Tod einer Schlüsselfigur
Zwei Nachrufe auf Carlo Jordan
Gerold HildebrandSiegbert Schefke
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Carlo Jordan war ein begnadeter Kommunikator und ein wesentlicher Organisator der ökologisch-pazifistisch geprägten Opposition im Osten. Durch seine Belesenheit und seinen Humor erwarb er sich früh eine natürliche Autorität und wurde fortan hoch geachtet. Engagement war für ihn schlicht selbstverständlich. Bald wurde er zu einer „Schlüsselfigur“ für die Umweltbewegung in der DDR. Ein Nachruf von Gerold Hildebrand, ergänzt durch persönliche Erinnerungen von Siegbert Schefke.
Geboren wurde "Carlo" am 5. Februar 1951 als Karl-Heinz Jordan. Aufgewachsen in Berlin-Friedrichshain, wo die Eltern eine Bäckerei betrieben, gehörte er, den alle nur „Carlo“ nannten, bald zur jugendlichen Subkultur in Ostberlin. Pioniere und Jugendweihe ließ er aus, worin ihn seine Eltern bestärkt hatten, die ihn auch in einen evangelischen Kindergarten geschickt hatten. Der DDR-Jugendorganisation FDJ trat er in der Oberschule zwar bei, verließ sie aber bald schon wieder aus Protest. In der Schule schon war er wegen seiner westlichen Kleidung und seiner langen Haare von Lehrern gemaßregelt worden. Den Mauerbau hatte er als Zehnjähriger erlebt, der noch die Welt hinter der Sektorengrenze hatte kennenlernen können.
Ein Ur-Anliegen: Freiräume schaffen
Den legendären Jugendklub „Box“ in Ostberlin, der 1975 von den Behörden des SED-Staats geschlossen wurde, hatte er Anfang der 70er Jahre mit aufgebaut. Es ging dort vor allem um kulturelle Freiräume und Redefreiheit. Das konnte nicht gutgehen, aber er hat es versucht. Die DDR-Jugendklubs waren eigentlich Einrichtungen unter Aufsicht der FDJ, doch in diesem wurde sich vielen Anweisungen widersetzt und es fanden neben Musikveranstaltungen auch Lesungen und Ausstellungen statt, die der offiziellen Kulturpolitik nicht immer genehm waren. Auch der Woodstock-Film aus dem Westen wurde gezeigt, und alternative Sozialismusmodelle wurden offen diskutiert. Nachdem 1975 ein West-Berliner Radiomoderator zufällig den Klub entdeckt und in seiner Sendung im Radiosender RIAS gepriesen hatte, wurde der Klub umgehend geschlossen. Als Grund nannte die Partei „konterrevolutionäre Umtriebe“. Carlo vergrößerte nun seinen Aktionsradius. Er war viel unterwegs - zum Beispiel in Jena im Kreis füher Oppositioneller um Henry Crasser, Reinhard Fuhrmann und Jochen Anton Friedel, die im nahen Partschefeld eine Landkommune aufbauen wollten. Bald verfügte er über einen großen netzwerkartigen Freundeskreis.
Carlo absolvierte zunächst eine Lehre als Zimmerer und ein Studium des Bauingenieurwesen, dem sich ein Fernstudium der Philosophie und Geschichte an der Humboldt-Universität in Berlin anschloss, von dem er 1982 wegen mangelnder kommunistischer Überzeugung und seiner Sympathie für die polnische Solidarność-Bewegung ausgeschlossen wurde. Als Dozent für Philosophie und Literatur konnte er nur bei der evangelischen Kirche in Potsdam arbeiten. In dieser Zeit nahm er auch an konspirativen Zirkeln und Lesekreisen teil. Eine antistalinistische Grundhaltung hatte sich schon früh bei ihm ausgeprägt. Mit 17 erlebte er die Niederschlagung desInterner Link: Prager Frühlings 1968. Das Theoretisieren in (undogmatisch marxistischen) Zirkeln aber wurde ihm nicht zur Richtschnur, dafür war er zu praktisch veranlagt. Stattdessen richtete sich sein Handeln bald auf eine stärkere öffentliche Wahrnehmbarkeit von Kritik und Protesten, also genau das, was SED und Stasi am meisten fürchteten: "Öffentlichkeitswirksamkeit" von Oppositionellen.
Schockiert vom Selbstmord des Pfarrer Brüsewitz
1976 unterschrieb er eine Protesteingabe an Erich Honecker. Sie richtete sich gegen die SED-staatliche Diffamierung des Pfarrers Oskar Brüsewitz, der sich im August 1976 in Zeitz durch eine Selbstverbrennung das Leben nahm - aus Protest gegen das repressive Bildungssystem der DDR und den einengenden Einfluss des Regimes auf die Kirche. Carlo wurde von der Stasi verhört und verwarnt, was ihn allerdings nicht davon abhielt, drei Monate später gemeinsam mit Aljosha Rompe gegen die Ausbürgerung Interner Link: Wolf Biermanns zu protestieren.
Anfang der 80er Jahre organisierte er größere Spontan-Fahrraddemonstrationen für Umweltschutz und Abrüstung. Der Stasi gelang es nicht so leicht, solche mobilen Protestformen aufzulösen. Ab 1982 arbeitete er DDR-weit in verschiedenen Ökogruppen mit, die jährlich ein größeres zentrales „Ökoseminar“ organisierten.
Anfang der 70er Jahre hatte Carlo im uckermärkischen Krewitz mit Freunden eine leerstehende Ziegelei gekauft. Die Enteignung folgte 1984, da sich die SED, über deren Funktionäre er sich manchmal als „kommunistische Staatsverweser“ lustig machte, von den unkontrollierbaren Zusammentreffen Jugendlicher auf der „Landkommune“ bedroht fühlten. „Mir war klar, dass wir als ‚antisozialistische Sekte‘ angesehen und deshalb ungewollt waren in der Uckermark“, sagte er 2022 einmal in einem Interview mit dem Nordkurier. Nach der Wiedervereinigung 1990 erhielt er das Anwesen zurück und es wurde wieder wochenendlicher Treffpunkt des großen Freundeskreises.
Anfang Mai 1986 gründete er, inspiriert von den "fliegenden Universitäten" der polnischen Opposition, mit Gleichgesinnten die Berliner Umwelt-Bibliothek in der evangelischen Zionskirchgemeinde, die bald zu einem widerständigen Zentrum avancierte. Hier gab es westliche Fach- und Zeitungsliteratur, Konzerte verbotener Liedermacher, Ausstellungen und gesellschaftspolitische Diskussionen sowie im Keller handbetriebene Vervielfältigungsgeräte für Samisdatzeitschriften. Eine Interner Link: Stasi-Razzia mit dem Codenamen „Aktion Falle“ Ende November 1987 machte diesen Ort auch im Westen stärker bekannt. Als Bauleiter war er in diesen Jahren für die erfolgreiche Sanierung der zeitweise polizeilich gesperrten Zionskirche zuständig und verfügte über ein Büro in der Griebenowstraße 16. Dort verfasste er auch Artikel für Samisdatzeitschriften, die listig stets den Stempel trugen "Nur für den innerkirchlichen Dienstgebrauch", außerdem schrieb er unter Pseudonym für die Ostberlin-Seite der Westberliner tageszeitung (taz) und nutzte sein Telefon für den grenzüberschreitenden Informationsaustausch. Horst Edler, ein Gemeindemitglied erinnert sich an eine für Jordan so typisch gewitzte Widerstands-Episode:
"Während des Protestes gegen die Festnahme und Beschlagnahmung in der Umwelt-Bibliothek zog Carlo als Bauleiter vor dem damaligen Eingang an der Kirchenseite einen Kreidestrich als Stasimitarbeiter die Protestierenden der Mahnwache in die Kirche zurückdrängen wollten: Dies ist "Kirchenland" dahinter "volkseigenes" Land, was auch irgendwie akzeptiert wurde. So konnten dort Kerzen auf dem Gitter und an der Wand entlang aufgestellt werden, das flackerde Kerzenlicht zeigte den Leuten den Eingang. Es war nun eine Mahnwache nicht mehr nur in, sondern auch vor Kirchenmauern, sichtbar im öffentlichen Raum." Auch ein Externer Link: Video mit Carlo Jordan hält diese Schilderung fest
1988 kam es in der Umwelt-Bibliothek zu einer Spaltung, die sich letztlich aber als produktiv erwies. In der Folge trieb Carlo wesentlich die Gründung und Vernetzung des Grün-ökologischen Netzwerks „Arche“ voran, das künftig DDR-weit und international im Netzwerk „Greenway“, das bis nach Litauen reichte, agierte. Damals war, inspiriert von den grünen Vordenkern im Westen schon viel vom „ökologischen Umbau der Industriegesellschaft“ die Rede, wenn es auch im Osten zunächst um die Einhaltung westlicher Umweltstandards ging.
Heimlich gedrehte Filme über Umweltverschmutzung
Selbst gedrehte Filme über die katastrophale Umweltverschmutzung in der DDR wie „Bitteres aus Bitterfeld“ oder Berichte über leckende Mülldeponien waren damals in westlichen Medien ein „Renner“ wie er zu sagen pflegte, für diejenigen, die schon immer mal Genaueres über die DDR wissen wollten, aber sich bisher nicht zu fragen trauten. Und das waren eben nicht nur Westler. In der gesamten DDR motivierten solche Berichte Nachahmer, so dass die DDR-Umweltbewegung zunehmend wuchs (bis nach Großhennersdorf) und sich auch in Osteuropa verbreitete. Schon vor 1989 unterhielt er Kontakte zu Oppositionellen im Baltikum und nach Finnland. Illegal war er durch die damalige Sowjetunion gereist.
Im Zuge der Friedlichen Revolution im November 1989 wurde Carlo folgerichtig Mitgründer der Grünen Partei in der DDR, als deren Sprecher beim Zentralen Runden Tisch und Abgeordneter in der ersten frei gewählten Stadtverordnetenversammlung von Ostberlin er fungierte.
Am 15. Januar 1990 war er an der Erstürmung der Ostberliner Stasi-Zentrale beteiligt. Er initiierte danach die antistalinistische Forschungs- und Gedenkstätte Normannenstraße (ASTAK) mit, in der er sich viele Jahre lang mit Führungen engagierte, wie übrigens auch in der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen. Hier konnte er seine ausgeprägte Erzählkunst und sein fast enzyklopädisches geschichtliches Wissen vor einer dankbaren Zuhörerschaft ausbreiten. Gern wurde er auch als Zeitzeuge interviewt, da er über einen schier unerschöpflichen Erfahrungsschatz verfügte. Fast zu jedem Aufarbeitungsthema konnte er seine eigenen Erlebnisse beisteuern.
Seinen Rufnamen Carlo ließ er sich nun ganz offiziell im Personalausweis eintragen – statt des Karl-Heinz. Ohnehin war dieser bei Freunden und Bekannten unbekannt geblieben und wäre es weiterhin, wenn es keine Einsichtnahme in die Stasi-Akten gegeben hätte, die zuhauf über ihn als „feindlich-negative Person des politischen Untergrunds“ angelegt worden waren. Die grauen Kampfgenossen setzten Spitzel auf ihn an und führten gegen ihn mehrere Operative Vorgänge: „Setzer“, „Kalender“, „Radler“, „Bibliothek“, „Arche“, „Fluß“ und „Bauknecht“, die auf eine Inhaftierung hinarbeiteten. Überraschend wurden ihm Westreisen genehmigt – in der Hoffnung, er würde nicht zurückkehren. Carlo sah im Gegensatz zu anderen DDR-Kritikern in der zunehmenden Ausreisebewegung eine neue oppositionelle Bewegung wachsen, blieb aber selbst im Lande.
Soziale Medien, E-Mails oder überhaupt schriftliche Kommunikation waren nicht so sein Ding. Ein Geburtstagsgeschenk, ein Laptop, für den Freunde gesammelt hatten, erwies sich als Fehlinvestition. Aber er telefonierte intensiv, wusste über aktuelle Ereignisse eher Bescheid als manch Internetnutzer.
2001 publizierte er im Ch. Links Verlag Berlin seine Studie „Kaderschmiede Humboldt-Universität zu Berlin – Aufbegehren, Säuberungen, Militarisierung 1945-1989“. Promoviert hatte er Ende der 90er Jahre an der Freien Universität Berlin.
Carlo war auch immer ein sehr geselliger Zeitgenosse. Ob in seiner offenen Wohnung, in Gaststätten oder anderen raren Versammlungsorten – stets sammelte er Gleichgesinnte und „Jünger“ um sich. Es gelang ihm dabei immer wieder mit Begebenheiten und Anekdoten feuchtfröhliche Runden in der Ostberliner Szenekneipe „Metzer Eck“ zu begeistern und zum Lachen zu bringen. Späterhin noch im „Lokal“.
Für sein Engagement wurde er 2019 gemeinsam mit Rainer Eppelmann, Stephan Krawczyk, Elke Erb, Aram Radomski, Eva und Jens Reich, Rita Sélitrenny, Wolfram Tschiche, Kathrin Mahler Walther, Barbara Sengewald und Ulrich Schwarz mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet. Sie alle erhielten die Ehrung für ihre Verdienste während der friedlichen Revolution 1989/90 in der DDR.
Ende 2021 musste er sich während der schweren Lockdown-Zeit einer Operation unterziehen. Viele bangten damals um ihn. Gleichzeitig erfuhr Carlo auch immer wieder liebevolle Unterstützung von seinen Kindern und aus dem Freundeskreis. Tapfer übte er das Treppensteigen zu seiner Wohnung im vierten Stock der Fehrbelliner Straße 7, die er 1982 besetzt hatte, und fuhr bald schon wieder Fahrrad.
In der auf seinen Tod folgenden Woche sollte eine medizinische Rehabilitierungskur an der Ostsee beginnen. Zuvor wollte er nochmals die frisch renovierte Zionskirche besichtigen, dazu war er fest verabredet. Beides konnte er nicht mehr realisieren. Am 13. Dezember 2023 ist Carlo im Alter von 72 Jahren verstorben. Er hinterlässt einen Sohn und eine Tochter und viele Freunde, Freundinnen und Wegbegleiter, die ihn vermissen werden. Er hat viele von ihnen mit seinem selbstlosen Engagement geprägt, nicht laut und selbstsüchtig, sondern leise, humorvoll, ansteckend unkompliziert und kreativ.
Zitierweise: Gerold Hildebrand und Siegbert Schefke, „Tod einer Schlüsselfigur: Ein Nachruf auf Carlo Jordan“, aktualisiert von Holger Kulick am 15.01.2024. In: Deutschland Archiv, 15.12.2023, Link: www.bpb.de/543765.
Vertiefende Literatur:
Stefan Karner: Der "Prager Frühling" https://www.bpb.de/themen/zeit-kulturgeschichte/68er-bewegung/52007/der-prager-fruehling/ (abgerufen am 14.12.2023)
Holger Kulick: Die Biermann-Ausbürgerung 1976 https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/343310/einer-der-anfaenge-vom-ende-der-ddr-die-biermann-ausbuergerung-1976/ (abgerufen am 14.12.2023)
Samisdat-Zeitschriften in der DDR https://mediengeschichte.dnb.de/DBSMZBN/Content/DE/Zensur/06-samisdat-in-der-ddr.html (abgerufen am 14.12.2023)
Holger Kulick, Roland Jahn, Bruno Funk: Stasi-Razzia in der Umweltbibliothek https://www.bpb.de/mediathek/video/227973/stasi-razzia-in-der-umweltbibliothek/ (abgerufen am 14.12.2023)
Unerkannt durch Freundesland https://www.lukasverlag.com/autoren/autor/1072-carlo-jordan.html (abgerufen am 14.12.2023)
Stasi-Mediathek über Oskar Brüsewitz: https://www.stasi-mediathek.de/themen/person/Oskar%20Br%C3%BCsewitz/ (abgerufen am 14.12.2023)
Gerold Hildebrand, geboren 1955 in Lauchhammer, ist Diplom-Sozialwissenschaftler. Er lebte in Templin und Jena und arbeitete seit Gründung 1986 in der Berliner Umwelt-Bibliothek mit. Nach 1989 war er Pressesprecher der DDR-Bürgerbewegung Neues Forum und Mitarbeiter der Robert-Havemann-Gesellschaft. Bis zum Renteneintritt arbeitete er in der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen. Er lebt in Berlin-Prenzlauer Berg.
Siegbert Schefke war aktiver DDR-Bürgerrechtler und lebt seit 1991 in Leipzig als freier Journalist, Publizist und Fernsehjournalist für das MDR-Fernsehen. Mehrere seiner Reportagen finden sich auf https://siegbert-schefke.de/videos/). Im Frühsommer 2019 erschien in Berlin sein Buch "Als die Angst die Seite wechselte - Die Macht der verbotenen Bilder", aus dem auch der folgende Textauszug stammt.
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