Wie umgehen mit dem Erinnerungstag 9. November? Ein Gedenktag? Ein Feiertag? Genau vor einem Jahr diskutierten darüber mehrere Expertinnen und Experten im Bundespräsidialamt. Hier der Beitrag des DDR-Historikers Ilko-Sascha Kowalczuk, der den 9. November 1989 für überwertet hält. Entscheidender sei auf dem Weg zum Durchbruch der Mauer der 9. Oktober 1989 in Leipzig gewesen, der eigentliche Höhepunkt der Friedlichen Revolution in der DDR.
Wussten Sie, dass am 4. Oktober 1923 das Politbüro des Zentralkomitees (ZK) der "Kommunistischen Partei Russlands der Bolschewiki", die "KPR (B)", den 9. November 1923 als Revolutionsbeginn in Deutschland festlegte? Doch Ende Oktober 1923 wurde der kommunistische Aufstand wieder abgesagt und es kam nur zu einigen Gemetzeln in Hamburg.
Stellen Sie sich vor, vor welchem Dilemma wir stünden, hätte auch noch dieser Putschversuch an einem 9. November stattgefunden, neben jenen geschichtsträchtigen Novembertagen Interner Link: 1848, 1918, Interner Link: 1938.
Der 9. November 1989 ist jener Tag, der heute bei den meisten Menschen meiner Generation positive Emotionen befördert. Diese Erlebnisgeneration ist noch da. Es fiel, so heißt es seit über 30 Jahren, die Mauer. Und seither gilt den meisten Menschen der 9. November 1989 als der Tag der Revolution. Tatsächlich ist die Mauer nicht gefallen. Die Mauer ist nicht geöffnet, sie ist infolge einer Revolution durchbrochen worden.
Diese Revolution nahm ihren Ausgangspunkt bereits 1980 mit Solidarnosc in Polen, erfasste Ungarn, wo schließlich ab Mai 1989 der "Eiserne Vorhang" fiel, und dann erst die DDR. Das war möglich, weil das Zentrum des kommunistischen Imperiums in eine tiefe Krise geraten war. 1985 kam in der Sowjetunion Michail Gorbatschow an die Macht. Nicht um das System abzuschaffen, sondern um es zu retten. Er war kein Demokrat, kein Freiheitskämpfer, kein demokratischer Sozialist, sondern ein Nationalkommunist, der in seinem Land nicht vor dem Einsatz von Waffen und Panzern zurückschreckte, um das sowjetische Imperium in den Grenzen von 1945 zu retten.
Eine Revolution der Minderheit
Die Revolution in der DDR war das Werk einer Minderheit. Angestoßen von einer kleinen Opposition, getragen von einer kritischen Massen von vielleicht 100.000 oder 200.000 aktiven Menschen und maßgeblich von einer ebenso großen Masse flankiert, die nur noch aus dem Lande fliehen wollte, die das System an den Rand des Zusammenbruchs führte. Das stieß auf eine Krise, die sich seit Jahren aufgebaut hatte und überall in Staat, Gesellschaft und Wirtschaft mit Händen greifbar war. Die Institutionen von Staat und Partei erodierten, eine notwendige Begleiterscheinung erfolgreicher Revolutionen.
In der Machtzentrale der Sozialistischen Einheitspartei Deutschland (SED) war die Krise wahrgenommen worden, aber erst viel zu spät wurde darauf reagiert, um die Parteimacht irgendwie noch zu erhalten. Sie werden sich vielleicht wundern, aber als Erich Mielke am 13. November 1989 in der Volkskammer ausrief „Ich liebe euch doch alle“ und seither Millionen Menschen Jahr für Jahr darüber lachen, log Mielke nicht. Sein berühmter Ausspruch richtete sich nicht an alle sondern nur an die Abgeordneten der Volkskammer. Zwei von den Blockflöten dort hatten Mielke in Interventionen aufgefordert, sie nicht mehr mit „Genossen“ anzusprechen. Mielke war verwirrt und meinte, aber das sei doch nur eine formale Frage. Er hatte recht. Dort saßen nur Genossen und Genossinnen, egal von welcher Partei oder Organisation sie kamen. Und weil ihn das aus dem Konzept brachte, stammelte er bei der zweiten Intervention, aber er liebe doch alle und meinte eben nur alle Abgeordneten gleichermaßen.
Geschichte ist manchmal kompliziert. Mielke wies darauf hin, dass sein Ministerium der Parteiführung seit Jahr und Tag genau auf den Tisch gelegt habe, wie es im Lande wirklich aussah. Das stimmte nicht nur, sondern Mielkes Truppen legten mitunter auch Ideen vor, was man ändern könnte. Das wollte in der engeren SED-Führung allerdings niemand wahrhaben.
Büromikado
Ein zentraler Punkt war die Reise- und Ausreisefrage. Im SED-Apparat konstituierte sich im August 1989 eine Arbeitsgruppe aus MfS, Innenministerium (MdI) und Justizministerium (MdJ) und erarbeitete Strategien. Die fixierten Alternativen lauteten: sofortige Schließung aller Grenzen oder Verabschiedung eines großzügigen Reisegesetzes oder Zehntausende auf einmal ausreisen lassen. Im SED-Politbüro herrschte Büromikado, es zeigte sich niemand bereit, eine Entscheidung zu fällen.
Derweil spitzte sich alles weiter zu. Am 30. September 1989 hatte Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher seinen großen Auftritt auf dem Balkon der bundesdeutschen Botschaft in Prag und verkündete eine Lösung des Flüchtlingsproblems. Interessant war der Umstand, dass nun Züge mit 4.700 DDR-Menschen aus Prag nicht direkt, sondern über DDR-Gebiet in die Bundesrepublik rollten. Warum eigentlich? Nicht wegen symbolischer Hoheitsansprüche, wie meist behauptet wird. Denn nur so war es möglich, dass die SED durch Passkontrollen überhaupt erfuhr, wer aus der DDR ausreiste. Die Erkenntnis war für den Staat erschreckend: junge, gut ausgebildete, gutverdienende, bis dahin politisch nicht gegen das Regime aufgefallene Menschen rannten in Massen weg. Der Schock saß tief. Und kaum waren die Züge unterwegs, füllte sich die Botschaft erneut. Und nun?
Am Abend des 3. Oktober 1989 hielten sich in der Prager Botschaft bereits wieder etwa 6.000 und in der unmittelbaren Umgebung 2.000 Menschen auf, außerdem befanden sich erneut 3 bis 4.000 Menschen auf dem Weg nach Prag. Egon Krenz als zuständiger ZK-Sekretär für Sicherheitsfragen unterbreitete an diesem Tag SED-Chef Erich Honecker drei Handlungsvorschläge:
1. die Bundesregierung erkennt die DDR-Staatsbürgerschaft an und anschließend würden die Reisemöglichkeiten erweitert;
2. zeitweilige Schließung aller Grenzen;
3. sofortige Mitteilung, jeder könne reisen, wohin er wolle und jeder könne die DDR verlassen und wieder einreisen.
Die dritte Variante galt als nicht „zweckmäßig", der augenblickliche Verlust läge bei Hunderttausenden von Menschen: „Die 1. Variante hätte vor allem propagandistischen Effekt, würde aber kaum zu einer Lösung führen." Und schließlich steht in dem Papier: „Die 2. Variante könnte die Lage im Inneren bis zur Nichtmehrbeherrschbarkeit anheizen. Außerdem müssten alle Grenzen abgeriegelt werden (Einsatz der Landstreitkräfte und der Kampfgruppen wären nötig …)." Krenz schrieb: „Ich würde die zweite Variante empfehlen."
Wollte Krenz damit einen Bürgerkrieg heraufbeschwören? Honecker zeichnete noch am selben Tag ab, der Regierung der CSSR wurde mitgeteilt, ab 17.00 Uhr schließe die DDR ihre Grenzen zum Nachbarland. Am 7. Oktober, als die SED pompös den Geburtstag der Republik feiern wollte, entglitt ihr die Lage. Zwischen Chemnitz, Plauen und Berlin wurden erste Proteste laut. Am 9. Oktober, dem eigentlichen Tag dieser Revolution, kapitulierte das Regime in Leipzig. Und die Reisefrage wurde drängender denn je.
Egon Krenz heizte die Stimmung am 1. November kräftig an. Auf einer Pressekonferenz in Moskau erklärte er, die Gründe für die Mauer bestünden immer noch. Als die SED-Führung die Grenzen zur CSSR zum 1. November wieder öffnete, setzte erneut ein Flüchtlingsstrom ein. Zwei Tage später beschloss das SED-Politbüro auf Druck der tschechischen KPTsch-Führung, die Flüchtlinge in Prag nun direkt in die Bundesrepublik ausreisen zu lassen. Allein am Wochenende 4./5. November flüchteten nun über 23.000. In den drei nachfolgenden Tagen kamen nochmals etwa ebenso viele hinzu. Die Mauer war somit bereits gefallen – jedenfalls in Richtung Westen via CSSR und Ungarn.
Ventillösung Reisegesetz
Am 6. November veröffentlichte die SED-Führung den Entwurf eines Reisegesetzes. Selbst aus SED-Kreisen wurde heftige Kritik am Entwurf laut, weil er noch immer "Versagungsgründe" enthielt und die jährliche Reisedauer beschränkte. Am gleichen Tag begann vormittags eine dreitägige Sitzung des Zentralkomitees (ZK) der SED. Krenz murmelte während der Tagung, Demokratie und Dialoge seien sehr anstrengend. Am Nachmittag des 9. November präsentierte er der ZK-Versammlung eine Verordnung nebst einer Pressemitteilung. Von den drei im August entwickelten Alternativen standen zwei noch immer zur Verfügung: sofortige Schließung aller Grenzen oder geregelte Öffnung: „Wie wir’s machen, machen wir’s verkehrt."
Krenz entschied sich diesmal nicht für die Kamikaze-Lösung (Schließung der Grenzen). Im Kern lautete der Beschluss, bis zur Verabschiedung eines Reisegesetzes könnten ständige Ausreisen über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur Bundesrepublik und nach West-Berlin ab dem nächsten Tag erfolgen. Krenz sagte noch: „Ja, ich würde sagen, dass der Regierungssprecher das gleich macht, ja." Dann murmelte er noch bei abgeschaltetem Saalmikrophon, warum auch immer: „Das ist doch immer gut, so was zu machen." Krenz selbst gab die Anweisung, dass noch am Abend die neue Regelung öffentlich verkündet werden sollte. Er überreichte einen entsprechenden Zettel seinem Politbüro-Kollegen Günter Schabowski mit den Worten: „Das kannst du bekanntgeben. Das ist der Knüller."
Die Bezirksbehörden der Polizei, die für die Ausgabe der Reisepässe zuständig waren, erhielten gegen 18.00 Uhr eine Mitteilung über die neue Verfügung übermittelt, um sich auf den erwarteten Ansturm am nächsten Morgen vorbereiten zu können.
Um 18.00 Uhr begann die weltberühmt gewordene Pressekonferenz. An deren Ende kam Günter Schabowskis großer Auftritt. Die ganze Welt sollte glauben, er sei der Grenzöffner, gewissermaßen nebenbei und aus Versehen. Er tat so, als wüsste er nicht, was er da soeben vorgelesen hatte. Dabei war Schabowski bei der ZK-Tagung anwesend. Er kannte die Planspiele vom August. Was für eine Inszenierung. Die Folgen seiner Bemerkung, die Regelung gelte ab sofort, waren von ihm allerdings nicht einkalkuliert worden. Es handelte sich um die bereits im August erdachte Lösung, den Kessel zu öffnen, Druck abzulassen. Die von Schabowski gemimte Ahnungslosigkeit über die Bedeutung des Beschlusses war großes Schauspiel eines politischen Dilettanten. Er hatte weder die Wirkung gewollt noch erahnt.
Der Rest ist Geschichte
Der erzwungene Mauerdurchbruch am 9. November 1989 war die Folge einer Revolution, vollendet an Grenzübergängen wie der Bornholmer Straße wo im Lauf des Abends immer mehr DDR-Bürgerinnen und Bürger unerschrocken in den Grenzbereich drängten. Der eigentliche Revolutionstag war aber der 9. Oktober 1989, als die hochgerüstete Diktatur in Leipzig angesichts von Zehntausenden kapitulierte.
Schlüsselmoment der Friedlichen Revolution: Die Leipziger Montagsdemonstration vom 9. Oktober 1989
Heimlich gedrehtes Videomaterial von Aram Radomski und Siegbert Schefke
Der 9. November symbolisiert den Übergang von einer Freiheitsrevolution zu einer Bürgerrevolution, die nun andere Formen, Träger und Inhalte annahm.
Wenn wir die Freiheitsrevolution feiern wollen, so kommt nur der 9. Oktober in Frage. Wenn wir die Demokratie feiern wollen, so stehen uns der 18. März und der 23. Mai zur Verfügung. Wenn wir den Kampf gegen die kommunistische Diktatur und ihrer Opfer gedenken wollen, so haben wir den 17. Juni, der seit 1963 Gedenktag, aber seit 1990 kein Feiertag mehr ist und den es endlich wieder auszugestalten gilt.
Wenn wir der Opfer von Diktaturen im europäischen Maßstab gedenken wollen so haben wir den 23. August. Für die Feier der deutschen Einheit haben wir den Technokratietag 3. Oktober. Was aber ist der 9. November 1989? Ich weiß natürlich, dass den meisten Zeitzeugen dieser Tag als unvergesslich ist. Ich denke, viele Menschen glauben sogar, der 9. November ist der Tag der Revolution.
Aber kann uns das von der Pflicht entbinden, darüber nachzudenken, wie Staat und Gesellschaft mit diesem Tag umgehen? Es gibt einen organischen Zusammenhang von 1918, 1923 und 1938. Den gibt es zu 1989 nicht. Feiern wir die Revolution am 9. Oktober!
Der 9. November sollte mit Blick auf Interner Link: 1938 allein den jüdischen Opfern des Nationalsozialismus, der Shoa gehören. Gedenk- und Feiertage richten sich an die Zukunft, an künftige Generationen. Der wird das Datum egal sein, an dem wir die Freiheitrevolution feiern. Zum Feiern dafür haben wir wirklich andere Tage, allen voran den 9. Oktober.
Zitierweise: Ilko-Sascha Kowalczuk, "9. November 1989. Der Durchbruch", in: Deutschland Archiv, 06.11.2023, Link: www.bpb.de/542403.
Weitere Beiträge in dieser Serie über die Vielschichtigkeit des 9. November in der deutschen Geschichte:
Dieser Beitrag ist Teil einer Externer Link: Vortragsserie aus dem Bundespräsidialamt vom 9. November 2022 über die vielschichtige Bedeutung dieses Gedenktags. Damals musste die Veranstaltung abgebrochen werden, weil vor Ort im Schloss Bellevue der Bürgerrechtler Werner Schulz im Alter von 72 Jahren verstarb. Ihm ist diese Artikelserie gewidmet, fünf Erinnerungen an ihn, veröffentlicht im Deutschland Archiv, Interner Link: lesen Sie hier.
Ilko-Sascha Kowalczuk, geb. 1967, M. A.; Stipendiat der Hans-Böckler-Stiftung, sachverständiges Mitglied der vom Deutschen Bundestag eingesetzten Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit“. Veröffentlichungen u. a.: (Mithrsg.) Berlin -Mainzer Straße. „Wohnen ist wichtiger als das Gesetz“, Berlin 1992; (Hrsg.) Paradigmen deutscher Geschichtswissenschaft, Berlin 1994; (Hrsg. zus. mit Armin Mitter/Stefan Wolle) Der Tag X -17. Juni 1953. Die „Innere Staatsgründung“ der DDR als Ergebnis der Krise 1952/54, Berlin 19962; (Hrsg. zus. mit Ulrike Poppe/Rainer Eckert) Zwischen Selbstbehauptung und Anpassung. Formen des Widerstandes und der Opposition in der DDR, Berlin 1995; Legitimation eines neuen Staates. Parteiarbeiter an der historischen Front (i. E.).
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