Die 1950 geborene Regina Scheer gehört zu den aus der DDR stammenden AutorInnen, die sich ein immer größer werdendes Publikum erschließen konnten. Ihre Werke nehmen sich vor allem historische Themen und Persönlichkeiten der deutsch-jüdischen Geschichte vor. Schon ihr erstes, 1992 erschienenes Buch Ahawah, das vergessene Haus basierte auf Recherchen über ein jüdisches Kinderheim mit hohem pädagogischen Anspruch in der Berliner Auguststraße, das schließlich zur Sammelstelle für Deportationen in die Todeslager wurde. 2004 erschien Im Schatten der Sterne. Eine jüdische Widerstandsgruppe, womit sie dem von Herbert Baum geleiteten Widerstandsnetzwerk ein Denkmal setzte. Wir sind die Liebermanns behandelte 2006 die lange erfolgreiche und im Nationalsozialismus tragisch endende Familiengeschichte des Malers Max Liebermann. Mit Machandel lieferte sie 2014 einen vielschichtigen Roman über oppositionelle Strömungen in der DDR. Und mit Gott wohnt im Wedding erzählte sie 2019 Geschichten und Geschichte des multikulturellen Berlins.
Obwohl ihre fünfzehn Bücher auf historischen Forschungen basieren, sieht sich Scheer nicht als Sachbuchautorin. Sie stehe für ein literarisches Genre, das genau Recherchiertes mit mitfühlenden und subjektiven Perspektiven verbinde. Scheer war selber überrascht, dass ihr 2023 erschienenes Werk „Bittere Brunnen. Hertha Gordon-Walcher und der Traum von der Revolution" den Preis für Sachbuch und Essayistik der Leipziger Buchmesse gewann. Berührende persönliche Erinnerungen wurden hier mit einer enormen Forschungsleistung kombiniert. Somit hat das Buch das Potenzial, einem größeren Publikum ein wenig bekanntes historisches Kapitel der deutschen ArbeiterInnenbewegung zu erschließen.
Bittere Brunnen, Hertha Gordon-Walcher
Die Protagonistin von „Bittere Brunnen", Hertha Gordon–Walcher (1894-1990), gehörte zu den Frauen des 20. Jahrhunderts, die Enormes leisteten, aber zu ihrer Lebenszeit und in der Erinnerungskultur vor allem als Schatten berühmter PartnerInnen wahrgenommen wurden. Das hing damit zusammen, dass Frauen, wenn sie überhaupt eine Ausbildung absolvieren und berufstätig werden konnten, vor allem unterstützende Berufe offen standen, ohne die Männer in „Funktionen“ wiederum nicht auskamen. Herta Gordon war von 1920 bis 1925 allerdings zunächst persönliche Sekretärin einer Frau, die zu den damals ganz wenigen, meist aus bürgerlichen Kreisen stammenden Frauen gehörten, die in Kunst oder Politik in Spitzenpositionen gelangten: Clara Zetkin (1857-1933). Neben Rosa Luxemburg war sie die bekannteste Vertreterin des marxistisch-revolutionären Flügels der SPD und auch deren profilierteste Frauenrechtlerin. Während ihrer Zeit als Sekretärin Zetkins– die 1918 aus konspirativen Gründen eine Scheinehe eingegangen war – arbeitete Hertha auch schon für den charismatischen Gewerkschafter und Zetkin-Vertrauten Jacob Walcher (1887-1970), dessen Lebensgefährtin und ständige Helferin sie später wurde.
Die Beziehung von Regina Scheer zu den Walchers
Scheer hat die Walchers schon als Kind gekannt und als liebevollen Ersatz für ihre Großeltern erlebt. Für die Heranwachsende wurde besonders Hertha immer mehr zur wichtigen Wissensquelle von in der DDR tabuisierten Kapiteln der deutschen und der internationalen ArbeiterInnenbewegung. Die Walchers hatten selbst wichtige Rollen innegehabt und auch in engstem Kontakt mit Personen gestanden, die in der DDR als Unpersonen galten, wie zum Beispiel Karl Radek, Heinrich Brandler, August Thalheimer, Leo Trotzki und nicht zuletzt Willy Brandt. Und sie hatten DDR-Politiker wie Wilhelm Pieck und Walter Ulbricht in Situationen erlebt, die der Öffentlichkeit unbekannt blieben. Die Demütigungen, die sie als RückkehrerInnen aus dem West-Exil in der DDR und als ehemalige Mitglieder dissidentischer kommunistischer Parteien erlitten, machten es Hertha auch nach Rehabilitierung und staatlichen Ehren unmöglich, selbst über ihre Erfahrungen zu schreiben. Scheers Gespräche mit „Tante Hertha“ hatten aber einen beträchtlichen Anteil daran, dass die junge Frau zur kritischen Intellektuellen wurde. Früh fertigte sie Notizen über die Gespräche an und forschte auch bereits mit den in der DDR begrenzten Mitteln über das, was nicht in den Geschichtsbüchern stand. Insofern stellt die Monographie auch ein Vermächtnis dar: „Wenn ich die Zettel nicht aus ihren Mappen nehme, wenn ich Herthas Geschichte oder das, was ich darüber weiß, nicht erzähle, wird es niemand mehr tun“ (S. 42).
Hertha, geboren 1894 in Königsberg
Hertha kam in der bescheidenen, aber gebildeten jüdischen Familie Gordon in Königsberg zur Welt. Ihr Vater war Bernsteinsortierer in einer königlich-preußischen Manufaktur. Die Eltern sprachen Jiddisch, beherrschten auch Litauisch und Russisch, fühlten sich aber als Deutsche und besaßen die deutsche Staatsbürgerschaft. Das war auch der Fall bei Herthas Schwestern. Weil die Staatsbürgerschaft zunächst kaum von Bedeutung war, hatte der Vater aber wohl vergessen, auch Hertha als Deutsche zu melden. Das wurde später zum Problem.
Um ein Zubrot zu verdienen, stellte die Familie Schlafplätze für Durchreisende zur Verfügung. Nach der gescheiterten russischen Revolution von 1905 beherbergte man auch einmal eine Gruppe von Aktivisten, die vor der zaristischen Geheimpolizei geflohen waren und sich auch vor der Königsberger Fremdenpolizei verbergen mussten. Die ältere Schwester Rosa erklärte Hertha, dass diese Männer für die „Revolution“ arbeiteten, „das bedeutete Gerechtigkeit für alle, gute Löhne für die, die arbeiteten, jedes Kind, das lernen wollte, sollte auf eine höhere Schule gehen können. Kein Mensch sei mehr wert als ein anderer.“ Diese Maxime empfand Hertha als kompatibel mit einem Spruch ihres Vaters: „Say a mentsch!“ Dass diese Männer bereit waren, ihr Leben für ihre Überzeugungen einzusetzen, wurde auch zu ihrer Haltung. Zeitlebens erinnerte sie sich auch an nützliche Lehren des Rabbiners Hermann Vogelstein, der sie nicht nur religiös, sondern auch sprachwissenschaftlich unterwies. Obwohl schon das junge Mädchen nicht an einen Gott glauben konnte, blieb ihr seine Erzählung vom bitteren Wasser der Brunnen von Mara im Gedächtnis. Die fast verdursteten, aus Ägypten geflohenen Israeliten machten es trinkbar, indem sie Holz hineinwarfen, das das bittere Magnesium aufsaugte. Später hatte sie oft „selbst das Gefühl, nach dem Marsch durch die Wüste durstend vor einem Wasser zu stehen, das bitter war, vergiftet. Dann erinnerte sie sich an das rettende Holz und suchte danach“ (S. 58-62).
Zur Ausbildung nach London und Sekretärin von Clara Zetkin
Höhere Schulen oder gar ein Studium konnte sich die Familie nicht leisten. Hertha ergriff 1912 eine Chance, die bereits Rosa wahrgenommen hatte: Eine Wohltätigkeitsorganisation bot jungen Jüdinnen in London eine Ausbildung zur Sekretärin an. Dort erlebte sie die Sufragettenbewegung, die ihr Interesse an der Frauenemanzipation weckte. Das Thema elektrisierte sie, als ihr 1914 Die Gleichheit. Zeitschrift für die Frauen und Mädchen des werktätigen Volkes in die Hände fiel. Seit Clara Zetkin 1892 die Leitung dieses SPD-Organs übernommen hatte, wurde es eine auflagenstarke Zeitschrift, die geschickt neben Theoretisch-Politischem der Frauenfrage auch Probleme der Erziehung, der Ernährung, des Familienlebens sowie Kunst und Literatur behandelte. Begeistert schrieb Hertha einen Brief an die Redaktion.
Für Zetkin, die sich bereits in der sich anbahnenden Zerreißprobe der Partei bezüglich des herannahenden Krieges befand, bedeutete der Brief Ermunterung in ihrer schwierigen Arbeit. In ihrer Antwort lud sie Hertha zu sich ein, falls sie einmal nach Stuttgart käme. Da sie bei Kriegsausbruch England verlassen musste und ihr zufällig eine Arbeit in Stuttgart-Cannstatt angeboten wurde, trafen sich beide schon 1915.
Zetkin sprach sechs Stunden lang mit der jungen Frau und ironisierte die Suffragettenbewegung als Kampf um ein „Damenwahlrecht“.
Zetkin erkannte, dass Hertha mit ihrer Londoner Ausbildung, ihren beträchtlichen Fremdsprachenkenntnissen und ihrem soliden politischen Bewusstsein wertvolle Unterstützung für die Antikriegsbewegung leisten konnte, und vermittelte sie an die Gruppe des SPD-Landtagsabgeordneten Fritz Westermeyer, der auch Vorsitzender einer „Gruppe Internationale“ war, die eine kleine Zeitung herausgab.
Im Hinterzimmer von Westermeyers Zigarettenladen stenografierte sie nachts nach Diktat und lernte auch die weiteren Entwicklungsstufen einer Zeitung kennen. Tagsüber arbeitete sie als Bürokraft in einer Fabrik, wurde aber bald entlassen, weil sie für die Gewerkschaft agitiert hatte. Nach weiteren ähnlichen Vorfällen, durch die sie bereits der Polizei aufgefallen war, gab ihr Zetkin Unterweisungen für konspiratives Verhalten. Da die nationale und internationale Kommunikation ihrer besonders an Frauen gerichteten Antikriegsarbeit nicht der Post anvertraut werden konnte, wurden sichere Boten für das In- und Ausland benötigt. Zu ihnen gehörte Hertha bald. Vielleicht, um in dieser Tätigkeit geschützt zu bleiben, wurde sie weder Mitglied der SPD noch später der USPD. Im Umkreis von Zetkin lernte sie nun den mit witzigen Reden brillierenden Jacob Walcher kennen. Wie Westermayer war er ein charismatischer Gewerkschafter. Aus einer schwäbischen Bauernfamilie stammend, hatte der gelernte Dreher die Chance ergriffen, an der Berliner Parteischule der SPD bei Rosa Luxemburg zu studieren. Zu einer persönlichen Beziehung kam es damals noch nicht.
Da die aktiven Kriegsgegner immer stärker verfolgt wurden, sollte sich Hertha 1917 für eine Weile in ihre Heimatstadt Königsberg zurückziehen. Dort wurde sie festgenommen, weil sie staatenlos und auch schon als Antikriegsagitatorin aktenkundig war. Für ein Jahr wurde sie in einem Gefangenenlager in Holzminden interniert. Wohl durch Intervention Zetkins – und offenbar als vermeintliche Russin – gelangte sie in einem Gefangenenaustausch 1918 ins revolutionäre Moskau. Dort fand sie einen Empfehlungsbrief ihrer Mentorin für Wladimir I. Lenin vor, den sie sofort aufsuchen sollte. Zetkin lobte Hertha als „treuer, zuverlässiger Charakter, eine überzeugte Sozialistin“, und sie hoffte, dass es „in Rußland irgendwelche Beschäftigung für sie gibt“
Nach dem Ersten Weltkrieg
Als 1918 die deutsche Novemberrevolution ausbrach, sollten Radek und seine Sekretärin zur Unterstützung der Spartakisten nach Deutschland gehen. Zur Reisegruppe gehörten auch Adolf A. Joffe und Nikolai Bucharin – wie Radek später Opfer des stalinschen Terrors. Wohl, um die junge Regina Scheer vor solchen, in der DDR lange tabuisierten Fakten „zu schützen“, sprach Hertha „nicht gern“ über das Ende dieser und anderer „Dissidenten“. Mit Menschen, die deren Geschichten kannten, sei sie offener gewesen: „Das gemeinsame Wissen schuf eine Nähe, die man nicht durch Geschwätzigkeit besiegeln musste“ (S. 121). Für ihr Buch hat Scheer die oft im Gulag oder gar im Tod endenden Schicksale dieser und vieler anderer WeggefährtInnen Herthas recherchiert. Aufträge der Komintern in Berlin ausführend, wurde sie zusammen mit ihrem Scheinehepartner Hermann Osterloh verhaftet. Als sie wieder freikam, war Rosa Luxemburg schon ermordet und die Revolution, von der Hertha geträumt hatte, bereits niedergeschlagen. Sie und ihre damaligen Genossen hielten sie hingegen nur für hinausgeschoben. Zusammen mit Radek kam sie erneut ins Gefängnis. Zurück in Stuttgart, sollte sie den von der Polizei gesuchten Sekretär der dortigen KPD unterstützen. Das war nun Jacob Walcher, und jetzt verliebte sie sich in ihn: „Wie eine Fliege auf der Leimroute blieb ich an ihm kleben.“ „Zwei Verbindungen bin ich eingegangen im Leben. Die zur Partei und die zu Jacob. Beide brachten mehr als genug Enttäuschung und Schmerz. Und beide waren unlösbar“ (S. 141). Über den persönlichen „Schmerz“ sagte sie zu Scheer: Sobald sie merkte, „dass eine andere Frau Jacob etwas bedeutet; oder wenn eine offensichtlich Gefallen an ihm fand, dann zog ich mich immer zurück, schade, das waren oft ganz wunderbare Frauen“ (S. 164).
Befremdlich ist, dass Hertha von „der Partei“ sprach. Denn sie war 1915 Mitglied von Westermeyers Gruppe Internationale gewesen, arbeitete für Personen des marxistisch-revolutionären Flügels der SPD und der USPD und war 1919 Gründungsmitglied der KPD. Nach Walchers und ihrem Ausschluss 1928 traten beide der Kommunistischen Partei-Opposition (KPO) bei, später der Sozialistische Arbeiterpartei (SAP).
Rückkehr nach Deutschland (SBZ) mithilfe von Bertolt Brecht und Mitgliedschaft in der SED
Nach Emigration und Krieg wurden Hertha und Jacob 1947 Mitglieder der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED). 1951 schloss man beide aus der Partei aus, 1956 wurden sie wieder aufgenommen und rehabilitiert. Hertha starb als Mitglied der Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS), der Nachfolgepartei der SED. Obwohl dieser Weg voller Brüche war, fühlte er sich für sie selbst offenbar als Kontinuität der Suche nach einem wahren Weg zur Revolution an – nach dem Holz, das bitteres Wasser trinkbar machte. Scheers Bild der späteren Hertha Walcher hält indes Ernüchterung fest: Anders als jüngere und historisch weniger erfahrene SED- beziehungsweise PDS-Genossen nahm sie das Ende der Sowjetunion doch mit Fassung hin – obwohl sie deren Anfänge enthusiastisch miterlebt hatte und während der Weimarer Republik als Mitarbeiterin am Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPDSU in Moskau und in der sowjetischen Handelsvertretung in Berlin als wichtiges Verbindungsglied zwischen der KPD und den russischen Bolschwiken fungiert hatte.
Die schmerzlichen Brüche in dem Strom, den Hertha zunächst als ihre „Familie“ und dann als „die Partei“ empfand, wurden durch fatale Richtungskämpfe ausgelöst. Jacob galt in der KPD als „Rechter“, weil er früh mangelnde Demokratie in der Sowjetunion sah und die Linie der von Moskau gesteuerten Roten Gewerkschaftsinternationale, für die er selber arbeitete, immer weniger vertreten konnte. Er plädierte für eine große Einheitsgewerkschaft, die er wegen des Erstarkens der Nationalsozialisten für erforderlich hielt. Weil er und Hertha dem von Josef Stalin in der KPD durchgesetzten Verteufelungskurs der SPD als „Sozialfaschisten“ nicht folgten, wurden sie 1928 ausgeschlossen.
Zusammen mit Brandler und Thalheimer gründeten sie die KPO, die – anders als die Komintern – keinen neuen revolutionären Aufschwung kommen sah, sondern angesichts der faschistischen Gefahr keine Vertiefung der Spaltung, sondern ein Zusammengehen der ArbeiterInnenbewegungen anstrebten, insbesondere in den Gewerkschaften. Trotz einiger Erfolge in Kommunalparlamenten gelang es der KPO nicht, eine Massenpartei wie die KPD zu werden; sie blieb eine Sammlungsbewegung brillanter Intellektueller. Aber auch hier kam es zu erbitterten Richtungskämpfen. 1931 traten Jacob und Hertha der SAP bei, die den Zusammenschluss von KPD, KPO und SPD umso entschlossener herbeizuführen suchte, was ebenfalls nicht gelang. Nach der Machtübertragung an Adolf Hitler gingen die beiden nach Frankreich, wo sie für das Überleben der SAP im Exil arbeiteten. Ihr illegales Auslandsbüro in Paris leitete Hertha. Nach mehreren Internierungen gelang ihnen auf abenteuerlichen Wegen die Flucht in die USA. Dort heirateten sie 1941. Jacob arbeitete wieder als Dreher. Auch in den Vereinigten Staaten hielt die Verbindung vieler dorthin emigrierter Mitglieder von SAP und KPO. Einige, darunter auch die Walchers, wandten sich nach Hitlers Überfall auf die Sowjetunion dieser wieder stärker zu.
In den USA entwickelte sich auch eine freundschaftliche Beziehung zu Bertolt Brecht, der sich für die verschiedenen Perspektiven der politischen Strömungen interessierte, in denen die Walchers gewirkt hatten. Für ein geplantes, aber nicht realisiertes Stück informierte er sich auch über Jacobs Erfahrungen mit Rosa Luxemburg. Mit einer Geldspende ermöglichte Brecht den beiden schließlich die Rückkehr.
Eine besondere Beziehung zu Willy Brandt
Ein bedeutender Strang des Buchs ist die Beziehung der Walchers zu Willy Brandt, der als Jacobs „Ziehsohn“ aus der SAP-Zeit gilt. Walcher war es auch, der Brandt zum Exil in Norwegen verhalf. Scheer erinnert an ein rückblickendes Zitat Brandts über ihn: „Man kann sich heute kaum noch vorstellen, welche Bildung, auch klassischer Prägung, und welches Kunstverständnis sich dieser Typus eines klassenbewussten Arbeiters angeeignet hatte“ (S. 85). Sie zeichnet auch das Auseinanderdriften der Walchers und Brandts nach: Während Letzterer wegen des ins Unmenschliche abgleitenden Stalinismus zunehmend meinte, den demokratischen Sozialismus mit der Sozialdemokratie realisieren zu können, entschieden sich die Walchers – trotz allem –, in der Sowjetunion die Garantin sozialistischer Zukunft zu sehen. Obwohl Brandt sie deshalb als „Gesundbeter“ des Stalinismus betrachtete (S. 349), blieb er ihnen persönlich verbunden.
Als sie in der frühen DDR in Gefahr schwebten, verhaftet zu werden, bot er ihnen sicheren Transfer nach Westberlin an. Über seine Zeit als Bürgermeister und Bundeskanzler sowie seinen vom DDR-Spion Günter Guillaume verursachten Rückzug fehlen Herthas Kommentare, weil Scheer nicht danach gefragt hatte. Sie kannte damals nur den in der DDR verteufelten Brandt. Aber derlei Querverbindungen in der Geschichte der deutschen Linken wurden nicht nur im Osten, sondern auch im Westen gern ausgeblendet. „Irgendwann wird man diese Geschichten auch erzählen können“, hörte Scheer Hertha sagen. „Du wirst es noch erleben“ (S. 269).
Gespräche über (fast) ein Jahrhundert Leben
Die Gespräche mit Hertha Walcher erschlossen Regina Scheer auch viele Lebenswege von weiblichen Bekannten und Freundinnen aus der ersten emanzipierten Frauengeneration, die ebenfalls enorme Lebensleistungen vollbrachten, aber noch keinen Platz in der auch heute noch patriarchalisch dominierten Erinnerungskultur haben.
Lebenswege und Aktivitäten vieler solcher Frauen bilden einen besonders verdienstvollen und detailreichen Strang des Buches, auf den hier jedoch nicht weiter eingegangen werden kann. Ein weiterer Aspekt, der wohl auch mit der Fokussierung auf weibliches Wahrnehmen zusammenhängt und sehr zur Lesbarkeit beiträgt, sind die vielen Beobachtungen über Benehmen und Haltung der politischen AktivistInnen, mit denen Hertha zu tun hatte. So beruhte Clara Zetkins Popularität auch auf dem Temperament, das sie noch in fortgeschrittenem Alter bei der Agitation entfalten konnte. Auf dem Parteitag der KPD 1919 kämpfte sie gegen die Strömung, die sich dem Parlamentarismus verweigerte, den sie wiederum als Chance für die Partei sah. Als Polizisten in den Saal eindrangen, sah Hertha erschrocken, „wie Clara, die ja eine gewisse Vorliebe für Pathos und theatralische Auftritte hatte, ohne Hilfe auf einen Tisch kletterte und vor begeisterten Versammelten die Lutherworte deklamierte: ‚Und wenn die Welt voll Teufel wär´ / Und wollt uns gar verschlingen, / So fürchten wir uns nicht so sehr: / Es muss uns doch gelingen!‘“ (S. 145).
Zitierweise: Sabine Kebir, „Der patriarchalen Erinnerungskultur entrissen: Hertha Gordon-Walcher. Eine Rezension von „Bittere Brunnen. Hertha Gordon-Walcher und der Traum von der Revolution“ ", in: Deutschland Archiv, 12.12.2023, Link: www.bpb.de/543604.