter irgendwie cleverer. Aber das gehört wohl einfach zu meinem Wesen und es ist eine andere Zeit.
Nach meinem Studium war ich allein mit zwei Kindern und musste Geld verdienen. Als die Stadt Nürnberg ihre 950-Jahr-Feier vorbereitet hat, bewarb ich mich auf eine Stelle. Meine Aufgabe war es, die Kulturmeile bekannt zu machen und alle Kultureinrichtungen der Stadt in einem Fest zu verbinden. Kultur für alle. Leute, die sonst nicht in die Kunst und Kulturhäuser gehen, in ein Event einzubinden: Das war die erste Blaue Nacht. Die Ideen und die Umsetzung dafür zu entwickeln, war meine Arbeit als Programmkoordinatorin.
Das Konzept war es, mit blauen Lichtinstallationen an den Kultureinrichtungen eine Verbindungslinie von einem Haus zum anderen zu schaffen, wo die einzelnen Programmpunkte stattfanden. Das alles wurde mit blauem Licht verbunden. Am Anfang war ich fast allein, aber am Ende haben alle mitgemacht. Diese Veranstaltung kam so gut an, dass sie seitdem jedes Jahr stattfindet. Darauf bin ich sehr stolz. Keiner hat damals gedacht, dass das ein Dauerevent wird. Als das nach zwei Jahren zu Ende ging, wurde ich gefragt, ob ich mir vorstellen kann, Stadträtin zu werden. Man wollte auch eine Künstlerin auf der Liste haben und nicht immer nur Anwälte, Krankenschwestern und Lehrer. Also eine gute Mischung. „Okay“, dachte ich, „wenn sie es ernst mit mir meinen, dann meine ich es auch ernst.“ Ich hatte einen guten Listenplatz, den ich auch habe halten können. So bin ich Stadträtin geworden. Aber ich gebe zu, dass ich anfangs nicht viel Ahnung davon hatte. Insgesamt habe ich mich achtzehn Jahre für Kulturschaffende im Kulturausschuss politisch engagiert. Und am Ende war ich sechs Jahre lang kulturpolitische Sprecherin.
Daneben war ich aber auch lange im Vorstand und als Vorsitzende in der Externer Link: Karl-Bröger-Gesellschaft aktiv, eine außerparteiliche Organisation, aber SPD-nah. Das war eine wichtige Zeit für mich. Ich habe Reisen organisiert und politische Veranstaltungen. Für die Fraktion habe ich noch eine Veranstaltungsreihe ins Leben gerufen, die ich „Kulturbrot“
Sharon Adler: Hast du als Stadträtin auch manchmal intervenieren müssen? Falls ja, in welchen Bereichen?
Ruth Zadek: Ich kann mich an eine Ratssitzung besonders erinnern: Ein Gedenkstein sollte in der Nähe eines Spielplatzes aufgestellt werden. Alle waren ganz entsetzt, aber ich sagte: „Wieso nicht?!“ Es sind doch auch viele Kinder umgebracht worden. Warum kann das nicht sein? Da habe ich mich richtig mit jemandem gefetzt. Mir ging es nicht darum, ermordete Kinder zu zeigen, sondern darum, zu sagen, dass es eine Zeit gab, wo es Kindern nicht möglich gewesen war, überhaupt groß zu werden. Kinder sind viel offener und zugänglicher, sich mit Themen auseinanderzusetzen. Meine Enkelkinder hören gut zu, wenn ich erzähle. Sie stellen kluge Fragen und es ist alles möglich. Wer soll es denn sonst weitergeben? Es muss ja erzählt werden!
Gegenwart und Zukunft
Sharon Adler: Aktuell ziehst du von Nürnberg zurück nach Brandenburg. Was sind deine Pläne? An was arbeitest du?
Ruth Zadek: Ich breche die Brücken nach Nürnberg nicht ab. Ich habe dort gute Freunde und die bleiben ja. Aber es zieht mich wieder in die Heimat. Hier ist meine Familie, und wenn man älter wird, braucht man einfach auch Familie. Und ich habe im Nachbarort meine Kindheit verbracht. Vielleicht mag ich auch den Berliner Humor, vielleicht passe ich auch besser hierher. Aber jetzt muss ich erstmal ankommen. Ich muss mein ganzes Leben erst ein- und dann wieder auspacken. Ich bin froh, wenn ich dann endlich – ich habe hier eine kleine Malhütte – wieder malen kann. Vielleicht schreibe ich nun auch das ein oder andere von meinem Leben auf.
Ruth Zadek: „Kunst hat ihre eigene Sprache, die du erlernen musst.“
(© Sharon Adler/PIXELMEER, 2023)
Ruth Zadek: „Kunst hat ihre eigene Sprache, die du erlernen musst.“
(© Sharon Adler/PIXELMEER, 2023)
Zitierweise: Interview mit Ruth Zadek: „Ruth Zadek: „Mein Leben ist oft von Zufällen bestimmt.“, in: Deutschland Archiv, 18.12.2023, Link: www.bpb.de/543898