Im Vernehmungsprotokoll vom 24. November 1976 um 11.30 Uhr steht die Aufforderung: »Nehmen Sie zu Ihrer politischen Grundhaltung Stellung!« Meine Antwort:
»Ich bin genau wie BIERMANN der Meinung, dass der sozialistische Staat der Bessere der beiden Deutschen ist. Ich erkenne die DDR und die hiesige Gesellschaftsordnung an. Dabei nehme ich mir jedoch das Recht heraus, meine Meinung offen zu äußern, da ich daran interessiert bin, in Diskussionen zu lernen und Erfahrungen zu sammeln, um meinen Erkenntnisprozess weiterzuführen.«
Ein damals mutiges Bekenntnis in der Höhle des Löwen, denn zu dieser Zeit waren mein Mann, sein Freund und ich wegen einer Unterschriftensammlung gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann verhaftet und keiner wusste, wie es weitergeht. Unser Freund Thomas Wagner blieb wegen der Sammlung von zwanzig Unterschriften in Haft, nach einer Nacht Vernehmung konnten Dietmar Kachold und Gabriele Kachold, wie ich damals hieß, zunächst wieder gehen.
Aber ich wurde weiter abgeholt und vernommen, ebenso wie meine Arbeitskolleginnen und -kollegen, mein Chef und mein Freundeskreis. Gleichzeitig wurden die anderen Freundinnen und Freunde, die die von mir getippte Petition mit unterschrieben hatten, ebenfalls vernommen und sie wurden erpresst, ihre Unterschrift zurückzuziehen. Acht haben sie zurückgenommen, zwölf sind bei der Unterschrift geblieben. Nach vielen Gesprächen wurde mir am 5. Januar 1977 ein Papier vorgelegt, auf dem »Tätige Reue« stand und in dem ich meine gesamte Haltung in diesem Fall umkehren und die Maßnahmen der Regierung befürworten sollte, was ich nicht tat. Diesmal durfte ich das Vernehmergebäude nicht mehr verlassen.
»Die Kachold entschloss sich am 20. 11. 1976 […] durch Sammlung von Unterschriften für eine Protestresolution die Maßnahmen der Regierung der DDR im Zusammenhang mit der Aberkennung der Staatsbürgerschaft des BIERMANN, in der Öffentlichkeit verächtlich zu machen. In mehreren Fällen bezeichnete sie diese Maßnahmen öffentlich in ihrem Arbeitskollektiv sowie gegenüber Personen ihres Umgangskreises als ›moralisch verwerflich‹, ›starkes Stück‹ und ›unrechtmäßig‹. Auch nach der Einleitung des EV bezeichnete sie diese staatlichen Maßnahmen in der Öffentlichkeit wahrheitswidrig als ›Unrecht‹. Strafbar gemäß: § 220 Abs. 1 Ziff. 1 StGB.«
Nach fünf Monaten Untersuchungshaft in Erfurt wurde ich zu einem Jahr Gefängnis verurteilt, das ich im Frauengefängnis Hoheneck absaß.
Ich bin in einem Dorf in der Nähe von Gotha mit drei Geschwistern aufgewachsen. Mein Vater fuhr jeden Tag zum Stahlverformungswerk Ohrdruf und meine Mutter war im Dorf beschäftigt. In die Partei zu gehen, um dort Karriere zu machen, kam für meine Eltern nicht infrage. Uns Kinder schickten sie zur Christenlehre, und ich feierte mit 14 Jahren Jugendweihe und Konfirmation, wie die meisten bei uns im Dorf. Dazu gehörte auch, dass ich bei den Pionieren war und später in die FDJ ging, aber mehr, weil ich gehört hatte, dass man da in ein zusätzliches Sommerferienlager gehen konnte.
Opposition in der DDR
Nach meinem ersten Studienjahr in Deutsch und Kunsterziehung an der Pädagogischen Hochschule Erfurt 1974 waren alle ehrgeizigen Hoffnungen, im DDR-Schulsystem an die Geheimnisse des Lebens zu kommen, verloren gegangen. Wir Studierenden sollten nicht mehr lernen, als wir den Schülerinnen und Schülern beibringen sollten. Vor allem ambitionierte Studierende waren damit unterfordert und beteiligten sich deshalb an der Studentenbühne, wo unser Kommilitone Wilfried Linke Majakowskis »Die Wanze« zur Aufführung brachte.
Als das Studententheater das nächste Jahr verboten wurde, fuhr ich mit Wilfried oft nach Jena, wo ich die Gruppe um Jürgen Fuchs aus Studenten, Künstlern, Poeten und Arbeitern kennenlernte. Jürgen war damals ein politischer Enthusiast, der die Idee hatte, in die staatlichen Institutionen hineinzugehen, um von dort aus die Gesellschaft umzustrukturieren. Wir luden Jürgen Fuchs und andere Literaten zu Lyriklesungen ein, später diskutierten wir über politische Reformen wie Rede-, Presse- und Reisefreiheit und bezogen das auch auf unsere Hochschulen.
Wenn wir Jürgen Fuchs und seine schwangere Frau Lilo in ihrer Unterdachwohnung besuchten, wo sich die Leinen von aufgehängter Wäsche und die Regale von aufgestapelten Büchern bogen, erklärte er uns seine politischen Thesen, übergab uns in der DDR nicht zu bekommende Bücher und redete immer von seinen Freunden Wolf Biermann und Robert Havemann. Diese zwei Namen standen auch auf den Büchern oder Texten, die er uns gab, die ich zu Hause abtippte und unter den Studierenden verteilte. Einmal las ich die Liedtexte von Wolf Biermann in unserem Dorf der Nachbarin und Polizistentochter Monika Schipull und ihrem neuen Freund vor, der sich gerade bei der Stasi hocharbeitete, was ich natürlich nicht wusste. Ich habe heute noch massenhaft Texte auf hellgrünem Durchschlagpapier.
Wir glaubten an das Wort und reihten die uns gelehrten Begriffe Sozialismus und Dialektik und Kampf und Einheit der Widersprüche und Freiheit und Demokratie und, und, und … locker aneinander. In diesem Gewebe wollten wir leben und boten unsere Mitarbeit am Sozialismus dem Staat in Form gemeinschaftlich zu diskutierender Reformen an der PH in Erfurt, an der Uni Jena und auch an der Technischen Universität Ilmenau an. Die staatlichen Stellen reagierten abweisend, dann, als wir weitermachten, gereizt und zum Schluss mit Verboten. Wilfried Linke wurde als staatsfeindlicher Rädelsführer wegen eines Thesentextes exmatrikuliert.
Meine Freundin Martina Anger und ich schrieben gegen diese Exmatrikulation einen Brief an die Ministerin für Volksbildung, Margot Honecker, den 83 Studierende unterschrieben. Der Brief kam mit einer Untersuchungskommission von Frau Honecker zurück, vor der sich alle Studierenden von ihrer Unterschrift distanzieren sollten oder exmatrikuliert wurden, so zwei Studentinnen aus unserer Seminargruppe und ich. Zur gleichen Zeit wurden Jürgen Fuchs und Lutz Rathenow in Jena zwangsexmatrikuliert.
Das war der Sommer 76 und dann kam der Herbst. Jürgen Fuchs war mit Frau und Kind nach Berlin-Grünheide gezogen, in das Gartenhaus seines Freundes Robert Havemann. Dort diskutierten sie mit Biermann über dessen Einladung zu einem Auftritt in der BRD. Ob er gehen oder bleiben sollte. Denn es bestand die Gefahr, dass er dann nicht wiederkommen könnte. Für uns war es damals das Wichtigste, als echte DDR-Kritiker zu gelten, die aus sich heraus ihre Thesen formulierten und auf keinen Fall Ideen aus dem Westen bezogen.
Biermann war für diese Haltung eine außergewöhnliche politische Keimzelle, aus der sich immer mehr Ableger entwickelten. Biermann sprach Klartext, er konnte künstlerisch mit Reim und vor allem Humor gegenwärtiges Unbehagen in eine nachvollziehbare Denkweise umwandeln, deren Wahrheit man einfach mitempfinden konnte. Biermanns Worte und Musik gingen in den Bauch, und wir lernten die Lieder auswendig. Später, als ich im Knast im Dreischichtsystem an der Strumpfhosennähmaschine saß, sang ich oft »Du, lass dich nicht verbittern«.
Als Biermann im Herbst 1976 ausgewiesen wurde, tippte ich den offenen Protestbrief der Berliner Künstlerinnen und Künstler ab und wollte die zwanzig Unterschriften, die mein Mann und Thomas Wagner gesammelt hatten, nach Berlin bringen, weil wir der Post nicht trauten. Am Abend zuvor drangen plötzlich mehrere Männer in unsere Wohnung ein, durchsuchten sie, fanden die Blätter auf dem Küchentisch und nahmen mich und meinen Mann mit. Für mich folgte, wie eingangs beschrieben, die Verurteilung zu einem Jahr Haft im Frauengefängnis Hoheneck.
Als ich aus dem Knast kam, hatte sich mein DDR-Bild verändert. Der Sozialismus galt für mich als nicht mehr reformierbar. Aber ich sagte mir: »Du gehst jetzt in die Kunst, da wird man nicht sofort verhaftet.« Das glaubte ich zumindest.
Kunst und Feminismus
Ich übernahm 1980 eine Privatgalerie in Erfurt, die für alle Besucher geöffnet war. Zusätzlich richtete unsere Freundesgruppe in besetzten Häusern Kunstwerkstätten ein und führte Pleinairs im Eichsfeld in einem alten Forsthaus durch. Hier konnten wir unsere eigene Kunst machen. All das Verschwiegene, all das Leid, das ich im Gefängnis nicht nur bei den politischen, sondern auch bei den kriminellen Gefangenen gesehen hatte, sowie die unendliche Leidenschaft der Frauen, ihre Kraft, ihren Mut und Widerstand, all das wollte ich zeigen.
Nur, die Stasi belegte alle alternativ Denkenden mit Geheimprozessen, die sie »Operative Vorgänge« (OV) nannte. Ein solcher hatte zu meiner Exmatrikulation geführt, der andere endete mit einer einjährigen Haftstrafe wegen Staatsverleumdung. Danach eröffnete sie einen neuen OV mit dem Titel »Toxin«, der mich wegen staatsfeindlicher Hetze weitere zwei bis fünf Jahre ins Gefängnis bringen sollte. Bis zum Ende der DDR hatte ich eine OPK (Operative Personenkontrolle) »Medium«.
Ich wusste schon, dass alle, die nicht arbeiteten, unter den fadenscheinigsten Vorhaltungen der Kriminalität, wie Schulden zu haben oder freie Liebe als Prostitution zu betreiben, wegen asozialen Verhaltens verhaftet werden konnten. Ich hatte im Gefängnis diese Frauen kennengelernt, die wegen § 249 StGB im Gefängnis waren, und hatte einige Tricks gelernt. Ich machte also keine Schulden, besorgte mir eine Preisgenehmigung, um mit selbst gewebten Teppichen und gestrickten Pullovern auf Märkten Geld zu verdienen, suchte Kontakt zu bekannten DDR-Schriftstellerinnen wie Christa Wolf und Elke Erb und veröffentlichte in Untergrundzeitschriften, um nicht in der Sprachlosigkeit zu enden.
Die Devise des Untergrundes war: Flucht in die Öffentlichkeit. Wir gaben alle Gedanken und Veranstaltungen sofort nach außen, zeigten uns, und die Stasi musste reagieren. Nach vielen Jahren, als die Versuche der Stasi, mich in den Knast oder die Psychiatrie zu bringen, gescheitert waren, und in denen sie alle meine selbstständigen künstlerischen Gruppen mit inoffiziellen Mitarbeitern infiltriert und zerschlagen hatte, musste sie den Operativen Vorgang »Toxin« schließen. Wie sie über meine Kunst dachte, liest man in einem Abschnitt ihres Abschlussberichtes:
»Inoffiziell wurde mehrfach eingeschätzt, daß die K. von ihrem Umgangskreis als ›psychopatisch‹ beurteilt wurde. Hervorzuheben sind dabei ihre speziellen Interessen für Fragen des Feminismus, der Mystik sowie sexuelle Anormalitäten (Lesbenprobleme, Transvestiten). Die Beschäftigung mit Vertretern dieser Personenkreise bezeichnet die K. als ›Arbeit mit einem sozialen Medium‹. So entstanden unter anderem Fotoserien von Transvestiten, die von der K. als ›künstlerische und menschliche Auseinandersetzung des Transvestiten mit sich selbst‹ bezeichnet wurden.«
Die Privatgalerie wurde von der Stasi 1981 »liquidiert«, auch unser Aktzeichenzirkel und die Pleinairs wurden liquidiert, woraufhin die Freundinnen und Freunde entweder ins Gefängnis, in den Westen oder nach Berlin (Ost wie West) gingen. Diktatur hieß in den 1980er-Jahren nicht mehr, Andersdenkende vordringlich zu verhaften, sondern zu zersetzen, also persönlich zu verunsichern, zu isolieren, zu vereinsamen oder zum Selbstmord zu treiben.
Ich agierte inzwischen als Fotografin, Malerin, Weberin, Super-8-Filmerin, Autorin in der Berliner Prenzlauer-Berg-Szene und in der 1984 gegründeten Künstlerinnengruppe Erfurt als Performerin und Modeobjektgestalterin. Mit dem Überschreiten der Realität durch das Erschaffen fantastischer Gebilde, mit denen wir in Modeobjektshows in der Kirche oder in Privaträumen auftraten, gewann diese Frauengruppe zunehmend Aufmerksamkeit. Die Kunst stellte die Weichen zur Öffentlichkeit, wir gingen immer weiter aus uns heraus.
Dazu muss gesagt werden, dass ungefragte Gruppenbildung ein Politikum war und die Macht der Gruppe uns selbst bewusst war. In der Gruppe öffneten sich Frauen mehr, als sie es sich allein getraut hätten. Und die Gruppe zog andere Gruppen nach sich. Erstmalig trafen sich dann 1988 zum Kirchentag im Augustinerkloster die Erfurter Frauengruppen zu Modeobjektshows, Frauen-Gottesdiensten und Diskussionen, um den staatlichen Zwang zu arbeiten, familiäre Gewalt, Inzest und Lesbentum anzusprechen. Die Berührungsängste schwanden, und wir trafen uns weiterhin ein Mal im Monat im Rahmen der Kirche. Mütter, Nichtmütter, Ungläubige und Kirchenfrauen redeten über alles, was ihnen wichtig war, innen und äußerlich.