Der Schwangerschaftsabbruch in der DDR
Eine kritische Auseinandersetzung mit den Fakten
Jessica Bock
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Die rechtliche, politische und wirtschaftliche Stellung der Frau war zwischen 1949 und 1989 ein Hauptschauplatz im Systemwettstreit zwischen Ost und West. Über die Politisierung des weiblichen Körpers und die Implementierung sowie Verfestigung von weiblichen Geschlechterrollen wurde die eigene Fortschrittlichkeit postuliert und damit zugleich das eigene ideologisch-politische System legitimiert. Ein Feld, auf dem diese Auseinandersetzung besonders intensiv geführt wurde, ist der Schwangerschaftsabbruch. In der DDR war die rechtliche Regelung des Schwangerschaftsabbruchs einem steten Wandel unterworfen, der durch äußere und innere Faktoren beeinflusst wurde. Der Beitrag zeichnet diese Entwicklung nach und zeigt anhand ausgewählter Beispiele, wie Frauen mit den gesetzlichen Bestimmungen umgegangen sind.
1945 bis 1950
Über die gesetzliche Regelung des Schwangerschaftsabbruchs herrschte im Nachkriegsdeutschland zunächst eine gewisse Unsicherheit. Zwar setzten die Alliierten alle nach der Machtübertragung der Nationalsozialisten erfolgten Strafverschärfungen aus. Dazu zählte auch die am 9. März 1943 eingeführte Todesstrafe für Schwangerschaftsabbrüche wegen Schädigung der „Lebenskraft des deutschen Volkes“. Doch ob auch der Paragraf 218, der den Schwangerschaftsabbruch seit 1871 im Strafgesetzbuch regelte, weiterhin galt, war unklar. Die diffuse Rechtslage bedeutete vor allem für die Frauen eine enorme Belastung. War die Bewältigung des Alltags inmitten der Kriegszerstörungen und des Mangels an lebensnotwendigen Gütern ohnehin schon eine schwer zu bewerkstelligende Herausforderung, konnte eine ungewollte Schwangerschaft die Situation noch weiter verschärfen. Hinzu kamen die Massenvergewaltigungen durch alliierte Soldaten, die zu einem rasanten Anstieg von Schwangerschaften und Schwangerschaftsabbrüchen führten.
Angesichts dieser „Abtreibungsanarchie“ sahen die alliierten Machthaber und die Landesregierungen dringenden Handlungsbedarf. In der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) ergriff die Frauenabteilung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) die Initiative und legte 1946 einen Gesetzentwurf vor, der in allen Landesparlamenten der SBZ diskutiert wurde. Der Gesetzesentwurf stellte den Schwangerschaftsabbruch unter Strafe, jedoch sollte er in den ersten drei Monaten bei Vorlage einer ethischen, medizinischen oder sozialen Indikation straffrei bleiben. Allerdings war die Anwendung der ethischen Indikation nur möglich, wenn die betroffene Frau innerhalb der vorgeschriebenen Frist die strafbare Handlung bei der Polizei, einem Arzt ober dem Gesundheitsamt zur Anzeige gebracht hatte. Weiterhin sollte die „öffentliche Werbung“ oder die „Anpreisung“ von Mitteln und Verfahren für einen Schwangerschaftsabbruch strafbar bleiben. Die Debatten und Verhandlungen über den Gesetzentwurf sind bislang nur für Sachsen-Anhalt und Sachsen untersucht worden. In beiden Parlamenten verlief die Diskussion mit einer vergleichbaren Argumentation. SED-Abgeordnete wie Käthe Kern oder Elise Thümmel beschrieben den Entwurf als eine Reaktion auf die gegenwärtige Notlage, der aber zugleich den Schutz des Lebens anstrebe. Besonders die soziale Indikation, die in der deutschen Rechtsgeschichte des Schwangerschaftsabbruchs ein Novum darstellte, war in den Debatten heftig umstritten. Abgeordnete der CDU sahen in dieser Indikation eine Gefahr für den „Schutz des Lebens“ sowie für Ehe und Familie.
In ihrer Argumentation sparten sie nicht mit NS-Vergleichen und Gleichsetzungen mit dem millionenfachen Massenmord in Auschwitz und den „Euthanasie“-Programmen, wie die Wortmeldung des sächsischen CDU-Abgeordneten Bernhard Singer zeigt:
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„Verneint man die grundsätzliche Unantastbarkeit des menschlichen Lebens, wie es der Nationalsozialismus tat, ordnet man es anderen, minderen Erwägungen unter, wie solchen des Staates, des Volkes, der sozialen Verhältnisse und Nöte oder Rassen, so ergibt sich als logische Konsequenz die Vernichtung des als minderwertig angenommenen Lebens.“
Zwischen 1947 und 1950 galten in Sachsen (vom 4.6.1947 an), Brandenburg (6.11.1947), Mecklenburg (28.11.1947), Thüringen (18.12.1947) und Sachsen-Anhalt (7.2.1948) jeweils eigenständige Gesetze zum Schwangerschaftsabbruch. In Brandenburg, Thüringen und Sachsen konnte eine ungewollte Schwangerschaft aufgrund einer ethischen, medizinischen und sozialen Indikation beendet werden. In Sachsen-Anhalt fand sich keine Mehrheit für die soziale Indikation. In Mecklenburg war ein Abbruch auch auf Grund einer eugenischen Indikation möglich.
Eine selbstbestimmte Entscheidung der Frau über einen Schwangerschaftsabbruch war zu keinem Zeitpunkt während der Gesetzgebung und in der Umsetzung vorgesehen. Die Frauen mussten für ihren Schwangerschaftsabbruch einen schriftlichen Antrag stellen und diesen einer eigens dafür ernannten Gutachterkommission vorlegen, die darüber entschied. Die Gutachterkommission setzte sich aus Ärzt/innen, erfahrenen Personen aus dem sozialen Bereich und Vertreterinnen des Demokratischen Frauenbunds Deutschland (DFD) zusammen. Der Gutachterausschuss war befugt, „die Schwangere, ihren Ehemann und sonstige nahe Angehörige zu befragen und fachärztliche Gutachten“ einzuholen. Im Falle einer sozialen Indikation war die zuständige Fürsorgerin anzuhören. Gegen eine Ablehnung konnte die Frau Widerspruch einlegen und ihren Antrag auf nächst höherer Ebene erneut verhandeln lassen. Genaue Zahlen über Schwangerschaftsabbrüche in der SBZ zwischen 1945 und 1950 sind aufgrund der lückenhaften statistischen Erfassung kaum möglich. Laut Karl-Heinz Mehlan wurden zwischen 1948 und 1950 etwa 85.000 Anträge auf Schwangerschaftsabbruch gestellt. Davon waren 64 Prozent aufgrund einer sozialen Indikation gestellt, 28 Prozent waren mit einer medizinischen Indikation und weniger als ein Prozent mit einer ethischen Indikation begründet. Die Genehmigungsquoten variierten zwischen den einzelnen Ländern. Mit 83,4 Prozent wies Thüringen die höchste Genehmigungsquote auf, gefolgt von Brandenburg mit 82,7 Prozent, Sachsen-Anhalt mit 70,6 Prozent und Mecklenburg mit 62,8 Prozent. Mit 60 Prozent genehmigter Anträge bildete Sachsen das Schlusslicht. Wie sich die regional unterschiedlichen Genehmigungsquoten erklären lassen, bedarf weiterer Untersuchungen.
1950 bis 1972
Ein Jahr nach Gründung der DDR vollzog die SED eine grundlegende Reform der Regelung des Schwangerschaftsabbruchs. Am 27. September 1950 trat das Gesetz zum Mutter- und Kinderschutz und der Rechte der Frau in Kraft. Es löste alle bisher geltenden Länderregelungen zum Schwangerschaftsabbruch ab und führte mit Paragraf 11 für die gesamte DDR eine einheitliche Rechtslage ein. Diffus blieben jedoch die Bestimmungen bei Zuwiderhandlung. Bis zur Einführung des DDR-Strafgesetzbuches galten die Strafmaßbestimmungen der jeweiligen Ländergesetze von 1947/48. Laut Paragraf 11 war ein Schwangerschaftsabbruch nur zulässig, „wenn die Austragung des Kindes das Leben oder die Gesundheit der Mutter ernstlich gefährdet oder wenn ein Elternteil mit schwerer Erbkrankheit belastet ist“. Fortan galt in der DDR nur noch die medizinische und eugenische Indikation. Die soziale Indikation, die zwischen 1947 und 1950 den größten Anteil der beantragten Schwangerschaftsabbrüche ausmachte, fiel weg.
Diese Reform wird in der Forschung als „Rückkehr zur Restriktion“ oder „Rückkehr zur restriktiven Normalität“ beschrieben. Für diese konservative Kehrtwende können mehrere Ursachen ausgemacht werden: Erstens übte die Sowjetunion, wo bereits seit 1936 der Schwangerschaftsabbruch unter Strafe stand, entsprechenden Druck aus, in der jungen DDR eine entsprechende Gesetzgebung einzuführen. Der Erste stellvertretende Vorsitzende des DDR-Ministerrats, Walter Ulbricht, stand der vergleichsweise liberalen Indikationsregelung der Nachkriegsjahre ebenfalls ablehnend gegenüber und unterstützte dieses Vorhaben. Zweitens war die SED vor dem Hintergrund der Kriegsverluste und der anhaltenden Flucht zahlreicher Menschen in die westlichen Besatzungszonen auf eine pronatale Geburtenpolitik angewiesen.
Diese geburtenfördernde Politik stieß auch unter den Mediziner/innen auf eine breite Akzeptanz, denn nicht wenige standen der sozialen Indikation ablehnend gegenüber. Damalige führende Mediziner wie Karl-Heinz Mehlan unterstellten den Frauen eine sogenannte Abort-Sucht, wonach Frauen aus „Bequemlichkeit“ weniger Kinder bekommen würden. Diese „Sucht“ müsse nun wieder unter Kontrolle gebracht werden. Die Kontrolle und Entscheidung für oder gegen einen Schwangerschaftsabbruch sollten weiterhin in staatlicher Hand bleiben. Folglich behielt der Paragraf 11 das Antragsverfahren bei.
Der Schwangerschaftsabbruch war nur mit Zustimmung der zuständigen Kreiskommission möglich. Diese setzte sich aus dem Leiter/der Leiterin des Gesundheitswesens, dem Leiter/der Leiterin der geburtshilflich-gynäkologischen Fachabteilung des zuständigen Kreiskrankenhauses, einem Facharzt/einer Fachärztin, einer Fürsorgerin und einer Vertreterin des DFD zusammen. Das Antragsverfahren blieb kostenfrei und musste innerhalb von 14 Tagen durchgeführt werden. Bei Ablehnung konnte die Antragstellerin innerhalb von acht Tagen beim zuständigen Rat des Bezirkes, Abteilung Gesundheits- und Sozialwesen, Berufung einlegen. Über den Widerspruch hatte innerhalb von acht Tagen die Bezirkskommission endgültig zu entscheiden.
Der restriktive Paragraf 11 war eingebettet in eine Reihe von frauenpolitischen und geburtenförderlichen Maßnahmen, die die Entscheidung für das Kind erleichtern sollten. Damit Frauen Berufstätigkeit und Mutterschaft vereinbaren konnten, sah das Gesetz die Schaffung von 40.000 Kinderkrippen- und 160.000 Kindergartenplätzen sowie die Verbesserung bei der Versorgung von Schwangeren vor. Ferner strebte die SED mit dem Gesetz zum Mutter- und Kinderschutz und der Rechte der Frau eine Entstigmatisierung von alleinstehenden beziehungsweise alleinerziehenden Frauen und deren rechtliche Gleichstellung mit verheirateten Müttern an.
Die Einführung des restriktiven Paragrafen 11 hatte einen kontinuierlichen Rückgang der gestellten Anträge auf Schwangerschaftsabbruch zur Folge.
Wurden im Jahr 1951 noch insgesamt 8.774 Anträge auf Schwangerschaftsabbruch gestellt, so sank die Zahl bis 1958 auf rund 1.730 Anträge. Die Genehmigungsquote lag bei etwa 50 Prozent. Angaben über die illegal vorgenommenen Schwangerschaftsabbrüche lassen sich schwer ermitteln. Zwar waren Krankenhäuser, Entbindungsstationen und andere Heilstätten mit der 1951 erlassenen „Meldeordnung der Deutschen Demokratischen Republik“ (§ 20) dazu verpflichtet, Verdachtsfälle auf illegale Abbrüche zu melden. Zusätzlich verlangte das Ministerium für Gesundheitswesen monatliche Statistiken über illegale Schwangerschaftsabbrüche. Jedoch erwies sich die Anordnung in der Praxis als kaum realisierbar, sodass 1957 die monatliche Meldepflicht wieder eingestellt wurde. Schätzungen zufolge gab es zwischen 1950 und 1955 etwa 70.000 illegale Abbrüche von Schwangerschaften. Im gleichen Zeitraum starben jährlich etwa 60 bis 70 Frauen an den Folgen illegal vorgenommener Eingriffe. Ende der 1950er-Jahre stieg die Todesrate nochmals auf 80 bis 100 Frauen an. Mehrere zehntausend Frauen wurden nach illegalen Abbrüchen unfruchtbar oder erlitten dauerhafte gesundheitliche Folgeschäden.
Die „Instruktion zur Anwendung des § 11“ von 1965
Vor dem Hintergrund dieser Zahlen nahm die Kritik an Paragraf 11 stetig zu. Ärzt/innen und Gynäkolog/innen kritisierten die Bestimmungen als unzureichend und zu streng. Gerade sie waren es, die quasi täglich mit den Folgen des restriktiven Gesetzes konfrontiert waren. Eine Gynäkologin, die in den späten 1950er- und frühen 1960er-Jahren ihre medizinische Ausbildung absolvierte, berichtete:
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„In diesen Jahren wurde eine ganze Reihe von Frauen zur Behandlung eingewiesen, die eine Abtreibung vornehmen lassen wollten oder an denen schon eine durchgeführt war. Wir fanden schreckliche Dinge an diesen Frauen, einige sind an den Folgen gestorben. […] Oft mussten wir Fehlgeburten ausräumen. Wenn die Frauen es schon geschafft hatten, dass es zur Fehlgeburt kam, mussten wir die Reste beseitigen. Das war ganz schlimm für die Frauen, deren Familien, und auch für uns.“
Kritik übten zunehmend auch die Frauen. Sie verwiesen auf den Widerspruch zwischen propagierter und politisch gewollter Gleichberechtigung und der Entmündigung der Frauen bezüglich ihrer körperlichen Selbstbestimmung. Nicht zuletzt drohte die DDR im internationalen Vergleich den Anschluss zu verlieren. So galten seit 1956 in Ungarn, 1957 in der Tschechoslowakischen Republik (ČSR) und seit 1960 in der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien liberale Gesetze zum Schwangerschaftsabbruch.
Folglich sah sich die SED zu einer vorsichtigen Liberalisierung gezwungen und erließ 1965 die „Instruktion zur Anwendung des § 11“. Diese war nur für den „internen Dienstgebrauch“ bestimmt, um jegliche öffentliche Diskussionen über eine mögliche Freigabe des Schwangerschaftsabbruchs zu vermeiden. Die Instruktion gab den lokalen Gutachterkommissionen konkrete Hinweise zur Handhabung des Mutter- und Kinderschutzgesetzes. Neben der eugenischen und medizinischen Indikation sollten Schwangerschaftsabbrüche wieder mit einer sozial-medizinischen Indikation möglich sein. Das heißt, bei der Begutachtung und Entscheidung des Antrags auf Schwangerschaftsabbruch sollten Alter, Anzahl der Kinder und die Lebensumstände der Frau wieder stärker berücksichtigt werden.
Weiterhin wurde die ethische Indikation (Vergewaltigung, Inzest oder eine andere kriminelle Handlung) wieder mit aufgenommen. Aussicht auf Genehmigung hatten die Anträge, wenn Frauen zum Zeitpunkt ihrer Schwangerschaft jünger als 16 oder älter als 40 Jahre waren, mehr als fünf Kinder hatten und wenn der Abstand zwischen vier Geburten weniger als 15 Monate betrug. Schließlich sah die Instruktion vor, Frauen, die selbst einen Abbruch vornahmen, nicht mehr als straffällig einzustufen.
Unmittelbar nach dem Erlass der „Instruktion zur Anwendung des § 11“ stieg die Zahl der Anträge für einen Schwangerschaftsabbruch deutlich an. Für das Jahr 1966 zählte das Gesundheitsministerium insgesamt 22.031 Anträge. Zwei Jahre später waren es bereits 28.119 Anträge.
Die Einführung der Fristenregelung 1972
Trotz der 1965 erfolgten Liberalisierung des Schwangerschaftsabbruchs blieb in der DDR der Reformdruck weiter hoch. Dieser wurde nicht zuletzt durch die in der Bundesrepublik aufkommende Frauenbewegung verstärkt, die mit ihrer Forderung nach Abschaffung des Paragrafen 218 Tausende Frauen mobilisierte. Nun drohte die DDR auch im Vergleich zum Westen ins Hintertreffen zu geraten.
Inge Lange, Leiterin der Arbeitsgruppe Frauen des Zentralkomitees (ZK) der SED nutzte die Gelegenheit und initiierte Ende 1971 eine Reform der bisherigen Regelung des Schwangerschaftsabbruchs.
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„Die Abschaffung [des § 11] war ein dringendes politisches Anliegen meiner Mutter. Dafür hat sie alles getan, was in ihrer Macht stand“,
erinnert sich die Tochter Katja Lange-Müller. Der hohe politische Einsatz von Inge Lange für eine Reform lässt sich mit ihrer eigenen Betroffenheit erklären. Laut den Angaben ihrer Tochter soll Inge Lange bei sich selbst zwei bis drei Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt haben. Zudem gehörte sie zu den wenigen Frauen im männerdominierten SED-Machtzirkel. Daher dürfte die von ihr angestrebte Einführung der Fristenregelung auch ihrer eigenen politischen Profilierung in der neuen Honecker-Regierung gedient haben.
Am 9. März 1972 wurde das neue „Gesetz zur Schwangerschaftsunterbrechung“ mit 487 Stimmen angenommen, 14 Fraktionsmitglieder der Christlich-Demokratischen Union Deutschlands stimmten dagegen, acht Abgeordnete enthielten sich. Damit wurde in der Geschichte der DDR zum ersten und letzten Mal in der Volkskammer ein Gesetz mit Gegenstimmen verabschiedet. Eine politische Debatte und eine öffentliche gesellschaftliche Auseinandersetzung über dieses Gesetz hatten weder vor noch nach der Verabschiedung stattgefunden. Ablehnende Stimmen gab es in der evangelischen und katholischen Kirche. Auch unter den Mediziner/innen war das neue Gesetz zum Schwangerschaftsabbruch umstritten.
Das neue Gesetz erlaubte einen Schwangerschaftsabbruch in den ersten drei Monaten ohne die Angabe von Gründen. Der Abbruch musste in einer geburtshilflich-gynäkologischen Einrichtung durchgeführt werden. Vor dem Eingriff war der Arzt beziehungsweise die Ärztin dazu verpflichtet, die ungewollt schwangere Frau über die Bedeutung und Risiken des Eingriffs zur informieren sowie über vorhandene Verhütungsmethoden aufzuklären. Ein Schwangerschaftsabbruch nach der zwölften Woche war nur dann erlaubt, wenn die Fortdauer der Schwangerschaft das Leben der Mutter gefährdete oder wenn andere schwerwiegende Umstände vorlagen. Die Entscheidung darüber oblag einer Fachärztekommission. Paragraf 3 sah einen Schwangerschaftsabbruch als unzulässig an, wenn durch eine Krankheit der Abbruch zu gesundheitsgefährdenden oder gar lebensbedrohlichen Komplikationen führte oder wenn der letzte Schwangerschaftsabbruch weniger als sechs Monate zurücklag. Die Schwangere hatte jedoch die Möglichkeit, bei der Fachärztekommission zunächst auf Kreis- und dann auf Bezirksebene Einspruch zu erheben. Der Schwangerschaftsabbruch war dem Erkrankungsfall gleichgestellt (§ 4, 1), das heißt, Vorbereitung, Durchführung und Nachbehandlung des Abbruchs waren für sozialversicherte Frauen kostenlos. Auch Verhütungsmittel waren für sie unentgeltlich. Während ihrer Krankschreibung erhielten sie Krankengeld. Von der neuen Fristenregelung profitierten ausschließlich Frauen mit einer Staatsbürgerschaft der DDR.
Die sogenannten Vertragsarbeiterinnen, die im Rahmen bilateraler Abkommen in die DDR kamen, um dort zu arbeiten, waren von dem Gesetz ausgeschlossen. Zwar erteilte Gesundheitsminister Ludwig Mecklinger den Bezirksärzt/innen am 13. April 1973 die Genehmigung, Anfragen von Vertragsarbeiterinnen nach einem Schwangerschaftsabbruch stattzugeben, mit deren Herkunftsländern die DDR diplomatische Beziehungen unterhielt. Dennoch herrschte im Umgang mit ungewollt schwangeren Migrantinnen eine uneinheitliche Regelung und Praxis. So konnten Ungarinnen, die ständig in der DDR lebten und in einem Arbeitsverhältnis standen, auch nach den geltenden gesetzlichen DDR-Bestimmungen einen Abbruch durchführen lassen. Polinnen wiederum mussten in ihrem Heimatland einen Schwangerschaftsabbruch beantragen. Insbesondere schwangere Vietnamesinnen und Mosambikanerinnen erfuhren einen rigiden Umgang. Sie wurden von den Betrieben entlassen und in ihr Herkunftsland ausgewiesen. Erst gegen Ende der 1980er-Jahre wurde die restriktive Praxis durch spezifischere Bestimmungen etwas gelockert.
Unmittelbar nach der Einführung der Fristenregelung stieg die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche drastisch an und erreichte 1973 mit 113.232 Abbrüchen ihren vorläufigen Höhepunkt. Danach sank die Anzahl kontinuierlich ab. Zu Beginn der 1980er-Jahre erfuhr die Abbruchrate mit 96.414 einen neuen Höchststand. Bis 1989 sank die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche auf 73.899. Damit hatte die DDR im Vergleich zu anderen osteuropäischen Staaten die niedrigste Quote an Schwangerschaftsabbrüchen.
Fazit
Die Geschichte des Schwangerschaftsabbruchs in der DDR ist ambivalent. Sie ist gekennzeichnet durch Phasen der Restriktion und solche der liberalen Handhabung. Der SED ging es keineswegs um das Selbstbestimmungsrecht der Frau als integralem Bestandteil einer politisch gewollten wie forcierten und gesellschaftlich akzeptierten Emanzipation. Von Beginn an betrieb sie eine Politik der kontrollierten Selbstbestimmung, die unter den Prämissen einer (rassistischen) Bevölkerungs- und Geburtenpolitik stand. Auch nach der Einführung der Fristenregelung blieb der Schwangerschaftsabbruch ein Tabuthema. Frauen, die eine Schwangerschaft abgebrochen hatten, wurden weiterhin stigmatisiert. „Glückliche und gesunde Mutterschaft“ bildete eine zentrale Säule des sozialistischen Frauenbildes und Emanzipationsverständnisses. Die Erfahrungen und der Umgang der Frauen mit ungewollter Schwangerschaft und den gesetzlichen Rahmenbedingungen bilden eine eklatante Lücke in der DDR- sowie historischen Frauen- und Geschlechterforschung. Die wenigen Erfahrungsberichte zeigen, dass eine liberale Gesetzgebung nicht gleichbedeutend war mit einer progressiven Haltung innerhalb der DDR-Bevölkerung. Diese fortbestehenden Widersprüche zu untersuchen, bleibt weiterhin eine wichtige Forschungsaufgabe.
Zitierweise: Jessica Bock, „Der Schwangerschaftsabbruch in der DDR. Eine kritische Auseinandersetzung mit den Fakten", in: Deutschland Archiv, 20.11.2023, Link: www.bpb.de/542838.
Historikerin, Studium der Mittleren und Neueren Geschichte, Promotion über "Die ostdeutsche Frauenbewegung von 1980 bis 2000 am Beispiel der Stadt Leipzig", derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Projekt "Digitales Deutsches Frauenarchiv".
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