Spurenverwischer
Wie sich Walter Ulbricht und Erich Honecker vor ihren Biografen verstecken
Wolfgang Templin
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Der Philosoph und Publizist Wolfgang Templin über zwei neue Teilbiografien. Die beiden Bände von Martin Sabrow und Ilko-Sascha Kowalczuk beschreiben unabhängig voneinander, wie die beiden mächtigsten SED-Funktionäre an die Spitze der DDR gelangen konnten, Walter Ulbricht und Erich Honecker als "Meister" und "Schüler". Beide hinterließen nur wenige verlässliche Spuren ihres Werdegangs und färbten einiges schön.
Mehr als dreißig Jahre nach dem Ende der DDR wird immer deutlicher, wie viele „weiße“ und „schwarze Flecken“ es gibt, wenn es um die Geschichte des zweiten Deutschen Teilstaates geht; seine Verklammerung mit der Entwicklung der Bundesrepublik, seine Existenz als entscheidender Teil des sowjetischen Herrschaftsimperiums im sogenannten Ostblock.
Nicht, dass die DDR nicht bereits in den Jahrzehnten ihrer Existenz zum Gegenstand zeithistorischer Forschung und Reflexion geworden wäre. Darstellungen und Memoiren von Zeitzeug*innen, Opfern der Diktatur, Personen des Widerstands, Mitläufer*innen und Täter*innen liegen vor, biografische Darstellungen verschiedenster Art sind vorhanden. Nach 1989 kam mit der Öffnung der Archive des Ministeriums für Staatssicherheit und der Archive der Parteien- und Massenorganisationen entscheidendes Quellenmaterial dazu. Gegen politische und gesellschaftliche Widerstände wurden zwei parlamentarische Enquete-Kommissionen durchgesetzt, die erfolgreich arbeiteten. 1998 entstand eine eigene Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.
Die DDR nur „historische Fußnote“?
Dennoch schien der Staat DDR lange Zeit nur eine Art diktatorisches Anhängsel zu einer durch die Entwicklung der demokratischen Bundesrepublik bestimmten gesamtdeutschen Geschichte zu sein. Von Zeithistorikern wie Hans-Ulrich Wehler wurde sie zu einer Art regionalgeschichtlicher „historischer Fußnote“ deutscher Gegenwartsgeschichte herabgestuft. Andere Historiker*innen protestierten hier vehement. Ein eigener Historikerstreit entbrannte.
Zahlreiche solide Arbeiten zur politischen Geschichte, Sozialgeschichte, Alltagsgeschichte der DDR existieren, Personen der politischen, wirtschaftlichen, intellektuellen und kulturellen Elite der DDR wurden zum Gegenstand biografischer Darstellungen. Etwas fehlte jedoch.
Wenn sich die vier Jahrzehnte, in denen die DDR als Staat existierte, und ihre kurze Vorgeschichte nach 1945 mit zwei Namen verbinden, dann sind es die von Walter Ulbricht und Erich Honecker. Jenseits der Verkürzung, dass große Männer (oder Frauen) Geschichte machen, stehen sie stellvertretend für die sogenannte Ulbricht- und Honecker-Ära, die sie maßgeblich prägten. Es gab zahlreiche gute und weniger gute Gründe, dass ihre Personen, trotz aller Versuche, bis vor kurzem keine wirklichen Biografen fanden. Abrisse, Hagiografien, hasserfüllte Verrisse, offizielle Auftragsarbeiten existierten allerdings.
Mit Ilko-Sascha Kowalczuk und Martin Sabrow wagten sich jetzt zwei anerkannte Zeithistoriker an diese Aufgabe und haben zu Walter Ulbricht und Erich Honecker (Teil)-Biografien vorgelegt, die allen wissenschaftlichen Standards standhalten sollen, die ausschließlich aus vorhandenen und neuerschlossenen Quellen erarbeitet sind und Elemente biografischer Fiktion ausschließen. Wie weit dieses Unternehmen gelungen ist, lässt sich abschließend erst sagen, wenn den jeweils vorliegenden Bänden die Fortsetzungen folgen, welche die Protagonisten auf dem Gipfel ihrer Macht zeigen. Aber eine Zwischenbetrachtung sind beide Bände bereits jetzt wert.
Der Meister
Ilko-Sascha Kowalczuk hat zunächst den rund tausendseitigen Band „Walter Ulbricht. Der deutsche Kommunist“ vorgelegt, der die Jahre 1893 bis 1945 umfasst, Jahrzehnte, die seinen Helden an die Spitze der Kommunistischen Partei führten. Ihm soll in Kürze der zweite Band „Ulbricht, der kommunistische Diktator“ folgen, der nicht weniger monumental ausfallen dürfte.
Um die Leser*innen damit vertraut zu machen, was sie erwartet und die Gründe zu benennen, die ihn zum Ulbricht-Biografen werden ließen, stellt Kowalczuk dem Ganzen eine kurze Einleitung („Vom Schreiben einer Biographie“) voran. Gleich der erste griffige Satz lässt aufmerken (ISK, WU, S. 13):
„Walter Ulbricht war mir immer fremd“, bekennt der Biograf. Er sei ihm auch beim Schreiben der Biografie nicht zu nahe geworden. Keine Banalität, wie er zu Recht anmerkt, denn das Verhältnis von Nähe und Distanz zum Gegenstand ist ein Grundproblem für jeden Biografen. Kann es im Verlauf einer jahrelangen, mühevollen Arbeit ganz ohne Empathie und Sympathie gehen? Was muss an deren Stelle treten, wenn man sich mit dem Helden „nicht unbedingt in der Freizeit zum Abendessen treffen will“, wie Kowalczuk eingesteht [Ilko-Sascha Kowalczuk (ISK), Walter Ulbricht (WU), S. 15].
Der Historiker beschreibt, was ihn bei aller Distanz an dem Mann vor 1945, vor 1933, vor 1918 faszinierte, interessierte, aufhorchen und staunen ließ, was ihn beeindruckte, mehr als er vermutet hatte. Er wurde unter der Hand zu „seinem Ulbricht“. Zwickmühlen des Biografen. Kowalczuk hält fest: „Die Biographie ist ein Geschichtsbuch, in dem sich Zeiten, Strukturen, Ereignisse und Person miteinander vermischen.“ Und er muss sich entscheiden. In seiner Biografie soll nur vorkommen, was er meint, beweisen zu können.
Berühmte Beispiele für historische Romanbiografien vor Augen, wie den Autor Dieter Kühn, den Kowalczuk bewundert, beschließt er einen eigenen Weg: „Die ernstzunehmende prosaische Biographie fußt auf wissenschaftlicher Forschung, die das Material bereitstellt, um prosaische Kunst entstehen zu lassen. Ich verstehe mich als Kärrner“ (ISK, WU, S. 26).
Als Kärrner leistet Kowalczuk Titanisches. Wer die tausend Seiten des ersten Bandes mit funktionierendem Gedächtnis und begleitender Feder durchgegangen ist, kann sich sicher sein, jede akademische Examensprüfung in Geschichte der KPD und der Kommunistischen Internationale glänzend zu bestehen. Diese Leistung gesteht ihm auch der Honecker-Biograf Martin Sabrow zu. Beide liefern sich wohl eine Art internes Rennen, dessen Ausgang ungewiss ist.
In einer Rezension (FAZ vom 27.10.2023) lobt Sabrow die bisher gründlichste und erstaunlichste Materialgrundlage bei Kowalczuk, in der sich analytische Präzision und Mut zur Neudeutung verbänden. Gleichzeitig benennt er die wohl größte Hürde für jeden Ulbricht-Biografen: Der spätere Führer der KPD war ein Meister im Unterdrücken, Verwischen und Umdeuten der eigenen Lebensrealität. Hierin war er seinem gelehrigen Zögling, späteren Gefolgsmann, Konkurrenten und Nachfolger Erich Honecker weit überlegen.
Der Lehrling hatte von seinem Meister gelernt, wie man sich geduldig und konsequent in die Nähe der Spitze arbeitet, im richtigen Moment zum Zug kommt, die ganze Macht an sich reißt und gegen alle Konkurrenten verteidigt. So schaffte es Honecker um 1970, Ulbricht gegen dessen Willen auszuschalten, in die Bedeutungslosigkeit abzuschieben und das Ganze wie eine normale Wachablösung aussehen zu lassen. Alle anderen Thronprätendenten hatten das Nachsehen.
Ging es um die eigene Biografie, verfing sich Honecker jedoch mehr als ungeschickt im Netz von Jugendsünden, Verfehlungen, Schönfärbereien und nachgeschobenen Lügen, sodass es ganzer Heerscharen systemtreuer Interpreten bedurfte, ein mustergültiges Bild des Ulbricht-Nachfolgers in die Öffentlichkeit zu heben.
Ulbrichts verschlüsselte Nachrichten
Kowalczuks aufwendige Spurensuche in allen Lebensphasen des frühen Walter Ulbricht, die Rekonstruktion der Familien- und Jugendgeschichte, ist beeindruckend, hat aber ihren Preis, den auch Sabrow benennt. Der Kärrner prüft jede Meldeadresse, geht jedem Pseudonym nach, versucht Gerüchte und falsche Zuschreibungen, Erfundenes von Belegbarem zu trennen. Er verfolgt die Spuren der geheim gehaltenen Jugendliebe des gebürtigen Leipzigers, arbeitet sich an der nahezu unleserlichen Handschrift aufgefundener und neu entdeckter Dokumente und Protokolle ab. Ulbricht ist ihm immer wieder einen Schritt voraus. Erschließt sich die Handschrift endlich dem Historiker, fängt Ulbrich an, in Stenographie und Kurzschrift zu schreiben, die auch noch verschlüsselt wird.
Später kommt das bolschewistische Prinzip hinzu, dass wirklich wichtige Nachrichten nur mündlich zu übermitteln und anschließend zu repetieren sind. Schriftliches Material ist nach Kenntnisnahme zu verbrennen oder, um der Gefahr verräterischer Aschespuren zu entgehen, in kleinen Portionen zu zerkauen und herunterzuschlucken.
Wo Kowalczuk mit unglaublichem Aufwand versucht, Ulbricht Konturen gewinnen zu lassen, bleibt häufig das Personal um ihn herum relativ blutleer. Das liegt aber nicht am Autor der Biografie, der durchaus spannend und pointiert schreibt, sondern an seinem Helden, der so viel Aufwand abverlangt. Wenn Sabrow urteilt, dass es bei dem Werk doch wohl mehr um eine „biographisch getönte Institutionengeschichte“ als um eine klassische Biografie ginge, hat er nicht unrecht. Das Dilemma für Kowalczuk ist nun mal, dass die Person Ulbrichts häufig genug im Körper der Partei verschwindet und versucht, den Biografen mit hineinzuziehen.
Vertreter der KPD und der Geschichte des internationalen Kommunismus, darunter zahlreiche Frauen, konnten Farbe, Charisma und Ausstrahlung entwickeln. Ihr abenteuerliches politisches und persönliches Leben lag nicht immer offen zutage, wurde aber in zahlreichen Facetten sichtbar. Das galt für Ikonen der Bewegung wie Rosa Luxemburg und Clara Zetkin, die Geliebte Lenins, Ines Armand und die internationale Kommunistin Angelika Balabanoff, für herausragende Zeitzeuginnen wie Rosa Meyer-Levine und Margarete Buber-Neumann, um nur wenige Beispiele zu nennen.
Karl Liebknecht, der mit Rosa Luxemburg im Januar 1919 bestialisch ermordet wurde, faszinierte als politischer Akteur und verklärte. Leo Jogiches, der legendäre Gefährte Rosa Luxemburgs, schlug Anhänger wie Gegner in seinen Bann. Eugen Levine, Paul Levi, der Rechtsanwalt und späte Gefährte Rosa Luxemburgs, und selbst Karl Radek zogen die Zeitgenossen an und konnten befeuern. Ernst Thälmann, was ihm auch immer an Intellekt fehlte, wirkte wie ein Magnet auf die Massen, selbst der späte Wilhelm Pieck konnte noch zum Sympathieträger werden. Ganz zu schweigen von Hans Kippenberger, dem geheimnisumwobenen Leiter des Geheimapparates der KPD, und Willi Münzenberg, dem legendären „Roten Pressezaren“ und schillernden Leiter des größten kommunistischen Verlagsimperiums. Beide waren entscheidende Gegenspieler von Ulbricht in den Dreißigerjahren. Ohne dass sie ausgeschaltet wurden oder sich verabschiedeten, hätte er den Weg an die Spitze wohl nicht geschafft.
„Genosse Zelle“
Was sollte man aber dem knochentrockenen Apparatschik Ulbricht, dem Genossen „Zelle“, wie er genannt wurde, abgewinnen? Der Ausdruck „Zelle“ steht hier nicht für Gefängnis, in dem Ulbricht nur wenige Wochen verbrachte, sondern für eines der Lieblingssteckenpferde des kommunistischen Funktionärs: die Bildung von Betriebszellen; dem lebendig gewordenen Karteikasten, in Insiderkreisen „Kartekowitsch“ genannt.
Kowalczuk setzt sein ganzes Können und seinen Sammlerfleiß ein, um den privaten, menschlichen Ulbricht zu präsentieren, der ein liebevoller Vater und treusorgender Partner zu sein suchte. Dabei hat er Glück, denn ihm kam eine ganz eigene Suche auf den Spuren des privaten Ulbricht zu Hilfe. Florian Heyden, ein Urenkel Ulbrichts, Enkel von Martha Ulbricht, geb. Schmellinsky, Ulbrichts erster Frau, ließ die Frage nicht los, wer der mächtigste Mann der DDR nun privat wirklich war.
Der 1980 geborene Heyden, der als Manager in der Schweiz lebt und wohl keine Verbindung mehr zu spätkommunistischen Kreisen pflegt, konnte sich seinen Verwandtschaftsgrad zunutze machen. Fast ein Jahrzehnt lang durchstöberte er internationale Archive, grub noch lebende Zeitzeug*innen aus und erlangte Zugang zu Dossiers, die zahlreiche ausländische Geheimdienste über Ulbricht angelegt hatten. Immer mehr relevantes Material, darunter private Korrespondenz, tauchte auf. Aus diesem Material und Recherchen im verzweigten Kreis der Nachlebenden erwuchs das 2021 erschienene Buch „Walter Ulbricht. Mein Großvater“.
Kowalczuk, dem die Dienste wohl nicht immer den gleichen Zugang zu ihren Dossiers gewährten, gewann rechtzeitig Kontakt zu Heyden und konnte sich mit ihm austauschen. In den privaten Briefen Ulbrichts, gerichtet an seine jeweiligen Frauen und Partnerinnen, in deren Antworten und Schilderungen, taucht ein anderer Mensch auf. Die wichtigen Frauen, Rosa Michel und später Lotte Kühn, sind grundverschieden, aber sie verehren ihn, beten ihn an und kennen keine größere Erfüllung, als dem geliebten „Schufterle“ das strapaziöse politische Leben zu erleichtern. Gleichzeitig sind sie wichtige Arbeitskameradinnen und politische Kampfgefährtinnen.
"Ein Meister im Versteckspiel"
Dem Versuch der Decodierung des privaten Kosenamens in der Korrespondenz von Walter und Lotte widmet Kowalczuk besondere Mühe und dringt dazu in die Einzelheiten südwestdeutscher Idiomatik ein. Die kargen Liebesnester der jeweiligen Romanzen konnten sich in illegalen Quartieren, im wanzenverseuchten „Hauptquartier der Weltrevolution“, dem Hotel Lux, oder an noch geheimeren Orten befinden. Trotz des zeitweiligen Schutzes durch die Immunität als kommunistischer Landtags- und Reichstagsabgeordneter, sah sich der in Deutschland immer wieder steckbrieflich gesuchte Ulbricht zu den ausgeklügeltsten Quartieren und Verkleidungen gezwungen. Auch hier ein Meister im Versteckspiel. Am liebsten waren ihm Wohnungen mit mehreren Ausgängen, wie die Moabiter Ladenwohnung der Mutter der Schriftstellerin Elfriede Brüning, die drei Ausgänge besaß. Er dachte bei unangekündigtem Besuch auch nie daran, die Tür selbst aufzumachen (ISK, WU S. 481).
Die privaten Briefe und die ausufernde Parteikorrespondenz wurden durch Kuriere oder über die sowjetische Diplomatenpost befördert. Ihre spätere Aufbewahrung erfolgte in (vermeintlich) sicheren Verstecken, oder sie wurden auf komplizierten Wegen nach Moskau gebracht. Manches dürfte dort noch bis zum heutigen Tag, vor nahezu aller Augen, verschlossen sein. Für die Zwischenlagerung gab es Koffer mit doppeltem Boden.
Die Frauen an Ulbrichts Seite, vor allem Lotte Kühn, wussten jedoch auch genau, was sie wollten. Selbst Teil des Parteiapparates, als Sekretärin, Übersetzerin oder Instrukteurin, waren sie mit den Rivalitäten innerhalb des Funktionärskorps der KPD und der Komintern-Stäbe in Moskau, Wien, Prag und Paris vertraut. Ihrem „Schufterle“ den Weg nach oben zu erleichtern, ihn im Kampf gegen die Rivalen und Konkurrenten zu unterstützen, machte sich vor allem Lotte Kühn zur Lebensaufgabe. Lange bevor sie in den Zeiten tiefster Illegalität wissen konnte, wie hoch dieses Oben sein würde.
Zunächst ging es um den Platz an der Spitze der KPD. Als sich die beiden kennenlernten, war dieses Ziel noch in weiter Ferne. Die Vorgängerin von Lotte Kühn hatte Ulbricht 1925 in Moskau kennengelernt. Rosa Michel und er erklärten den 7. November, den Revolutionstag, zum Beginn ihrer Liebe. Die in Warschau geborene Maria Wacziarg hatte sich als Pseudonym den Vornamen von Rosa Luxemburg und den Nachnamen von Louise Michel, einer berühmten Kommunardin, geborgt.
Nimmt man das Jahr 1925, so waren es geradezu idyllische Zeiten für die deutschen Kommunisten. Fraktionsstreitigkeiten wurden offen geführt, linkes und rechtes Abweichlertum mit Parteistrafen und Parteiausschluss geahndet. Das konnte empfindliche soziale Konsequenzen haben, bedeutete aber in der Regel noch keine Gefahr für Leib und Leben. Stalin hatte sich nach Lenins Tod noch nicht endgültig in Stellung gebracht, und die Phase der Säuberungen, der Liquidierungen und der damit verbundene mörderische Blutrausch setzten erst einige Jahre später ein.
Denunzieren als Alltag
Zum kommunistischen Alltag in Deutschland gehörte es, dass sich die Vertreter nahezu aller ideologischen Richtungen an die Moskauer Zentrale oder an Stalin direkt wandten, um über die eigenen Genossen herzufallen, sie zu denunzieren und zu Fall zu bringen.
Ulbricht agierte hier sehr geschickt. Er hatte zeitweilig die Landesleitung in Sachsen und später auch in Thüringen inne und damit eine eigene Machtposition. Machtzuwachs war sein eigentliches Ziel, dem er die ideologischen Querelen unterordnete. Er verstand es nach außen hin, vermittelnd zwischen den Fraktionen auftreten, denunzierte geschickter und unauffälliger, aber wirksamer als seine Konkurrenten und hatte mit dem hochrangigen Komintern-Funktionär Ossip Pjatnicki, der erst 1938 im Erschießungskeller landete, einen eigenen Förderer und Vertrauten, einen mittelbaren Draht nach oben. Der direkte Zugang zu Stalin war noch in weiter Ferne. Natürlich war Ulbricht davon überzeugt, das alles zum Wohle der Weltrevolution zu tun. Persönliche Machtgelüste, Unaufrichtigkeit, gar Hinterhältigkeit, waren ihm fremd, wie alle seine Gefährtinnen bestätigen.
Im Jahre 1931 erfüllte sich ein Herzenswunsch von Rosa Michel, dem Ulbricht lange widerstanden hatte. Im Juni des Jahres kam in Moskau die gemeinsame Tochter Rose, genannt „Mimi“, zur Welt. Ihr wurde Ulbricht tatsächlich ein zärtlicher, treusorgender Vater. Mimi wurde zu einer Tochter, um die er sich auch nach der Trennung von Rosa zu sorgen suchte. Auch Lotte Kühn sollte Mimi später in ihr Herz schließen, wie die Korrespondenz bezeugt. Walter und Lotte verliebten sich beim Schlittschuhlaufen im Gorki-Park, was Lotte Jahrzehnte später so beschrieb:
„Auf der Eisbahn verliebten wir uns ineinander. Noch heute kann ich mir dieses Wunder nicht erklären. (…) Auf dem Heimweg, wir benutzten die Straßenbahn, gingen wir in den Gastronom Nr. 1 und Walter kaufte für unser Abendbrot ein. Nachdem wir zu Hause gegessen hatten, verbrachten wir die Nacht zusammen“ (ISK, WU S. 540).
Lotte Kühn war 1935 aus Gründen der Parteiräson noch mit zwei anderen Männern verheiratet, aber das tat der stürmischen Liebe keinen Abbruch. Die beiden schienen wie geschaffen füreinander, und Lotte sollte für Walter der einzige Mensch werden, dem er außer sich selbst bedingungslos vertraute. Sie kam am 19. April 1903 im Berliner Vorort Rixdorf zur Welt, der einige Jahre später zu Neukölln stieß. Anders als bei Ulbrichts geordneten Familienverhältnissen war ihre Kindheit von extremer sozialer Not und hoher Unsicherheit geprägt. Wenn Lotte Kühn später angab, die hohe Zahl ihrer Geschwister, Stiefgeschwister und Frühverstorbener nicht auseinander halten zu können, war das wohl die Wahrheit. Eines gab ihr diese harte Kindheit und Jugend aber mit – einen eisernen Willen, sich bis zum Ende durchzuboxen. Von der ungelernten Bürokraft über Stationen im Kommunistischen Jugendverband, Qualifikationen als Stenotypistin und Sekretärin bis in das Herz der Weltrevolution, nach Moskau, zu gelangen, war eine kommunistische Musterkarriere.
Zähigkeit und Durchhaltewillen sollte sie auch an der Seite Walter Ulbrichts, vor und nach 1945, beweisen. Phasen der Trennung von ihrem Geliebten verkraftete sie jedoch nur schwer. Um den Trennungsschmerz zu lindern, griff sie dann häufig zur wiederholten Lektüre der Schriften Lenins und beschrieb begeistert, welche Erbauung und Begeisterung sie dann verspürte.
Sie überlebte ihren späteren Gatten um knapp drei Jahrzehnte und wurde zur eisernen Hüterin der Erinnerung an ihn und des damit verbundenen Nachlasses. Soweit sie Zugriff darauf hatte. Ein Konvolut von Privatbriefen, der in ihrem Besitz war, gelangte nach ihrem Tod auf unklare Weise auf den Markt und wurde dort für 35.000 Euro angeboten (ISK, WU, S. 545).
Lotte Ulbricht wurde später entweder als Mutter der Nation oder ablehnend als Megäre an der Seite des Partei- und Staatschefs wahrgenommen. Sie war weit mehr, und die aufgetauchten Schätze der Privatkorrespondenz lassen vielleicht noch einen Nachwuchsbiografen auf sie aufmerksam werden. Die Jahre nach der Machtübernahe der Nationalsozialisten, dem Verbot der KPD und der Verfolgung ihrer Mitglieder stellten die Illegalen im Land und die sich auf verschiedene Länder verteilenden Emigrantinnen und Emigranten vor extreme physische und psychische Belastungen. Eine Situation, an der viele scheiterten, der sich jedoch Ulbricht sehr gut stellen konnte. Der begeisterte Sportler, Nichtraucher und Antialkoholiker bewies unglaubliches Stehvermögen, wurde selten krank und konnte depressive Phasen, die er sicher auch hatte, gut kaschieren. Während andere Mitglieder und Mitarbeiter der illegalen Landesleitung, der Emigrationsführung und des Moskauer Apparates, wie Wilhelm Pieck, monatelang die Kurorte im Kaukasus oder auf der Krim aufsuchten, oder sich wie Thälmann, vor seiner Verhaftung, ungebührlich oft krankmeldeten, gönnte er sich höchstens kurze konspirative Urlaube an der Seite seiner jeweiligen Frauen oder mit der kleinen Tochter.
Was ihm besonders am Herzen lag, waren Disziplin und eine korrekte Arbeitsweise. Wenn illegale Gruppen im Reich aufflogen, weil sich konspirative Treffen in Saufgelage verwandelten, geriet er außer sich. Im Oktober 1935, es ging um die internationale Durchsetzung der Volksfrontstrategie, mit deren Hilfe Sozialdemokraten, anerkannte Intellektuelle und bürgerliche Kräfte eingebunden werden sollten, kam es zu einer konspirativen Mammuttagung des Politbüros der KPD, dem neben Wilhelm Pieck als Parteichef und Walter Ulbricht auch Wilhelm Florin und Franz Dahlem angehörten, die als erklärte Gegner Ulbrichts galten. Eine korrekte Anfertigung des Protokolls, das zum Schluss mehr als sechshundert Seiten umfasste, musste gesichert werden.
„Wie vergiftet die Atmosphäre war, zeigte Piecks Antrag, Manuskripte auf jeder Seite zu unterzeichnen, damit nachträgliche Änderungen nicht mehr möglich waren. Nur Ulbricht stimmte ihm zu“ (ISK, WU, S. 518).
Die Spinne im Netz
Von 1933 bis 1938, also vor seinem endgültigen Umzug nach Moskau, führte Ulbricht ein unstetes, illegales Wanderleben zwischen Berlin, Prag, Wien, Paris, Moskau und weiteren Orten. Sein Biograf Kowalczuk, der Aufenthalte für die früheren Phasen lückenlos dokumentieren kann, muss hier bei den wechselnden Identitäten, verschleierten Reiserouten und Aufenthaltsorten häufig kapitulieren.
Deutlicher sind die Spuren der anhaltenden und sich verschärfenden Konkurrenzkämpfe an der Spitze, der mittlerweile lebensbedrohlichen wechselseitigen Denunziationen. Ulbricht wird hier zur Spinne im Netz. Man tut ihm nicht unrecht, wenn man ihn als den methodischsten Denunzianten sieht, der immer den richtigen Aktenordner und die passende Kartothek zur Hand hatte und dafür gefürchtet wurde.
Vor allem verstand er es, sich unentbehrlich zu machen. Wenn andere führende Genossen durch lange Kuraufenthalte, echte oder vorgetäuschte Krankheiten oder einfach durch Saumseligkeit ausfielen, sprang er ein. Schrieb Artikel zur Erläuterung der Weltlage und Propagandaschriften und half bei der Anfertigung von Protokollen. Dabei war er mindestens so pingelig wie Pieck, dem letztlich aber die letzte Härte und Konstitution fehlten, um sich an der Spitze zu halten. Was ihn zunächst noch trug, war die legendengeschmückte Vergangenheit an der Seite von Rosa Luxemburg, die langjährige Vertrautheit mit dem Apparat und die enge Nähe zu Georgi Dimitroff in Moskau.
Er denunzierte ähnlich eifrig wie Ulbricht, verstand es dabei aber immer, nachvollziehbar für alle um ihn herum Zitternden, sich für einzelne Genossen einzusetzen, denen die Lubjanka, die Deportation oder später die Rückabschiebung nach Deutschland drohten. Solche Bemühungen konnten erfolgreich oder erfolglos sein, waren vielleicht auch Balsam für die Reste eines individuellen Gewissens. Das große Gewissen war ja an die Partei abgegeben.
Ulbricht wusste, dass er Pieck als Konkurrent nicht fürchten musste, selbst wenn der, wie auch er selbst, alle Säuberungen heil überstand. Es gab da einige ungeklärte Vorfälle im Vorleben Piecks, von denen nur die wenigsten Genossen genaueres wussten, selbst wenn ab und an darüber gemunkelt wurde. Im Januar 1918 hatte der damalige Redakteur der Roten Fahne Karl Liebknecht in seinem letzten Fluchtquartier aufgesucht und wurde gemeinsam mit ihm verhaftet. Letztlich blieb ungeklärt, wie er es geschafft hatte, davonzukommen, ob durch Geschick und Täuschung der Verhaftenden oder ob ihm belastende Aussagen den Weg in die Freiheit ebneten. Sicher war da nichts, aber es gab da Polizeiakten, Zeugenaussagen und Protokolle. In so etwas kannte sich Ulbricht ja aus. ' Stalin wiederum brauchte auf den Höhepunkten der Terror- und Säuberungswelle 1937/38 natürlich weiterhin bedingungslos gefügige Helfer. Zu ihnen zählten Dimitroff, Ulbricht und Pieck. Man konnte ihnen die Instrumente zeigen, hielt sie fest an der Leine, ließ sie aber durchkommen. Ganz so irrational, wie zuweilen beschrieben, war der Terror dann eben doch nicht.
Natürlich konnte sich Ulbricht nicht sicher sein, dass er es schaffte, aber er setzte alles daran, an die Spitze zu kommen, war bereit, nahezu jeden dafür zu opfern. Einzig seine Lotte verteidigte er mit Zähnen und Klauen, als sie wegen ungeklärter Stellen im Vorleben von Erich Wendt, einem ihrer vormaligen Ehemänner, verschärft überprüft wurde und vor die zentrale Kontrollkommission musste, die als Vorhof zur Hölle galt. Es ging gut aus, und Ulbricht konnte aufatmen. Andere hatten nicht dieses Glück. Wer konnte Ulbricht jetzt noch im Wege stehen und ihm gefährlich werden, als sich mit dem Ribbentropp-Molotow-Pakt die nächste Kehrtwende abzeichnete?
Pieck war es nicht, und Ernst Thälmann, immer noch der formelle Vorsitzende und das leuchtende Banner der Partei, saß seit Jahren im KZ-Buchenwald ein. Zahlreiche Genossen im inneren Kreis sahen ihn lieber dort denn als irrlichternden Mythos in Freiheit.
Kurz nach dem Reichstagsbrand bereits wegen Hochverrats gesucht und abgetaucht, wurde er noch im März 1933, in einem seiner illegalen Quartiere, aufgestöbert und verhaftet. Glaubhaften Berichten zufolge durch eine besondere Form der Unvorsichtigkeit. Er hatte ein Verhältnis mit der Frau seines Quartiergebers, eines erprobten, treuen Genossen, begonnen. Der hätte ihn selbst niemals verraten, machte aber seinem Unmut Luft, als er, aus der Wohnung ausgesperrt, in der abgelegenen Laube in Berlin-Gatow saß. Ein Laubennachbar trug die Nachricht sofort weiter, und der Arbeiterführer saß in der Falle. Ulbricht wäre derartiges nie passiert.
Es gab mehrere mehr oder weniger diskrete Angebote von NS-Stellen und Hitler selbst, Thälmann auszutauschen, worauf sich jedoch Stalin und die KPD-Führung nicht einließen. Im August 1944 wird Thälmann schließlich ins KZ Buchenwald verlegt und dort von den Nazis erschossen. Unter intelligenten Genossen galt der Hafenarbeiter Thälmann immer als ein Mann schlichten Gemüts, der an wahnsinniger Selbstüberschätzung litt. Seinem Mythos tat das keinen Abbruch. Mit dem Zuruf „Teddy lebt“ und der erhobenen Faust machten sich die kommunistischen Illegalen in den dunkelsten Zeiten der Verfolgung Mut. Mit den gleichen Worten auf den Lippen konnte man noch weit nach 1989 in gewissen Eckkneipen des Prenzlauer Bergs Freibier bekommen. War man dann noch in die passende Thälmannjacke gekleidet und hob die Faust, konnte es sogar eine Lokalrunde werden.
Ausgeschaltete Konkurrenten
Verbliebene Konkurrenten Ulbrichts fielen nacheinander auf verschiedene Weise aus. Wilhelm Florin starb 1944 ausnahmsweise eines natürlichen Todes und wurde in Moskau mit Ehren beigesetzt. Franz Dahlem wurde als Spanienkämpfer in Frankreich interniert, überlebte, mehr tot als lebendig, mehrere Konzentrationslager und folgte Ulbricht in die spätere DDR. Hans Kippenberger wurde in Moskau 1937 als angeblicher „Reichswehragent“ zum Tode verurteilt und erschossen. Eine besondere Wendung nahm die Auseinandersetzung mit Willi Münzenberg. Der wurde nach deutlichen Zweifeln am Charakter der Moskauer Prozesse immer wieder nach Moskau zitiert und auch von Ulbricht persönlich dazu gedrängt. Münzenberg wusste jedoch, was ihn dort erwartet hätte und weigerte sich, dem Drängen Folge zu leisten. Als ehemals überzeugter Leninist und Stalinist erklärte er ab 1938 seine Abkehr davon und arbeitete am Aufbau einer demokratischen antifaschistischen Sammlungsbewegung.
Verhaftet und in Frankreich interniert, kam er auf der Flucht aus dem Internierungslager unter ungeklärten Umständen zu Tode. Historiker rätseln bis heute darüber, ob es sich um Suizid, ein Liquidierungskommando des Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten (NKWD) oder eines der Gestapo handelte. In den Folgejahren des Zweiten Weltkrieges zeichnete sich immer deutlicher ab, dass Ulricht der starke Mann an der Spitze der KPD war und blieb.
Die verschlungenen Wege bis zur Bildung der sogenannten „Gruppe Ulbricht“ im Frühjahr 1945 zeichnet Kowalczuk detailliert nach. Problematisch wird es, wenn der Historiker und Biograf Kowalczuk die Solidität und Glaubwürdigkeit von Weggefährten und Zeitgenossen Ulbrichts und ihren Wert als historische Quellen einzustufen sucht. Im Bestreben, seinen „Helden“ vor Verunglimpfungen, falschen Zuschreibungen und karikaturistischen Verzerrungen zu schützen, wirft er dann zu viele von ihnen in einen Topf.
Zwischen den Auslassungen eines späteren Skandalschriftstellers wie Gerhard Zwerenz, der Ulbricht nach seinem Verlassen der DDR tatsächlich auf primitivste Weise in den Dreck zu treten suchte, und der sachlichen und realistischen Beschreibung Ulbrichts durch Wolfgang Leonhardt liegen Welten. Sie alle mit dem Terminus „Renegaten“ oder „Proselyten“ zu fassen, bringt nicht weiter. Für Carola Stern, Margarete Buber-Neumann oder Rosa Meyer Levine, die sich alle durch schwerste Erfahrungen von ihren früheren kommunistischen Prägungen lösten und Jahrhundertbücher über ihren Weg und ihre Erfahrungen schrieben, taugt dieses Attribut schon gar nicht.
Soll man Hermann Weber, den Nestor der kritischen Kommunismus-Forschung, der noch an der Parteihochschule der SED in Kleinmachnow als Dozent arbeitete, als Renegaten einstufen, weil er sich von früheren Grundüberzeugungen emanzipierte? Hier empfehlen sich andere Begriffe und Kategorien. Eine Grenze hin zur verzerrenden Karikatur bildet sicher der Exkommunist, Journalist und Schriftsteller Gustaf Regler mit seinem Ulbricht-Porträt, das uns Kowalczuk nicht vorenthält:
„Er hatte ein von Bosheit steifes Gesicht, das sich seiner Hässlichkeit bewusst war und versuchte, sie durch den symbolischen Leninbart ums fette Kinn abzumildern, eine haarige Anleihe, die aber seinem faunischen Mund nichts von der kleinbürgerlichen Suffisance nahm. Ein beobachtendes rechtes Auge und ein halbverborgenes linkes Auge waren durch schulmeisterliche Gläser versteckt. Seine von unfruchtbaren Gedankenfurchen durchzogene Stirn war von Haarausfall höher, aber nicht geistreicher geworden. Er hatte etwas von einem verdorbenen Pfarrer, der heimlich obskure Häuser aufsucht. Alles schmeckte nach penetranter Unzulänglichkeit und einer Halbbildung, die nicht einmal verstand, sich zu verkleiden“ (ISK, WU, S. 552).
Über Geschmack lässt sich streiten, aber Züge von Realismus kann man selbst diesem Porträt nicht absprechen. Hermann Weber hat mit seinen Mitarbeitern Bedeutendes für die kritische Kommunismus Forschung geleistet, ob seine zwischenzeitliche Suche nach dem demokratischen Kommunismus nun sinnvoll war oder nicht. Wolfgang Leonhardt hat mit seinem eindringlichen Buch über die eigene Abkehr vom Kommunismus international ein Millionenpublikum erreicht und in seinen späteren Büchern immer wieder die Geschichte der DDR begleitet. Er brachte es fertig, nach dem Zusammenbruch des SED-Staates alten Weggefährten, die sich immer noch der großen Sache des Kommunismus verpflichtet sahen, ohne zu Verbrechern geworden zu sein, die Hand auszustrecken und mit ihnen lange Gespräche zu führen.
An Markus Wolff, den er noch aus den Zeiten der Komintern-Schule kannte und mit dem er als jüngstes Mitglied der Gruppe Ulbricht im Frühjahr 1945 wieder deutschen Boden erreichte, scheiterte er allerdings. Der ehemalige HVA-Chef entzog sich bei ihrer langen Begegnung jedem wirklichen Gespräch, spielte den Hobbykoch und Biedermann.
Margarete Buber-Neumann schließlich, welche die Hölle des Gulags und diedeutscher Konzentrationslager überlebte, in der Bundesrepublik selbst als Kalte Kriegerin angefeindet wurde, zog in zahlreichen Büchern eine souveräne Lebensbilanz. Ihre Nähe zu Heinz Neuman, einem der berühmtesten Fraktionsmacher der KPD in den zwanziger Jahren, hatte sie genauso verarbeitet wie die frühen Träume vom Sieg der Weltrevolution. Sie starb mit fast neunzig Jahren, mitten im Herbst der friedlichen Revolution von 1989.
Der Zögling
Martin Sabrow hat die scheinbar leichtere Aufgabe, wenn er sich nicht am Meister, sondern am Zögling abarbeitet. Das hat verschiedene Gründe. Der am 25. August 1912 in Neunkirchen an der Saar geborene Erich Honecker ist rund zwanzig Jahre jünger als Ulbricht. In seinem Buch „Erich Honecker. Das Leben davor. 1912-1945“ zeichnet der Historiker also lediglich die ersten dreiunddreißig Lebensjahre seines Protagonisten nach. Das lässt die Teilbiografie auch „nur“ rund sechshundert Seiten zählen. Die Ausstattung mit Fußnoten, es sind 1.589, ist bei aller Solidität der Vermerke nicht ganz so üppig wie bei Kowalczuk, wenn man sie ins Verhältnis zur Zahl der Seiten setzt. Jeweils solide ausgestattet, nur dass sich Kowalczuk die Illustrationen erspart, wiegen die Bände fast gleichviel. Man kann damit jeden Kritiker zu Boden werfen.
Erleichternd für Sabrow ist ein bereits erwähnter anderer Umstand. Honecker ist ein viel ungeschickterer Lügner als Ulbricht gewesen und schaffte es nicht so gut, die Spuren seiner Sünden und Verfehlungen zu verwischen. Das nutzt der Historiker gekonnt aus, und so hat er dem Beschreibungsteil, der im Jahre 1945 mit „Der Weg zu Ulbricht“ endet, einen langen Epilog (S. 447-505) angefügt. In diesem geht es unter dem Titel „Das biographische Gepäck“ nahezu ausschließlich darum, wie der zur Macht strebende und zur Macht gelangende Honecker mithilfe einer wachsenden Mann- und Frauschaft seine Jugendsünden und frühen Verfehlungen zu vertuschen und umzudeuten sucht. Er stellt sich dabei aber so ungeschickt an, dass die zu biografischen Verschönerungsarbeiten getriebenen Historiker, Archivare und Ideologiestrategen zu verzweifeln drohen. Schließlich muss der Generalsekretär eine fleckenlose biografische Weste haben.
Sabrows ausführliche Beschreibung dieser Mühen wird zu einem Lesevergnügen der Extraklasse. Zum einen geht es um die Existenz und Identität von Charlotte Schanuel, der ersten Ehefrau Honeckers, zu der er als seiner Gefängniswärterin in der Berliner Außenstelle des Zuchthauses Brandenburg eine wirkliche Bindung entwickelt hatte. Zu ihr flüchtete sich Honecker, nachdem der mit artistischem Geschick vorgenommene Ausbruchversuch bei Reparaturarbeiten auf einem von Bomben getroffenen Dach im März 1945 zu scheitern drohte. Eine tagelange Odyssee mit Erich Hanke, dem Gefährten des Ausbruchs, durch verschiedene Bezirke der schon stark zerstörten Reichshauptstadt folgte.
Im Ergebnis stellte sich heraus, dass die KPD im Untergrund faktisch nicht existierte, dass keiner der noch aufzufindenden Genossen mit einem Versteck dienen konnte oder wollte. Letzte Zuflucht blieb der trunksüchtige Onkel des Fluchtgefährten, der aber nicht bereit war, den von der Garderobe her sehr abgerissenen künftigen Generalsekretär mit unterzubringen. Hanke bleibt bei dem zweifelhaften Onkel und überlässt den Fluchtkameraden seinem Schicksal (MS, Ho, S. 391).
Letzte Hoffnung und Zuflucht für Honecker war Charlotte Schanuel, die ihn bei sich versteckte und dadurch selbst in große Gefahr geriet. Sicher nicht nur aus Dankbarkeit blieb er mit ihr zusammen und heiratet sie 1946. Ihr früher Tod nur wenig später ließ ihn mit Edith Baumann an seiner Seite eine standesgemäße Frau aus dem Parteiapparat finden. Margot Feist, von der er fast zeitgleich ein Kind bekam und die ihr als Ehefrau folgte, wurde dann ein wahres Pendant zu Lotte Ulbricht. Bewundert und gefürchtet, errichtete sie ihr eigenes kleines Imperium. Sie sollte Honecker nach seinem Tod in der Emigration in Chile noch um einige Jahre überleben. Erich und Margot Honecker kämpften nach 1989 weiter um ihre Lesart der eigenen Biografie und lieferten sich dafür selbst den windigsten Biografen aus. Charlotte Schanuel nutzte im März 1945 ihre Beziehungen zu den die Ausbrecher verfolgenden Justizorganen. Honecker stellte sich durch ihre Vermittlung, wurde diskret wieder in das Außenkommando eingegliedert und nach Brandenburg zurückgeschickt. So konnte er später versuchen, den Ausbruch umzudeuten – was ihm ebenso mit der folgenden Flucht aus Brandenburg gelang, die bereits in die letzten Tage des Dritten Reiches fiel.
Auch hier brechen sich Schilderung und belegbare Realität eklatant, was Sabrow mit Akribie herausfindet. Was die Zeitzeugen nicht mehr erzählen können, gibt die Topografie her. Sabrow folgt der behaupteten Fluchtroute und den von Honecker angegebenen Einzelheiten, Wegstrecken und Fluchtorten, misst und vergleicht. Bei seinen farbigen Schilderungen der kargen Brandenburger Landschaft und einzelner Gebäude und Gehöfte sieht man Sabrow förmlich in einer Fluchtscheune neben dem vor Kälte zitternden Honecker kauern. Hier spielt das Geheimnis eines doppelten Wintermantels hinein, der so, wie vom Flüchtenden behauptet, gar nicht existieren konnte (MS, Ho, S. 409- 432).
Zu guter Letzt lässt der Historiker dann aber Milde walten und gibt ein originelles Erklärungsmuster für die zahlreichen Verdrehungen seines „Helden“, die sich auf die Jugendbiografie beziehen:
„Dennoch wäre es verfehlt, Honeckers Jugenderzählung zu einem reinen Kunstprodukt zu erklären, dessen Wahrheitsgehalt nichts und dessen Legitimationsfunktion alles bedeutet. Honeckers Kontinuitätsbiographie konnte ihre legitimatorische Kraft nur entfalten, weil sie nicht nur von ihrem Rezipienten, sondern auch von ihrem Autor für wahr gehalten wurde. Um auch diejenigen Momente seines Lebens, die sich nicht fugenlos in die biographische Kontinuität einfügen ließen, glaubwürdig einbeziehen zu können, griff seine Ich-Erzählung auf verschiedene narrative Integrationsmuster zurück. Niemals war simples Verschweigen und nur in Ausnahmefällen glattes Verschweigen ihr Rezept, stattdessen folgte seine Lebensbeschreibung an solchen Stellen dem Prinzip der Dekontextualisierung, wie die Darstellung seiner ersten Ehefrau zeigte, die er weder verschwieg noch benannte, sondern in getrennten Rollen einführte“ (MS, Ho, S. 492).
Das mag verstehen, wer will, und sollte zum Gegenstand eines Fachkolloquiums unter darauf spezialisierten Historiker*innen werden. Bei der entscheidenden Verfehlung Honeckers, die vertuscht werden sollte, musste Sabrow als Historiker dann aber doch andere Töne anschlagen. Im Dezember 1935 wurde der in der illegalen Arbeit des kommunistischen Jugendverbands tätige Erich Honecker, nach der Übergabe eines Koffers mit brisantem Material, zusammen mit einem weiblichen Kurier und weiteren Beteiligten verhaftet. Bei seinen folgenden Vernehmungen gab er wohl weit mehr preis, als er später zugestehen wollte. Protokolle der Vernehmungen und Verfahrensakten gelangten einige Jahre später nach Moskau.
Geheimes im "Roten Koffer"
Wer hier wen verriet, wer mit wem kollaborierte, blieb lange Zeit umstritten und bedurfte jahrzehntelanger historischer Aufklärungsarbeit. Auf jeden Fall schien damals den damit befassten sowjetischen Genossen das Material für Honecker derart belastend, dass sie es in den frühen fünfziger Jahren dem späteren MfS-Chef Erich Mielke übergaben – sicher nicht, ohne eine Kopie in Moskau zurückzubehalten.
Das belastende Material wanderte in den berühmten „Interner Link: Roten Koffer“ Mielkes, der in einem persönlichen Panzerschrank in seinem Dienstsitz, zusammen mit anderen belastenden Dossiers, aufbewahrt wurde. Wenn Mielke nach 1989 treuherzig behauptete, er habe mit dem Inhalt des sorgsam behüteten Koffers nur den Generalsekretär schützen wollen, sollte man daran zweifeln. Solch ein Faustpfand bei Machtkämpfen in der Hand zu halten, war Gold wert. Hier sollte ihm auch Sabrow nicht aufsitzen.
Alles in allem überrascht in den Schilderungen der frühen Honecker-Jahre dessen absolute Mittelmäßigkeit, ob in seiner Kindheit und Jugend im Saarland oder in seinen späteren Berliner Jahren. Weit weniger strahlt der ideologische Idealismus und die Opferbereitschaft, die er zweifellos hatte. Was die Jahre der Haft anging, bezahlte er einen viel höheren Preis als sein verehrter Meister, an den er sich nach 1945 zunächst bedingungslos klammerte, um ihn dann zu überrumpeln. Was den Nobody Honecker in die Lage versetzte, sich gegen talentiertere, genauso idealistische und gesinnungstreue junge Kommunisten durchzusetzen, was Ulbricht mit Honecker im Schlepptau in den brutalen Machtkämpfen der fünfziger Jahre wiederholt siegen ließ, gibt bis heute viele Rätsel auf.
Einen Teil davon werden unsere Historiker in dem von Kowalczuk angekündigten Folgeband zu Ulbricht und dem von Sabrow hoffentlich ebenso folgenden „Honecker, das Leben danach“ mit der ihnen eigenen Akribie zu lüften suchen.
Ich kann hier nur mit Marcel Reich-Ranicki schließen: „Der Vorhang zu und alle Fragen offen“. Welche der offenen Fragen sich auch beantworten lassen, wie ihre Interpretation auch ausfällt, den Werken der beiden Biografen sind viele geduldige Leser und Leserinnen zu wünschen.
Literatur
Ilko-Sascha Kowalczuk, Walter Ulbricht. Der deutsche Kommunist (1893-1945), München 2023.
Martin Sabrow, Erich Honecker. Das Leben davor. 1912-1945, Berlin 2016.
Florian Heyden, Walter Ulbricht. Mein Urgroßvater, Berlin 2021.
Wolfgang Leonhard, Meine Geschichte der DDR. Berlin 2007.
Margarete Buber-Neumann, Kriegsschauplätze der Weltrevolution. Ein Bericht aus der Praxis der Komintern, Stuttgart 1967.
Zitierweise: Wolfgang Templin, "Spurenverwischer", in: Deutschland Archiv, 30.11.2023. Link: www.bpb.de/543175. Alle Beiträge im DA sind Recherchen und Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar. (hk)
Wolfgang Templin ist Philosoph und Publizist. Von 2010 bis 2013 leitete er das Büro der Heinrich Böll Stiftung in Warschau. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Fragen des deutsch-deutschen Vereinigungsprozesses und der Entwicklungen im östlichen Teil Europas, insbesondere in Polen und der Ukraine.
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