Ein Blick auf die Landkarte verrät bis heute, dass es im hessisch-thüringischen Grenzgebiet nicht immer leicht fällt zu unterscheiden, in welchem Bundesland man sich gerade befindet. Die Zugehörigkeit wechselt von Ort zu Ort, während der kleine Gebirgszug des Seulingswaldes mit seinen bewaldeten Gipfeln nur wenig zur Orientierung beiträgt. In dieser Region, zwischen Bad Hersfeld und Eisenach gelegen, macht das Gebiet des Landes Hessen eine etwa zwanzig Kilometer breite Einbuchtung nach Thüringen. Nur wenige Kilometer entfernt befand sich bis 1990 die Grenzübergangsstelle (GÜST) Wartha/Herleshausen. Sie war eine von fünf GÜSTs entlang der Transitstrecken zwischen der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) und der Bundesrepublik Deutschland.
Der Name Kleinensee bezieht sich wie der des Nachbarortes auf den zu Beginn des 18. Jahrhunderts trockengelegten Seulingssee. Dieser gelangte 1413 durch den Kauf des Gerichts Wildeck zusammen mit dem Ort HöNalbach in den Besitz der Landgrafen von Hessen, beide bildeten damit eine Enklave im Thürringisch-sächsischen Territorium. Später fielen Kleinensee und Großensee kurzzeitig wieder in den Herrschaftsbereich Sachsen-Weimars; nur Kleinensee ging wieder zurück an Hessen. Fortan lagen die Orte zwar in getrennten Herrschaften. Doch gab es enge soziale und wirtschaftliche Verbindungen, sodass von dieser unterschiedlichen Zugehörigkeit in der Alltagspraxis nichts zu spüren war. Dies lag insbesondere an der beginnenden wirtschaftlichen Bedeutung des industriellen Abbaus von Kalisalzen in der Region. Um 1900 begann mit der Errichtung der Werke Alexandershall und Wintershall der lokale Kalibergbau, der sich positiv auf die wirtschaftliche Entwicklung der beiden Orte auswirkte. Später wurden die Kalibergwerke Neu-Heringen und Herfa-Neurode in unmittelbarer Nähe gebaut. Im Jahr 1939 hatte Kleinensee 522 Einwohner. Von den Erwerbstätigen waren bereits in den 1930er-Jahren 85 Prozent im Kalibergbau beschäftigt.
Kleinensee – Ein Dorf in der Klemme
Mit der Niederlage des Deutschen Reiches im Zweiten Weltkrieg und der anschließenden Besatzung durch die alliierten Truppen begann nach 1945 zunächst eine Phase der unübersichtlichen Kompetenzen. Bereits 1944 hatten sich die USA und die Sowjetunion darauf verständigt, dass Thüringen in die sowjetische Besatzungszone und Hessen in die Verantwortung der Amerikaner fallen sollten. Im Zuge der Kampfhandlungen zum Jahresbeginn 1945 war die US-Armee allerdings weit nach Thüringen vorgerückt und hatte am 16. April 1945 das erste US-Hauptquartier für Thüringen in Weimar eingerichtet. Gemäß den Absprachen räumten die US-Truppen Thüringen allerdings ab dem 2. Juli 1945. Bis zum 6. Juli rückten die sowjetischen Truppen nach Südthüringen vor. In Großensee kamen sie am 5. Juli 1945 an.
Zur Unübersichtlichkeit der Lage trug bei, dass es sporadische und überaus willkürliche Grenzkontrollen gab, die insbesondere die Bevölkerung der beiden benachbarten Orte trafen. Bereits in diesen frühen Tagen der Teilung gab es die ersten Todesopfer entlang der Grenze zwischen den beiden Orten, da den bewachenden alliierten Soldaten nicht immer klar war, wo genau die Grenzlinie verlief.
Der einzige ausgebaute Verkehrsweg über Großensee in Richtung des benachbarten Heringen war damit unterbrochen. Nur ein schlecht ausgebauter Waldweg stand noch zur Verfügung, um dorthin oder nach Hönebach mit seinem Bahnanschluss zu gelangen. Besonders dringlich wurde dieses Problem, als die Kaliförderung in den Gruben zu Beginn des Jahres 1946 wieder aufgenommen wurde. Da 85 Prozent der Erwerbstätigen aus Kleinensee bei Wintershall beschäftigt waren, war der Ort unmittelbar von einem einfachen Zugang zu den Werken, insbesondere dem in Heringen, abhängig.
Dies hatte für die Menschen in Kleinensee zur Folge, dass an Tagen mit schlechter Witterung der Fußweg ins nur etwa drei Kilometer entfernte Hönebach bis zu drei Stunden dauern konnte. Den Angestellten des Kalibergbaus war es nur noch unter Lebensgefahr möglich, über die Sektorengrenze zu kommen, weshalb vielen keine andere Wahl blieb, als diesen gefahrvollen Weg zu wählen.
Am 24. März 1949 beschloss der Kreis Hersfeld, 10.000 DM für den Neubau der Straße von Kleinensee nach Hönebach bereitzustellen. Für die restliche Summe in Höhe von 45.000 DM sollte eine Förderung beim Land Hessen beantragt werden.
Großensee - Leben im permanenten Ausnahmezustand
Die Bewachung der Demarkationslinie von östlicher Seite wurde bis Ende des Jahres 1946 von sowjetischen Truppen übernommen. Im Dezember 1946 wurde die Deutsche Grenzpolizei gegründet, welche fortan die Bewachung übernahm. Ab 1952 gab es eine Dienststelle der Grenzpolizei in Großensee mit einer eigenen Kaserne für die Truppen. Bis dahin waren die Soldaten in Gaststuben und bei Privatpersonen untergebracht worden. Am 26. Mai 1952 wurde ein organisiertes Grenzregime eingeführt. Hintergrund war die große Zahl der Abwanderungen aus der DDR in Richtung Bundesrepublik. Der Erlass umfasste die Einführung eines fünf Kilometer langen Sperrgebietes entlang des gesamten Grenzverlaufs in Richtung Bundesrepublik. Dieses Gebiet durfte nur mit entsprechenden Genehmigungen und Passierscheinen betreten werden. Hinzu kam ein 500 Meter breiter Abschnitt, der als „Schutzstreifen“ bezeichnet wurde und sich in unmittelbarer Nähe zu den ersten installierten Zaunanlagen und Stacheldrahtzügen an der Grenze befand.
In diesem Gebiet herrschten besondere Verordnungen. So gab es etwa Ausgangssperren, ständige Ausweispflicht und verschärfte Verordnungen im Alltag. Schon die Nutzung einer Leiter zur Apfelernte konnte problematisch werden, wenn die Diensthabenden darin den Versuch sahen, die Grenzanlagen überwinden zu wollen. Die Überwachung der dort lebenden Bevölkerung betraf auch Großensee. Vom Ortsrand aus war die Grenze mit dem zehn Meter breiten Kontrollstreifen gut zu sehen, der dazu diente, Fluchten durch Mienen im Boden zu verhindern oder zumindest durch die ständige Freihaltung von Bewuchs leichter erkennbar zu machen.
Das Leben im „Schutzstreifen“ brachte für Großensee erhebliche Einschränkungen im Alltag mit sich. So konnte zum Beispiel kein Besuch mehr von außerhalb des Schutzstreifens empfangen werden. Alle Arten von Veranstaltungen waren genehmigungspflichtig. Größerer Bewuchs und hohe Bäume in Grenznähe mussten entfernt werden. Zudem gab es Ausgangssperren und ständige Patrouillen.
Am 5. Mai 1963 kam es in Großensee zu einem spektakulären Übertritt zweier US-Soldaten in die DDR. Ein GI hatte die Grenzbefestigungen parallel zu der Verbindungsstraße zwischen Großensee und Dankmarshausen mit einem Jeep passiert. In Großensee stellte er sich dem Grenzregiment. Als Grund für seine Übersiedlung gab er an, Kommunist zu sein und Staatsbürger der DDR werden zu wollen.
Vom Mauerbau zwischen beiden Orten bis zur Wiedervereinigung
Die unübersichtliche Lage des Grenzverlaufs und die Nähe der beiden Ortschaften Großensee und Kleinensee führte in der DDR 1971 zur Entscheidung, die bestehenden Grenzbefestigungen durch eine Betonmauer zu ersetzen, um eine blickdichte Abschirmung herzustellen und Fluchtversuche weiter zu erschweren. Im Frühjahr errichteten Pioniereinheiten der Grenztruppen die L-förmigen Elemente der etwa 3,60 Meter hohen Mauer (andere Quellen gehen von 4,20 Metern aus), die sich auf einer Länge von 1,3 Kilometern am Grenzverlauf zwischen Großensee und Kleinensee erstreckte. 1973 waren die Bauarbeiten abgeschlossen.
Auf beiden Seiten waren die Maßnahmen von großer Anspannung begleitet. Einheiten der US-Armee waren nach Kleinensee vorgerückt und hatten auf einem Feldweg, direkt an der Staatsgrenze und gegenüber den Bauarbeiten, Stellung bezogen. Von Osten waren, alarmiert durch einen Grenzalarm, ebenfalls schwer bewaffnete Einheiten angerückt. Hinzu kam, dass ein Angehöriger der Grenztruppen während der laufenden Arbeiten in den Westen geflüchtet war.
Ein ehemaliger DDR-Grenzpfosten steht an einem kleinem Stück Zaun der ehemaligen DDR-Grenzbefestigung zwischen Großensee in Thüringen und Kleinensee in Hessen (im Hintergrund) mit dem riesigen Kaliberg dahinter. Aufnahme von 2019 (© picture-alliance/dpa, Frank Rumpenhorst)
Ein ehemaliger DDR-Grenzpfosten steht an einem kleinem Stück Zaun der ehemaligen DDR-Grenzbefestigung zwischen Großensee in Thüringen und Kleinensee in Hessen (im Hintergrund) mit dem riesigen Kaliberg dahinter. Aufnahme von 2019 (© picture-alliance/dpa, Frank Rumpenhorst)
Bereits am 10. November 1989 kam es im Werratal auf beiden Seiten der Grenze zu Demonstrationen. Am 23. November organisierten die beiden Kirchengemeinden Protestaktionen und forderten, ein Mauerelement zwischen den Orten zu beseitigen. Wenige Wochen später, am 10. Dezember, wurde das erste Element der Mauer zwischen Großensee und Kleinensee entfernt. Am 16. Dezember wurde ein regulärer Grenzübergang eingerichtet. Damit war die Trennung der Orte endgültig überwunden. Heute sind die mehr als 40 Jahre getrennten Verbindungen wieder gewachsen. Beide Orte sind in gemeinsamen Vereinen organisiert. Auch verwandtschaftliche Beziehungen wurden wieder aufgenommen. Bis heute erinnern sich die älteren Bewohner beider Orte an die Jahre vor und während der deutschen Teilung. Dass Großensee und Kleinensee wieder zusammengefunden haben, ist für sie auch mehr als 30 Jahre nach der Wiedervereinigung ein Wunder.
Zitierweise: Maximilian Kutzner, "Kleinensee und Großensee. Zwei Dörfer im hessisch-thüringischen Grenzgebiet", in: Deutschland Archiv, 12.12.2023, Link: www.bpb.de/543621/