Die Novemberrevolution aus Sicht der Zeitgenossen
In den frühen Morgenstunden des 10. November 1918 überquerte der letzte deutsche Kaiser und König von Preußen, Wilhelm II., die belgisch-niederländische Grenze auf dem Weg ins Exil. Tags zuvor hatte sein letzter Regierungschef, Kanzler Max von Baden, ohne Einwilligung des Monarchen dessen Abdankung verkündet. Nur wenige Stunden später hatte Philipp Scheidemann, Mitvorsitzender der stärksten politischen Partei Deutschlands, der Mehrheitssozialdemokraten, von einem Balkon des Berliner Reichstags die Republik ausgerufen.
Nicht nur der Kaiser selbst, auch die meisten seiner Zeitgenossen waren von der erstaunlichen Geschwindigkeit, mit der sich die deutsche Revolution im November 1918 vollzog, erstaunt gewesen. Bereits am 10. November 1918 veröffentlichte Theodor Wolff, der prominente Chefredakteur des liberalen Berliner Tageblatts, eine oft zitierte Lobeshymne auf die revolutionären Ereignisse der vergangenen Tage:
„Die größte aller Revolutionen hat wie ein plötzlich losbrechender Sturmwind das kaiserliche Regime mit allem, was oben und unten dazu gehörte, gestürzt. Man kann sie die größte aller Revolutionen nennen, weil niemals eine so fest gebaute, mit soliden Mauern umgebene Bastille so in einem Anlauf genommen wurde […]. Gestern früh war, in Berlin wenigstens, das alles noch da. Gestern Nachmittag existierte nichts mehr davon.“ Besonders bemerkenswert erschien Wolff, dass das kaiserliche Regime nahezu gewaltfrei hinweggefegt worden war: „Jedem Volke, das sich zu wahrer Freiheit erhebt, muss dieses Musterbild vor Augen stehen. Symbole des alten Geistes sind bei uns aneinandergereiht wie die Marmorstatuen in der Siegesallee. Ein reifes, verständiges Volk schafft sie ohne etwas zu zerbrechen fort.“
Zwar war Berlin schon vor 1914 ein attraktives Zentrum gleichgeschlechtlicher Subkulturen gewesen, doch die kleinen Freiheiten vor dem Krieg ließen sich mit den Verhältnissen in der Nachkriegszeit kaum vergleichen. Schwulenaktivisten träumten schon von einer Ära sexuellen Befreiung. „Die große Umwälzung der letzten Wochen können wir von unserem Standpunkt aus nur freudig begrüßen“, schrieb Magnus Hirschfeld, Vorsitzender des in Berlin ansässigen „Wissenschaftlich-humanitären Komitees“, der weltweit ersten LGBT Organisation im November 1918:
„Denn die neue Zeit bringt uns die Freiheit in Wort und Schrift und mit der Befreiung aller bisher Unterdrückten, wie wir sie mit Sicherheit annehmen dürfen, auch eine gerechte Beurteilung derjenigen, denen unsere langjährige Arbeit gilt.“
Gewiss teilten nicht alle Zeitgenossen die Begeisterung und die Hoffnungen von Magnus Hirschfeld und Theodor Wolff. Die Reaktionen auf die Novemberereignisse waren durchaus zwiegespalten. Während viele ehemalige Frontoffiziere der Revolution feindselig gegenüberstanden, waren die meisten einfachen Soldaten erleichtert, vier Jahre eines historisch beispiellosen Krieges überlebt zu haben, und sahen in den Ereignissen in der Heimat wohl zuallererst eine Revolution zur Beendigung des Krieges. Viele wurden zu Pazifisten und wollten fortan mit aller Kraft verhindern, dass sich das, was sie zwischen 1914 und 1918 durchlitten hatten, wiederholte. Andere wiederum, vor allem die Matrosen auf den Schiffen der kaiserlichen Hochseeflotte, die den Großteil des Krieges untätig in deutschen Nordseehäfen gelegen hatte, und Soldaten, die im Hinterland stationiert gewesen waren, beteiligten sich an dem Umsturz, der die deutsche Monarchie zu Fall brachte.
An der Heimatfront gingen die Meinungen ebenfalls weit auseinander, wobei die Meinungsunterschiede meist entlang politischer Parteilinien verliefen. So beurteilte der konservative Heidelberger Historiker Karl Hampe den 9. November aus der Sicht eines bürgerlichen Intellektuellen, der Bismarcks Nationalstaat von 1871 als Höhepunkt der deutschen Geschichte begriff, als den
„...elendste[n] Tag meines Lebens! Was ist aus Kaiser und Reich geworden! Nach außen steht uns Verstümmelung, Willenlosigkeit, eine Art Schuldknechtschaft bevor; im Innern […] Bürgerkrieg, Hungersnot, Chaos.“
Der erzkonservative Politiker Elard von Oldenburg-Januschau – der seinem alten Freund, dem Reichspräsidenten Paul von Hindenburg, im Januar 1933 raten sollte, Hitler zum Kanzler zu ernennen – lehnte die Revolution ebenfalls vehement ab und sprach wohl vielen deutschen Adligen aus der Seele, als er bekannte:
„Ich finde keine Worte, um meinen Schmerz über das Geschehen des Novembers 1918 wiederzugeben, um zu schildern, was in mir zerbrach. Ich fühlte eine Welt einstürzen und unter ihren Trümmern alles das begraben, was der Inhalt meines Lebens gewesen war, was meine Eltern mich von Kindesbeinen an zu verehren gelehrt hatten.“
Andere gingen in ihrer Verzweiflung noch weiter. Bestürzt vom Zusammenbruch des Kaiserreichs und angesichts einer unsicheren finanziellen Zukunft nahm sich der jüdische Schiffsmagnat Albert Ballin am 9. November 1918 das Leben. Der Generaldirektor der einst weltgrößten Reederei HAPAG sah sein Lebenswerk in Trümmern.
Es mochte für den einen oder anderen gute Gründe gegeben, die Zukunft in düsteren Farben zu sehen, doch sollten wir nicht vergessen, dass die überwältigende Mehrheit der Deutschen die revolutionäre Umgestaltung Deutschlands von einer konstitutionellen Monarchie mit eingeschränkter parlamentarischer Mitbestimmung zu einer parlamentarischen Demokratie zunächst begrüßte – zumindest im Herbst 1918 und Frühjahr 1919 –, sei es aus innerer Überzeugung oder weil sie sich von der innenpolitischen Demokratisierung des Landes mildere Konditionen für den in Paris zu verhandelnden Friedensvertrag versprach.
Die Unterstützung für die demokratische Erneuerung und die Sehnsucht nach Frieden war zu jener Zeit viel tiefer in der Bevölkerung verankert, als bisher angenommen. Die Frauenrechtsaktivistinnen Anita Augspurg und Lida Gustava Heymann beispielsweise, die Kurt Eisners sozialistische Revolution in Bayern unterstützen, berichteten voller Enthusiasmus über das „neue Leben“ seit dem 9. November 1918:
„Zurückdenkend erscheinen die folgenden Monate wie ein schöner Traum, so unwahrscheinlich herrlich waren sie! Das schwer Lastende der Kriegsjahre war gewichen; beschwingt schritt man dahin, zukunftsfroh! Der Tag verlor seine Zeiten, die Stunde der Mahlzeiten wurde vergessen, die Nacht wurde zum Tage, man brauchte keinen Schlaf; nur eine lebendige Flamme brannte: sich helfend am Aufbau einer besseren Gemeinschaft beteiligen. […] Das waren Wintermonate voller Arbeit, Hoffen und Glück.“
Der Sozialdemokrat Hermann Müller, der später zweimal zum Reichskanzler ernannt werden sollte, erinnerte sich, wie überschwänglich die Nachricht von der Revolution auch in der deutschen Hauptstadt aufgenommen worden war:
„Als ich am 9. November 1918 abends gegen 9 Uhr auf dem Lehrter Bahnhof in Berlin ankam, […] wogten in der Dunkelheit die Massen noch durch die Straßen. Von den Gesichtern war die Freude abzulesen, daß endlich der Umschwung vollzogen war, der das schwergeprüfte deutsche Volk dem heißersehnten Frieden näherbringen sollte.”
Und sogar der sonst eher verhalten-skeptische anarchistische Schriftsteller Gustav Landauer schrieb am 28. November 1918 enthusiastisch an seinen Freund Fritz Mauthner, er habe den soeben beendeten „Entsetzenskrieg“ nur ertragen „in der Erwartung dessen, was nun gekommen ist […] glühendes und inniges Leben, Erfüllung der Augenblicke wie mit Jahrhunderten, geschichtliches Leben“.
Ganz gleich, ob sie die Vorgänge vom November 1918 als Bedrohung oder als historisch einzigartige Chance begriffen, in einem waren sich alle Zeitzeugen einig: Von der extremen Rechten bis zur nichtkommunistischen Linken hegte im Herbst 1918 niemand ernsthafte Zweifel daran, dass in Deutschland ein fundamentaler Umsturz der politischen Ordnung stattgefunden hatte.
Die Umdeutung der Novemberrevolution
Die zeitgenössische Einschätzung der Novemberereignisse von 1918 als klarer Bruch unterscheidet sich erheblich von der Wertung späterer politischer Kommentatoren und Historiker. Diese standen den Ereignissen vom November 1918 stets weitaus ablehnender gegenüber als die große Mehrheit der Zeitgenossen, beschrieben sie nicht selten als „gescheiterte“, „unvollständige“ oder gar „verratene“ Revolution – eine Wertung, die vor allem vom retrospektiven Wissen um das Ende der Weimarer Republik im Januar 1933 geprägt war und ist.
Weil die neuen politischen Entscheidungsträger im Winter 1918/19 bestehende soziale und wirtschaftliche Strukturen, Staatsverwaltungen und Gerichte relativ unberührt ließen, und weil die Weimarer Republik 1933 nur vierzehn Jahre nach ihrer Gründung wieder unterging, galt die Novemberrevolution lange als „unvollständige“ Revolution zweiten Ranges, der es im Vergleich mit den „großen“ europäischen Revolutionen von 1789 und 1917 an Dramatik, Gewalt und ideologischer Zielstrebigkeit fehle. Einige haben sogar bezweifelt, dass die Geschehnisse vom November 1918 die Kriterien einer Revolution erfüllen.
Wie kam es zu dieser drastischen Neubewertung der Vorgänge vom Jahresende 1918? Der Wandel in der öffentlichen Wahrnehmung der Revolution zeichnete sich bereits 1919 ab, als der anfangs noch sehr breite Rückhalt für einen demokratischen Umbruch aus vielerlei Gründen erodierte – nicht zuletzt wegen der unrealistischen Erwartungen vieler Deutscher in Bezug auf das, was sich mit einer Revolution erreichen ließ und wie sich der Demokratisierungsprozess auf den Friedensvertrag auswirken würde, den die siegreichen Alliierten von Januar 1919 an in Paris verhandelten:
Die radikale Linke hatte eine Revolution zwar herbeigesehnt, allerdings nicht diese Revolution. Wie ihre Führer Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg begriffen viele ihrer Anhänger den militärischen Zusammenbruch des deutschen Kaiserreichs im November 1918 als historische Chance zur Verwirklichung eines sozialistischen Staates unter Führung jener Arbeiter- und Soldatenräte, die sich beim Zerfall der alten Ordnung überall im Land spontan gebildet hatten. Ohne Lenins bolschewistische Revolution in Russland zu verklären, verlangten sie einen umfassenderen politischen und gesellschaftlichen Neubeginn, einen weitaus radikaleren Bruch mit den alten Eliten und sozialen Hierarchien des kaiserlichen Deutschlands.
Der Entschluss des mehrheitssozialdemokratischen Reichskanzlers Friedrich Ebert, landesweite Wahlen zu einer konstituierenden Nationalversammlung abzuhalten, die über die künftige Regierungsform des neuen Deutschlands entscheiden sollte, wurde von der extremen Linken als fundamentaler „Verrat“ gewertet und öffentlich gebrandmarkt, weil dieses Vorgehen der Umsetzung ihrer eigenen Vorstellungen einer Neuordnung von Gesellschaft und politischem System zuwiderlief.
Ende 1918 und zu Beginn des Jahres 1919 unterstütze allerdings lediglich eine kleine Minderheit diese Position, die vor allem von Gegnern Mehrheitssozialdemokraten (MSPD) und Anhängern der Unabhängigen Sozialdemokraten (USPD) getragen wurde, die der MSPD vorwarfen, eine „echte“ Revolution verhindert zu haben, als diese machbar schien. Diese Anschuldigungen wirken bis in unsere Gegenwart nach. Noch im Jahr 2008 erklärte der damalige Vorsitzende der Partei Die Linke Oskar Lafontaine öffentlich, Eberts „Verrat“ an der Arbeiterbewegung im Jahr 1918 habe „die Weichen für die unselige Geschichte der Weimarer Republik“ gestellt.
Auch die MSPD-Führung unter Ebert hegte im Herbst 1918 unrealistische, wenn auch gänzlich anders geartete Erwartungen. Sie glaubten, Deutschland könne Gewalt im Innern vermeiden und mit milden Friedensbedingungen rechnen, wenn die Demobilisierung und Demokratisierung ohne den Widerstand der alten Eliten gelang. Dann würde es möglich sein, aus dem verlorenen Krieg als starke Demokratie und als gleichwertiger Partner einer internationalen Nachkriegsordnung hervorzugehen. Diese Hoffnung teilten auch viele bürgerliche Intellektuelle, auch wenn sie einen politischen Umsturz nicht guthießen. Für den angesehenen Theologen und Philosophen Ernst Troeltsch, dessen „Spektator-Briefe“ zu den bekanntesten Zeitdokumenten dieser Jahre zählen, war die größte Ungewissheit am 10. November bereits beseitigt:
„Am nächsten Sonntagmorgen nach banger Nacht ward das Bild aus den Morgenzeitungen klar: der Kaiser in Holland, die Revolution in den meisten Zentren siegreich. […] Kein Mann tot für Kaiser und Reich! Die Beamtenschaft in den Dienst der neuen Regierung getreten. Die Fortdauer aller Verpflichtungen gesichert und kein Sturm auf die Banken!“
Solche Argumente wollte allerdings weder die radikale Linke noch die extreme Rechte akzeptieren. Auch deutsche Nationalisten, insbesondere Adolf Hitler, sollten der Revolution „Verrat“ vorwerfen, aus ihrer Sicht aber nicht an einer sozialistischen Revolution sondern am deutschen Volk. Auf den Tag genau fünf Jahre nach Ausrufung der Republik, am 9. November 1923, unternahm er mit dem „Marsch auf die Feldherrnhalle“ den ersten Anlauf zu einer „nationalen Revolution“, die die „Verbrechen“ der Revolution sühnen sollte. Während der anschließenden Haftzeit in der bayrischen Festung Landsberg verfasste er dann seine Programmschrift Mein Kampf, in der die stilisierte Rückschau auf den 9. November 1918 als politischer „Erweckungsmoment“ die zentrale Rolle spielt.
Für die Nationalsozialisten wurde der 9. November zum Tag der Mobilmachung gegen die Republik, ein Tag, an dem Hitlers Anhänger aufgerufen waren, die „Gefallenen“ des gescheiterten Umsturzes zu ehren, indem sie dafür kämpften, das verhasste, 1918 errichtete System durch ein mythisches „Drittes Reich“ zu ersetzen. Bereits in den 1920er Jahren sprach Hitlers Chefideologie Alfred Rosenberg vom 9. November als „Schicksalstag“, um den „in leidenschaftlicher Weise gerungen“ werde und der mit der brennendsten Frage der Zukunft Deutschlands aufs engste verbunden sei.
Sollte diese Zukunft von den „Novemberverbrechern“ oder den „nationalen Revolutionären“ um Hitler bestimmt werden? Sowohl vor 1933 als auch nach Hitlers Berufung zum Reichskanzler bezog sich der politische Diskurs der Nationalsozialisten immer wieder auf die Novemberrevolution und die Bestrebungen ihrer Bewegung, deren „Errungenschaften“ zu revidieren. In unzähligen Reden erklärte der „Führer“, dass sich ein „November 1918“ nie wiederholen dürfe, und diejenigen, die für die „Novemberverbrechen“ verantwortlich seien – die politische Linke und natürlich „die Juden“ –, dafür bestraft werden müssten.
Bis zu seinem Tod blieb Hitler wie besessen von jenem „Verrat“, den er mit dem November 1918 verband. Noch in seinen letzten Befehlen von 1945 beharrte er darauf, dass es um keinen Preis eine Wiederholung der „Verbrechen“ vom November 1918 geben werde, keine Kapitulation und keine Revolution. Wenn dies die Auslöschung der deutschen Nation und der deutschen Bevölkerung bedeutete, dann zog Hitler den „ehrenhaften“ Untergang einer schmachvollen neuerlichen Kapitulation vor.
Fazit
Lange Zeit schien die deutsche Revolution von 1918 aus der öffentlichen Diskussion verschwunden. Noch vor gut zehn Jahren betitelte der Historiker Alexander Gallus seinen vielbeachteten Sammelband zum Thema „Die vergessene Revolution”. Die als krisenhaft empfundene Gegenwart hat die Revolution (und die aus ihr hervorgegangene Weimarer Republik) wieder ins öffentliche Bewusstsein zurück geholt. Angesichts des Aufstiegs von populistischen Parteien in Europa und der parallelen Erosion der demokratischen Mitte, ist die Furcht vor „Weimarer Verhältnissen” schlagartig wieder so präsent wie schon lange nicht mehr.
Während Teile der extremen Linken ein Rätesystem errichten wollten und der Mehrheitssozialdemokratie Verrat an einer „wahren“ Revolution vorwarfen, unterstellte die nationalistische Rechte Friedrich Ebert, die Revolution habe die „im Felde unbesiegte” deutsche Armee hinterrücks erdolcht.
Dass sich das Bild der „verratenen” Revolution bis heute in der Öffentlichkeit gehalten hat ist bemerkenswert, denn letztlich wurde 1918 allenfalls eine räterepublikanische Version der Revolution „verraten“, die aber lediglich von einer kleinen Minderheit angestrebt wurde, wie sich in den Wahlen von Anfang 1919 klar zeigen sollte. Kurt Eisners USPD erzielte in den ersten freien bayerischen Landtagswahlen Anfang 1919 ein katastrophales Wahlergebnis von 2.5 Prozent, die Befürworter einer parlamentarischen Demokratie dagegen mehr als Zweidrittel der Stimmen.
Auch in den Wahlen zur Verfassunggebenden Nationalversammlung im Januar 1919 siegten die Parteien der „Weimarer Koalition” eindeutig mit mehr als 76 Prozent der Stimmen. Die USPD gewann in denselben Wahlen 7,6 Prozent, die KPD trat erst gar nicht an. Und auch die radikale Rechte wurde zu diesem Zeitpunkt allenfalls von einer Handvoll von Extremisten unterstützt. Als Hitler sich mit seiner überschaubaren Schar an Anhängern im November 1923 anschickte, gewaltsam eine „nationale“ Revolution durchzusetzen, reichte ein kleines Aufgebot der bayerischen Polizei, um dem Spuk ein Ende zu bereiten.
Bis 1929 blieb die NSDAP eine Splitterpartei ohne Relevanz im deutschen Parteienspektrum. Erst die Weltwirtschaftskrise, ausgelöst durch den „Schwarzen Freitag" an der New Yorker Wall Street, sollte zu Verwerfungen führen, denen die Weimarer Republik nicht mehr standhalten konnte. Millionen Deutsche verloren binnen kurzer Zeit ihre Arbeit und ihre Hoffnung, dass die Demokratie einen Weg aus der Krise finden würde. Erst jetzt, im Schatten der Großen Depression stieg die bis dahin als Splitterpartei an den Marginalien der deutschen Politik operierende NSDAP zur Massenpartei auf.
Dass die Weimarer Republik bis zum Ausbruch der Weltwirtschaftskrise 1929 etlichen Versuchen der radikalen Linken und Rechten, gewaltsam die Macht an sich zu reißen, erfolgreich getrotzt hat, wurde in der öffentlichen Diskussion nach 1945 bewusst ignoriert - größtenteils, weil es dem fest verwurzelten Narrativ der labilen Republik und des sozialdemokratischen Verrats an der „wahren“ Revolution im Wege stand. Dass die Novemberrevolution lange Zeit als „halbe” Revolution der versäumten Möglichkeiten verunglimpft wurde, war auch Ausdruck eines eher undemokratischen Wunschdenkens, in dem Bedauern mitschwingt, dass sich USPD und KPD nicht gegen den Willen der großen Mehrheit mit ihren Revolutionszielen durchgesetzt haben.
Eine neue Perspektive ist auch nötig, wenn man den „Rang“ der deutschen Revolution in der neueren europäischen Geschichte ermitteln will. Sowohl die große europäische Revolution des Westens – die Französische Revolution von 1789 – als auch die große europäische Revolution des Ostens – die russische Revolution von 1917 – mündeten schon nach kurzer Zeit in Bürgerkriege und Diktaturen, was ihre historische Bedeutung aber keineswegs schmälert. Verglichen mit anderen europäischen Umstürzen zu Beginn des 20. Jahrhunderts – in Finnland 1918 und in Ungarn 1919 – waren die revolutionären Ereignisse in Deutschland hingegen ungewöhnlich gewaltlos und gemessen an ihren Zielen – der Wiederherstellung des Friedens und der Ersetzung einer Monarchie durch ein demokratisches System – auch bemerkenswert erfolgreich. Während in Finnland und Ungarn die Konterrevolution triumphierte und es zu verheerenden Gewaltausbrüchen kam, vollbrachte die Regierung Ebert das Kunststück, die revolutionäre Energie zu kanalisieren, im Angesicht einer nie dagewesenen Niederlage die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten und Millionen von schwer bewaffneten Soldaten friedlich zu demobilisieren.
Statt Weimar im aktuellen Diskurs immer nur als Negativbeispiel zu bemühen, sollten wir deshalb auch den signifikanten Errungenschaften der Revolution gedenken. Gerade weil Weimar anders als die Bonner oder die Berliner Republik existenzielle Krisen zu meistern hatte und diese bis 1929 auch weitgehend meisterte, sollten wir der ersten deutschen Republik Gerechtigkeit wiederfahren lassen. Denn so paradox dies klingen mag: Weimar war beides zugleich, eine wehrhafte Demokratie, die ihren Gegnern bis 1929 erfolgreich trotzte, und eine letztlich scheiternde Demokratie, die wie fast alle 1918 gegründeten Republiken Europas die Stürme der Weltwirtschaftskrise nicht überstand.
Betrachtet man die enormen Herausforderungen, vor denen die Weimarer Republik stand, scheint Theodor Wolffs Begeisterung über die „größte aller Revolutionen“ maßlos optimistisch, wenn nicht gar naiv. Dass diese Stimmungslage allerdings weit verbreitet war und „1933“ keineswegs das logische Ende von 1918 war, wird beim teleologischen Blick auf die Novemberrevolution gerne ausgeblendet.